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Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit

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ONLINE-EXTRA Nr. 251

Februar 2017

Nun ist es also da - das große Luther-Jahr..., das ja eigentlich und präziser gesagt ein großes "Reformationsjahr" ist, nämlich im Sinne einer Erinnerung an und Feier von 500 Jahren Reformation. Gleichwohl überstrahlt und durchdringt die Person Luthers alles Erinnern, Feiern, Nachdenken und Diskutieren im Kontext des diesjährigen Reformationsjubiläums, was sich nicht zuletzt in einer Vielzahl neuer oder aktualisierter Luther-Biografien niederschlägt. Die Auseinandersetzung mit Luther und seinem theologischen Wirken und Erbe führt konsequenter- und notwendigerweise auch zu einer Auseinandersetzung mit den Schattenseiten seines Denkens und der Reformation insgesamt, was sich vor allem auf Luthers verhängnisvolles Bild von Juden und Judentum konzentriert.

Dies einmal kurz ausgeblendet, drängt sich ansonsten der Eindruck auf, dass Luther und die Reformation vor allem als Vorläufer, Geburtshelfer, Inspiratoren der Moderne, oder etwas eingeschränkter: einer modernen evangelischen Theologie gefeiert werden sollen. Etwas milder formuliert: Es geht offenbar vor allem darum, das Erbe Luthers und der Reformation in ihren aktuellen und auch heute noch relevanten Aspekten für die theologischen Herausforderungen der Gegenwart und insbesondere für die Bildung und Stärkung einer "evangelischen" Idenität heranzuziehen. So legitim dies Bemühen ohne Frage ist, ist es doch zugleich der Frage wert, im besten Sinne fragwürdig.

Genau dies hat der evangelische Theologe und ehemals langjährige Redaktionsleiter im Bereich Kultur und Wissenschaft des ZDF Dr. Wolf-Rüdiger Schmidt in einem bemerkenswerten Essay unternommen, der in der Winterausgabe der renommierten Zeitschrift UNIVERSITAS vor kurzem veröffentlicht wurde. Sein Fazit fällt dabei signifikant nüchterner aus als manche Jubelhymne hierzulande, was programmatisch bereits im Titel seines Essays angedeutet ist: "Luther - Ein Fremder".

COMPASS dankt dem Autor und der Zeitschrift UNIVERSITAS für die Genehmigung zur Online-Publizierung seines Beitrags an dieser Stelle!

© 2017 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 251


Luther - Ein Fremder

Warum der Reformator für die Fortentwicklung einer aufgeklärten Theologie und Kirche kein guter Ratgeber ist.


WOLF-RÜDIGER SCHMIDT



Und das war nur der Anfang. Martin Luther überall während der Tage um den 31. Oktober 2016: In den Zeitungen, den überregionalen und den lokalen, in den Nachrichten und Magazinen, Luthergottesdienste auch im Fernsehen und Hörfunk, Lutherbiografien, Lutherexperten weltlich und geistlich. Man hat gelernt. Öffentlichkeitsarbeit muss sein und zahlt sich aus. Das Thema Luther ist präsent, ganz anders als 1983 zu des Reformators 500. Geburtstag. Die Erinnerung an die legendäre Veröffentlichung der 95 Thesen am 31. Oktober 1517 durch Martin Luther soll über ein Jahr hinweg ein auffälliges Event werden, ein bewusst gestaltetes gesellschaftliches Ereignis, das niemand übersehen kann, an dem man vielleicht sogar teilnimmt und etwas erlebt, das es schafft, von dem knappsten Gut einer medialen Gesellschaft mehr als einen Moment zu erhalten, nämlich Aufmerksamkeit, dauerhaftes Interesse.

Ein Mann, der aus spätmittelalterlichen Ängsten kam und die kirchlichen Fehlentwicklungen nicht mehr ertrug, der aber keinesfalls zunächst eine neue Kirche gründen wollte: Martin Luther. Der es wagte, gegen Kaiser und Papst aufzustehen und die gefährliche Botschaft „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ unters Volk zu bringen; der eine geniale Bibelübersetzung vorlegte, die in ihrer sprachlichen Kraft und Schönheit mit Recht als Ausgang des modernen Hochdeutsch, der deutschen Literatursprache angesehen wird. Hat der Reformator aus dem 16. Jahrhundert wie über die Luthergedenktage früherer Jahrhunderte hinweg auch im 21. Jahrhundert das Potential, eine Projektionsfläche zu bieten, auf der sich heutige gesellschaftliche, kirchliche und theologische Probleme spiegeln lassen? Luther 2017 - gar ein großer Ratgeber in ratlosen Zeiten?

Dass der kleine Mönch aus Eisleben am östlichen Harzrand auch eine andere, eine letztlich schon lange bekannte dunkle Seite hat, dass er eine auffällig ambivalente Persönlichkeit der deutschen wie der europäischen Geschichte ist, wurde im Vorfeld des geplanten Reformationsjahres 2017 von respektablen Lutherkennern frühzeitig erinnert und angesprochen. So hat der Göttinger Historiker Thomas Kaufmann in seinem viel beachteten Buch „Luthers Juden“ (2015) auf das gefährliche und bis heute nachhaltig wirkende Erbe Luthers hingewiesen, auf „eine Art mentaler Ressource … , die jederzeit aktivierbar sei“, auf seinen sich bis zum Lebensende steigernden, schließlich pathologischen Judenhass, ohne Juden wirklich konkret kennengelernt zu haben. Luthers Verhältnis zu den Juden sei eine „theologische Bankrotterklärung“, so Kaufmann und er belegt es ausführlich.


Luthers judenfeindliche Denkmuster

Natürlich gab es bald auch Stimmen, die Luthers Judenhass historisch zu relativieren versuchten, indem sie den „Rausch der Xenophobie“ als zeitbedingt erklärten. Ja, Luther ist ein Kind seiner Zeit. Er hat die abendländische Abwertung einer nichtchristlichen Religion, nämlich des Judentums, das mit dem Erstarken der Kirche von dieser als von Gott verlassen und verstoßen entwürdigt wurde, nicht erfunden. Aber Zeitbedingtheit hin oder her - tatsächlich gab es im reformatorischen Umfeld des 16. Jahrhunderts – selten zu hören – auch andere Persönlichkeiten, die dem Judenhass Luthers nicht folgten, so der Pforzheimer Humanist und Hebraist Johannes Reuchlin zum Beispiel, auch Martin Bucer, der Straßburger Reformator, der Zürcher Heinrich Bullinger, die sich ebenso wie der Reformator aus Nürnberg, Andreas Osiander in dieser Frage nachdrücklich von Luther distanzierten.

Sollte es wirklich so sein, dass Luthers Judenhass konstitutiv für sein „Allein aus Glaubenn ohne alle Werke“ ist? Sollte „der Jude“ mit seiner Gesetzestreue die unverzichtbare Negativfolie für seine zentrale evangelische Rechtfertigungslehre sein, der „sündige Jude“ also als das lebendige Beispiel für die von Gott für ihre Werkgerechtigkeit Bestraften und Verstockten? Und sollte es letztlich für die Gesamtheit des Protestantismus, auch für jeden zukünftigen Versuch eines neuen jüdisch-christlichen Dialogs unentschuldbar sein und bleiben, wie nach dem Holocaust von Überlebenden vertreten, dass z.B. der damalige Bischof von Thüringen im Namen Luthers die Plünderung und Zerstörung von über tausend Synagogen in der Reichspogromnacht 1938 begeistert so würdigte: „Mit dem 9. November ist das Vermächtnis des Reformators erfüllt“.

Bereits 2015 begann dazu eine heftige Diskussion, die sich 2016 besonders in der im interessierten Protestantismus gerne gelesenen Monatszeitschrift „zeitzeichen“ niederschlug. Eine bemerkenswerte öffentliche Erklärung der Synode der Evangelischen Kirche (EKD) vom November 2015 unter dem Titel „Martin Luther und die Juden – notwendige Erinnerungen zum Reformationsjubiläum“ lieferte zusätzlichen Stoff. In diesem offiziellen Dokument wird ohne Wenn-und-aber trotz aller Verbundenheit mit Luther und dem Luthertum die „Schuldgeschichte“ benannt, die Luther eröffnet habe. Und es wird, für kirchliche Stellungnahmen ungewöhnlich klar, Stellung bezogen gegenüber der kontroversen Frage, ob der Judenhass bei Luther nur ein Phänomen der Zeitgeschichte sei ohne großen Einfluss auf die zentrale Rechtfertigungslehre, oder ob die Verbindung tiefer in die Theologie des Reformators reiche: „Luther verknüpft zentrale Einsichten seiner Theologie mit judenfeindlichen Denkmustern“. Gezeigt wird, dass und wie zwischen der vermeintlichen Judenfreundlichkeit des jungen Luther in der Schrift von 1523 („Dass unser Herr Jesus ein geborener Jude sei“) und dem wütenden alten Reformator eine Kontinuität vorliegt: Die Juden haben ihre Bestimmung verfehlt. Die Abtrünnigen sollten zunächst nur zum christlichen Glaubenn bekehrt werden, dann aber forderte ein tobender Luther in seinem Pamphlet „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) die Obrigkeit auf, die jüdischen Häuser zu zerstören, Zwangsarbeit einzuführen, die Synagogen und heiligen Schriften, den Talmud zu verbrennen usw., was unleugbar als Rechtfertigung diente für den im 19. Jahrhundert aufkommenden rassistischen Judenhass mit den bekannten Folgen im 20. Jahrhundert.


Aus Treue zur biblischen Botschaft?

Man könnte fragen, ob die Kirche, ihre Prediger und Lehrer das Gewicht dieser synodalen Erklärung schon ausreichend gewürdigt haben: Martin Luther, der Große, der seiner Kirche den Namen gab, ging im Zentrum seiner Theologie einen schuldhaften Irrweg mit allen Konsequenzen . Dieser Zuspitzung wollten und wollen nicht alle folgen. Die Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg hat ihnen eine durchaus kluge Stimme gegeben. Sie empfiehlt zunächst, das Thema doch lieber den Spezialisten zu überlassen – das kann übersetzt nur heißen: Es aus der öffentlichen Diskussion zu nehmen. Dennoch bleibe die Frage: „Sind Luthers destruktive Ausführungen gegen die Juden eine notwendige Frucht seiner Theologie, ist Antijudaismus ursächlich mit zentralen Einsichten der Reformation verbunden …“(zeitzeichen 7,2016, 14 ff). Nein, so denkt die Theologin weiter, eher gehöre beides auf verschiedene Ebenen. Die theologische Ebene behandelt die bleibend unterschiedlichen Antworten des Christentums und des Judentums auf die Frage nach der Einschätzung Jesu Christi - entweder als Sohn Gottes und Erlöser – oder eben gerade nicht. Diese theologische Frage habe Luther umgetrieben. Hingegen habe in der Rechtfertigungslehre, also im lutherischen „allein aus Glaubenn ohne alle Werkgerechtigkeit“ Judenhass als negative Folie „nur marginales oder gar kein Gewicht“. Auf dieser zweiten Ebene erscheint Luthers Judenhass theologisch entschärft. Theologie und Kirche müssten heute ohnehin lernen, mit unterschiedlichen konfessionellen Positionen –„Einsichten“ – zu leben, statt zu fordern, dass eigene Traditionen „abgeschmolzen werden“. Martin Luther – entlastet? Luthers Hass soll sozusagen aus Treue zur biblischen Botschaft erklärt werden, noch etwas genauer als Liebe zum Alten Testament , das doch so ausschließlich und eindeutig aus Luthers Sicht im Schema Verheißung und Erfüllung allein auf Christus hin zu lesen sei. Wer dies nicht annehme, trage dafür die Verantwortung.

Es ist eine nicht einfache und unbelastete Diskussion, die 2016 im Vorfeld der Wiederbelebung der uns fremd gewordenen reformatorischen Dynamik geführt wird. Sie verweist unausweichlich auf ein Grundproblem des abendländischen Antijudaismus in all seinen schrecklichen Schattierungen. Insofern ist die Diskussion um Luther und die Juden vielleicht die Wichtigste, die vor diesem Lutherjubiläum, dem 500. Jahrestag der legendären Veröffentlichung von Luthers 95 Thesen gegen den Ablasshandel und zur Reform der Kirche geführt werden muss. Hier wird noch einmal die für 2017 unübersehbare neue Handlungs- und Verhaltenslinie beschworen, mag ansonsten der Luther des 16. Jahrhunderts den Zeitgenossen im 21. Jahrhundert auch noch so fern vorkommen.

Der liberal jüdische Rabbiner Walter Homolka, Professor am renommierten Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam, hat in der Antwort auf Dorothea Wendebourg noch einmal den erheblichen Perspektivenwechsel, der nach Luther und den Folgen zu vollziehen sei, dargestellt. Vor der schrittweisen Wahrnehmung dessen, was im Holocaust an Unvorstellbarem unter den Augen und mit den Händen auch von Christen geschehen ist, kam nach 1945 langsam ein zaghaftes Nachdenken über eine neue, weit über Luther hinausgehende theologische Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum in Gang. Sie sollte prinzipiell jede Abwertung oder Unterordnung einer Religion aus der Sicht einer anderen ausschließen. Homolka weist auf eine 250-jährige jüdische Leben-Jesu-Forschung hin, in der unzweifelhaft immer deutlicher wurde, dass der historische Jesus, von aller Dogmatik entkleidet, primär aus dem Judentum seiner Zeit zu begreifen sei.

Der große jüdische Reformer und Theologe des 19. Jahrhunderts Abraham Geiger hatte bereits 1863 nachdrücklich, ohne jegliche Resonanz bei christlichen Historikern, gezeigt, dass der historische Jesus als Gestalt am Beginn des Christentums aus der Bewegung der Pharisäer hervorgegangen sei. Die Pharisäer – das war die Gruppe, die in den frühen christlichen Schriften gerade als Gegner der ersten Christen dargestellt werden. Dass der Namensgeber des Christentums unmittelbar aus einer jüdischen Reformbewegung stammt, müsse heute für die jüdische wie die christliche Theologie weit jenseits von Luthers Sicht Konsequenzen haben - auch für die jüdische Sicht, fordert Homolka. Und dann zitiert er einen wegweisenden Text von Schalom Ben-Chorin, den der jüdische Theologe bereits 1942 so formulierte: „Dass Israel und die Kirche in der Welt bestehen, das kann nur heißen, dass Gott Israel durch die Kirche fragen will (-) und dass derselbe einzige, wahre und lebendige Gott die Kirche durch Israel fragen will. Und das heißt, dass sie einander Rede und Antwort stehen müssen …“. Mag es für heutige Ohren ein wenig fremd in der theologischen Sprache sein, so wird doch deutlich, was gemeint ist: Kirche und Synagoge sind und bleiben unauflöslich aufeinander bezogen, wenn sie ihre eigene Geschichte ernst nehmen.


BÜCHER von Wolf-Rüdiger Schmidt



           



Die evangelische Identität

Die Forderungen Homolkas treffen sich in der Tat auch mit Beschlüssen einzelner evangelischer Landeskirchen, auch wenn vieles, allzu vieles noch nicht bis zur Basis der Kirche in Predigt und Unterricht durchgedrungen ist. Der liberal-jüdische Professor erinnert mit Recht an Synodalentscheidungen der bayerischen Landeskirche – es könnten aber auch die Kirchen im Rheinland oder in Hessen-Nassau genannt werden -, die vor mehr als zwei Jahrzehnten bereits in verpflichtenden Grundordnungen die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes festgeschrieben haben - gegen alle traditionellen, lutherischen Versuche, in „Kreuz und Auferstehung“ des christlichen Erlösers die spezifische Aufgabe des alten Israel als erledigt, überflüssig und wie auch immer überwunden anzusehen.

Nun kann natürlich mit Grund befürchtet werden, dass neue Aufmerksamkeit und mediales Getriebe um den großen Reformator, der uns religionsfremden Zeitgenossen im 20. Jahrhundert aus dem fernen Sechzehnten so viel zu sagen habe, diesen Perspektivenwechsel im Umgang mit einer anderen Religion, dem Judentum überdeckt. Es ist sogar zu hören, mit dem Judenthema „sei man bereits durch“, und könne sich nun den wichtigeren Themen widmen – ganz gewiss eine Fehleinschätzung. Eine breite Diskussion bis in die örtlichen Gemeinden zum Beispiel über das Thema der Synodalerklärung „Martin Luther und die Juden“ wird nicht zu umgehen sein – trotz anderer Wünsche an das Reformationsgedenken.

Wichtig zu sein scheint vielen in den kirchenleitenden Instanzen derzeit – wenn man Stichworten aus den Jubiläumsankündigungen folgt – „die evangelische Identität“, „die reformatorische Wertortientierung“, „die Sprache Martin Luthers für die Menschen unserer Zeit“, „die Botschaft neu zu entdecken“ und so fort. Auch Luthers Wiederentdeckung von „Gott als Gott der Liebe und des Friedens“ könne den Christen heute viel bedeuten, nicht zuletzt natürlich das viermalige reformatorische „Allein“, sola fide, sola gratia, solus Christus, sola scriptura, allein aus Glauben, allein aus Gnade, allein Christus, allein die Schrift. Weniger offen angesprochen wird, dass Luther tief in den Höllenängsten des späten Mittelalters stand, eine sehr konkrete, leibliche Vorstellung vom Teufel hatte, dass er zwar nicht den militanten Endzeitvorstellungen eines Thomas Müntzer folgte, aber doch ein sehr reales Endgericht erwartete, das in der Rechtfertigung des Sünders für diesen vorweggenommen wird. Und sehr real und konkret ist auch die Präsenz von Leib und Blut Christi im Abendmahl gedacht, jenseits jeder symbolischen Deutung. Auch wird der uns ziemlich fremd gewordenen Frage nach einem gnädigen Gott, die Luther so heftig umtrieb, dadurch ausgewichen, dass sie gern als Frage nach einem „gnädigen Nächsten“ verstanden wird.

Der historische Martin Luther macht Mühe. Das ist nichts Neues. Von außen und bis heute nachvollziehbar hat wie kaum ein anderer Heinrich Heine die Ambivalenzen und Gegengesetzlichkeiten des Reformators beschrieben – ein „Vorkämpfer der Geistesfreiheit“ und zugleich „voll schauerlichster Gottesfurcht“, „ein kalter scholastischer Wortklauberer und ein begeisterter, gottberauschter Prophet“ …. . Und von Innen, aus seiner Kirche heraus, fällt es denen, die Luther in seiner vielfältigen Wirkungsgeschichte gerecht werden wollen, auch nicht leicht, ihn zu verstehen, neu zu entdecken, gar zu lieben. Trotz seiner uns Deutschen vielleicht naheliegenden Volkstümlichkeit und erfrischenden Derbheit kommt uns der historische Luther als ein wirklich Fremder entgegen. Wie bereits frühere Generationen sehen wir in ihm oft nur das Spiegelbild unserer selbst. Die einen mögen dabei erschrecken, die anderen sind entzückt.


Ein mittelalterlisches Bild von der Welt

Fremd ist ganz besonders seine Sicht und Ansicht der Welt. Das kopernikanische Weltbild, das sich in seiner Zeit bereits bekannt zu machen und durchzusetzen begann, war ihm ein Gräuel. Natürlich kann die Erde für ihn nur der Mittelpunkt der Schöpfung sein. Und wie der Reformator von Genf, Johannes Calvin, und sein gelehrter Kampfgefährte Philipp Melanchton war Kopernikus mit seiner bahnbrechenden Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht, „ein Narr“. Selbstverständlich konnte Gott die Sonne still stehen lassen, wie in der Bibel geschrieben (Jos 10,13).

Aber muss diese weltanschaulich noch mittelalterliche Fixierung, so wurde oft gefragt, Luthers Aussagen zur Natur des Menschen einschränken oder gar relativieren? Geht es nicht um Wesentlicheres, das eigentliche Menschsein? Die christlichen Kirchen, katholisch wie evangelisch, haben sich bis ins 20. Jahrhundert immer wieder geweigert, die elementaren Veränderungen unseres Wissens von der Welt, das wachsende Wissen um die Gesetze des Kosmos, die Evolution des Lebens, die verwandtschaftliche Nähe von Tier und Mensch, heute gar das Wissen um das fraglos materielle elektrochemische Korrelat des menschlichen Geistes wirklich so ernst zu nehmen, dass es auch die Theologie berührte, anders: dass sie unser christliches Bild vom Wesentlichen des Menschseins erschüttern. Das lutherische Erbe vom Heilwerden des Menschen in der justificatio impii, der Rechtfertigung des Sünders, theologisch: die Soteriologie, hat entscheidend dazu beigetragen, dass jede naturwissenschaftliche Erkenntnis in ihren vielfältigen Varianten, von der Kosmologie über die Evolutionsbiologie bis hin zur Hirnforschung weit überstrahlt wird, mag diese auch zunehmend die informierte Öffentlichkeit seit Generationen wachsend beschäftigen oder gar faszinieren.

Nicht nur durch die frühe Revolution des naturwissenschaftlichen Weltbildes seit Kopernikus und Kepler, Galilei, Bacon, Newton, Descartes und so fort sind wir von Martin Luthers Bild von der Welt tiefgreifend getrennt. Seit dem 18. Jahrhundert kommen zahllose andere große Forscher der Neuzeit hinzu, nicht zuletzt Charles Darwin, dann Albert Einstein, die Erkenntnisse von einem beschleunigt expandierenden, mindestens vierdimensionalen Universum oder die von einem stetig sich selbst organisierenden, experimentierenden Prozess, einer „Evolution“ genannten Hervorbringung von immer Neuem, Unvorhersehbarem in einer irreversiblen Zeit. Bis heute ist die kirchliche Rede von einer „Schöpfung“ in der Regel von einem statischen Denken bestimmt, nicht von einer evolutionären Weltsicht.

Von Luthers Weltbild sind wir aber auch getrennt, weil die Theologie selbst seit bald 300 Jahren in einem bestimmten, wenn auch begrenzten Segment einem beachtlichen Prozess der Selbstaufklärung folgt, manchmal von außen angestoßen, aber zunehmend mit großem eigenen Engagement. Ich meine die historisch-kritische Erforschung der eigenen heiligen Schrift, der Bibel. Luther fühlt, glaubt und denkt noch Generationen vor diesem tiefgreifenden Einschnitt, der den Zugang und das Verständnis der letztlich für ihn unmissverständlich von Gott gegebenen Ursprungs-Schrift - der „scriptura“ allein - auf eine neue Basis stellt.

Seit dem frühen 18. Jahrhundert, seit Reimarus und Semler, seit Lessing und ganz besonders seit den historisch orientierten großen Theologen des 19. Jahrhunderts werden die „heiligen“ Texte so gelesen, so behandelt und akribisch erforscht wie alle anderen Texte ihrer Zeit. Es wird nach dem konkreten historischen Ort jeder biblischen Passage gefragt, nach dem Sitz im Leben, nach dem Einfluss anderer Traditionen und Überlieferungen. Und dabei wurde und wird Schritt um Schritt deutlicher, dass nichts sozusagen „vom Himmel gefallen“ ist und kein Teil der Bibel von vornherein als überzeitlich und unberührbar daherkommt. Auch der „heilige“ Text hat eine „Geschichte von unten“. Das Wort Gottes wird zum Menschenwort mit einer konkreten Werdegeschichte, die zum Verständnis des Textes unverzichtbar ist.



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UNIVERSITAS 12/2016
Schwerpunkt: „Religion und Gesellschaft“

Wolf-Rüdiger Schmidt
Luther – ein Fremder
Warum der Reformator für die Fortentwicklung einer aufgeklärten
Theologie und Kirche kein guter Ratgeber ist

Magnus Brechtken
Glaube und Religion als Parameter
internationaler Beziehungen

Rüdiger Vaas
Himmlische Nöte – das Elend durch Religion
Die Misere des Glaubens: Weltangst, Gottesfurcht und
gesellschaftliche Probleme

Peter J. Brenner
Der fremde Gast:
Korbinian Aigner – Landpfarrer, KZ-Häftling, Obstbildermaler

Klaus Bartels/Sankt Nikolaus
Ein Bischof mit Zivilcourage

Heiko Ernst
Sünde und Laster
Die Sieben Todsünden: Heute noch relevant?


UNIVERSITAS ist eine monatlich erscheinende Zeitschrift für Wissenschaft und Kultur, die seit ihren Anfängen im Jahr 1946 die Welt des Wissens in ihrem Zusammenhang darstellen will. Sie setzt sich mit Schlüsselfragen der Gegenwart auseinander und eröffnet als Forum für neue Ideen Spielräume zur aktiven Gestaltung der Zukunft. Seit Januar 2011 erscheint die UNIVERSITAS im Heidelberger Lese-Zeiten Verlag, der 2011 von Dirk Katzschmann gegründet wurde. Er verantwortet weiterhin als Herausgeber und Redakteur die Inhalte der Zeitschrift.

UNIVERSITAS bietet: jeden Monat ein Schwerpunktthema, Beiträge renommierter Autoren – mit Tiefgang, Gespräche mit Persönlichkeiten, die wirklich etwas zu sagen haben – über den Tag hinaus, Reportagen über Menschen und Projekte, die Mut machen, Besprechungen von aktuellen Büchern und Tonträgern sowie den Cartoon von Freimut Wössner.
Alle drei Monate erscheint als kostenlose Beilage die kinderUNIVERSITAS.


Weitere Informationen und Bestellmöglichkeit:
UNIVERSITAS Lese-Zeiten Verlag



Das "Sola Scriptura" allein reicht nicht

Natürlich stellt sich damit die offene und für manchen auch bedrängende Frage, was sich am traditionellen, auch jüdisch-christlichen Gottesbild verändert, wenn sich die Geschichte des Menschen mit dem, was er unter verschiedensten Namen mit „Gott“ verbindet, menschheits- und religionsgeschichtlich als ein Entwicklungsprozess darstellt: Als eine kulturell-religiöse Evolution von einem frühen Jahwe-Glaubenn des alten Israel mit Elementen eines midianitischen Sturm- und Gewittergottes, angesetzt für das zweite vorchristliche Jahrtausend, über den „Gott der Väter“ Abrahams, Isaaks und Jakobs um die Jahrtausendschwelle, dann über die Zeit der Propheten zu den nachexilischen Reformpriestern seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert und die aufkommende Sicht eines letzlich Unbenennbaren und Ewigen, bis zu Jesus und seinem „Abba, lieber Vater“, schließlich weiter nach vielerlei Begegnungen mit dem hellenistischen Denken zum Bekenntnis zu einem „Dreieinen“ im 3./4. Jahrhundert nach Christus. Nein, die Würde der alten Texte wird dadurch nicht verletzt - nicht durch die historische Sicht und auch nicht durch einen kulturell-evolutionären Zugang zu jenen Namen und Bildern, in denen so viele Menschheitserfahrungen aufbewahrt sind. Aber die Perspektive wird doch eine andere, der Akzent eines lutherischen „sola scriptura“, einer Heiligen Schrift, die aus sich selbst heraus bereits spricht, verschiebt sich erheblich. Ein Glauben, der auch verstehen will, wird ohne die Integration des religionsgeschichtlichen Wissens gegenüber anderen modernen Wissensgebieten nicht gesprächsfähig sein.

Luther liegt Jahrhunderte vor diesem Wissen. Das kann ihm niemand vorwerfen. Aber eine eventartige, auf öffentliche Aufmerksamkeit ausgerichtete Erinnerung an Luthers Mut, Standhaftigkeit und damalige Erfolgsgeschichte mit dem Programm der Wiederentdeckung des Wortes Gottes muss den erweiterten Wissenshorizont erkennbar aufnehmen. Leicht könnte sonst auch die Begeisterung über ein öffentlich gemachtes theologisches Pfund die unübersehbaren Probleme mit der alten Kirchen- und Verkündigungssprache als eher geringfügig zurückzustellen. Wie dringend die Fragen sind, zeigt sich zum Beispiel jedem gelegentlichen Gottesdienstbesucher, wenn er wie selbstverständlich von studierten Pfarrern dazu aufgefordert wird, das Apostolische Glaubennsbekenntnis mitzusprechen. Das kann durchaus sprachlos machen: „…niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden, sitzend zur Rechten Gottes …“. Mag diese Sprache bei manchen religiös erzogenen Zeitgenossen/innen noch eine gewisse Wärme hervorrufen, so ist sie doch die eines lange überholten Weltbildes.

Noch weiter rückt Luther zurück, wenn sich auf vielerlei Ebenen bis hin zum Alltäglichen der neuzeitliche Verdacht Gehör verschafft, „Gott“ sei „nichts anderes“ als ein Produkt des menschlichen Gehirns. Ein schönes Fantasiegebilde. Selbst eine seriöse Fachzeitschrift wie „Geist und Gehirn“ kann fragen: „Wohnt Gott in unseren Köpfen?“. Die Hirnforschung berührt damit eine alte, nur schwach verheilte Wunde, die im 19. Jahrhundert mit dem Namen Ludwig Feuerbach und all denen verbunden ist , die seinem radikalen Weg von der Theologie zur Anthropologie folgten, nicht zuletzt Karl Marx, Friedrich Engels und Friedrich Nietzsche. Für Feuerbach war Gott in Christus „dieses übermenschliche Wesen nichts andres als ein Produkt und Objekt des übernatürlichen menschlichen Gemütes“. Die Kontroversen darüber mögen sich beruhigt haben, erledigt sind sie in keiner Weise. Es ist nicht einfach, im Wissen auch um die Verortung der religiösen Erfahrung im menschlichen Gehirn jenes zentrale Gut der jüdisch-christlichen Tradition plausibel zu vertreten, dass das „ganz Andere“, „das mysterium absolutum“, „G-o-t-t“ wie auch immer in seinen verschiedenen historisch geprägten Varianten unverkennbar als Gegenüber, als den Anzusprechenden und Ansprechenden in den Mittelpunkt von Glaubenn und Theologie stellt.


Luthers "Gott für den Menschen"

Luthers theologisches Denken liegt weit vor den philosophischen Versuchen des 19. und dann auch des 20. Jahrhunderts, Religion auf das Rein-menschliche zu reduzieren, den Glaubenn schließlich als „nichts anderes“ als ein neuronales Geschehen, eine Projektion zu definieren und zu „entlarven“, am Ende als eine Wunscherfüllung und eine schöne Illusion. Es ist auch deshalb nicht einfach, weil sich eine dünne, gefährliche Verbindungslinie zum evangelischen Glaubennsbegriff ziehen lässt: Luther wollte den abstrakten, fernen Gott als einen nahen, in der persönlichen Erfahrung verankerten predigen. Bei genauerer Hinsicht hat der Anstoß Feuerbachs im Ansatz ein ähnliches Element und damit durchaus sympathische Züge: Feuerbach wollte das Jenseits Gottes in das Diesseits des Menschen verlegen, Gottesfreunde zu Menschenfreunden machen, den Menschen in das ganz und gar irdische Naturgeschehen einbinden. Man kann darin einen Vorreiter der neurowissenschaftlichen Erkenntnis sehen, dass sich Geist und Bewusstsein komplett in das Naturgeschehen einfügen und es nicht „übersteigen“ (hierzu: Das rätselhafte ICH, der rätselhafte Gott, UNIVERSITAS 2, 2016, S.92 ff).

Es war dann der wohl bedeutendste Theologe des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, der in seinem Feuerbach-Aufsatz von 1933 auch mit erstaunlich wohlwollendem Blick auf die neuzeitliche Hinwendung zum Menschen zeigte, dass die Theologie der Moderne entscheidend selbst dazu beigetragen habe, dass Theologie zu nichts anderem als Anthropologie wurde. Aktuell ausgedrückt: dass der GottesGlauben als Ausdruck einer menschlichen Grundstruktur, seines Gemütes, seines Innersten ausgelegt wurde: „Gott ist meine verborgene, gewisse Existenz…“, so interpretiert Barth Feuerbach. Und stellt dann fest: „Die Theologie ist längst zur Anthropologie geworden“, um schließlich speziell auf Luther zu verweisen, der sich dafür wenig interessierte, „was Gott an sich selber ist“, sondern dafür, „was Gott für den Menschen ist“.. Ja, Luther habe gelegentlich sogar den Glaubenn als „Schöpfer der Gottheit“ bezeichnet. Diesem Pfad im Eifer des Reformationsgedenkens auch zu folgen, möchte man der Kirche und ihrer Theologie dringend raten: Luther ungewollt als der Beginn des neuzeitlichen Weges der Theologie zur Anthropologie.

Die Zurückführung des Theologischen, Mythologischen, konstruiert Dogmatischen auf das elementar Menschliche ist zumindest im Bereich des Ethischen bereits voll angekommen. Religion ist selbst in der Kirche für viele, vielleicht die meisten, nichts anderes als christliche Ethik oder das, was man dafür hält. In ihrer Ausgabe vom 27. Oktober 2016 zur Erinnerung an den Anschlag der 95 Thesen durch Luther hat die Wochenzeitung DIE ZEIT 95 Autoren um eine Antwort auf die Frage „Was ist heute christlich?“ gebeten. Die Antwort der Dichter und Kabarettisten, Politiker, Wirtschaftsleute, Journalisten und auch Theologen ist überwiegend der Hinweis auf ein bestimmtes ethisches Verhalten, besonders auf die Nächstenliebe, auf Brücken bauen, Fremde beherbergen, auf Aufrichtigkeit, Verantwortung übernehmen und so fort. Das Wort „Gott“ klingt nur ganz selten an, bei einem ehemaligen Bischof zum Beispiel, der „Gott ehren“ möchte, statt Irdisches zu vergötzen. Zwei, drei Stimmen wiederholen lediglich Stücke aus dem Glaubennsbekenntnis - „an die Auferstehung Glaubenn“ – und ebenso oft gibt es einen Hinweis auf das Gleichnis vom Verlorenen Sohn oder das vom Barmherzigen Samariter. Neben einer fast vollständigen Sammlung dessen, was einen guten, humanen, offenen, barmherzigen, zukunftsorientierten Menschen ausmacht, findet man schwache, aber hörbare Hinweise auf das Spirituelle – auf das, „was jenseits des Weltgetriebes“ liegt, einmal auf die Eucharistie, die Sehnsucht nach einem anderen, nach der Schönheit, die kein Zufall sein kann, nach einem „Menschenrecht auf ein Geheimnis“.

Auffallend in den Statements der 95 ist zum einen das von Giovanni di Lorenzo, dem Chef der ZEIT: „Das größte Problem, das ich heute mit meiner Kirche habe, ist, dass sie mir dabei nicht hilft, zu Glaubenn … Die Regel sind doch eher der bohrende Zweifel und lange Phasen der Abgewandtheit, in denen man sich nicht mehr aufgehoben fühlt bei seinem Gott. Die ernüchternden Erkenntnisse der Wissenschaftler, auch der Historiker über Jesus und seine Zeit tun ihr Übriges …“. Ein zweites theologisch aus dem Rahmen der 95 Antworten fallendes Statement hat der bereits oben zitierte Walter Homolka formuliert. „Christlich“ heiße für ihn, „von Jesus als Juden zu sprechen, ohne gleichzeitig das Judentum als defizitär herabzuziehen und das Andauern des Bundes Gottes mit dem jüdischen Volk in Zweifel zu ziehen“.



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Luther bleibt ein Fremder

Insgesamt wird man wohl feststellen müssen, dass die fünfundneunzig Statements zum beginnenden Reformationsjubiläum das Christliche weit überwiegend als menschenfreundliches Verhalten begreifen, ohne noch den Ausgangspunkt des Christlich-Ethischen im Spirituellen überhaupt anzudeuten. Damit scheint natürlich die theologische Krise, wie nämlich 500 Jahre nach Luther heute überhaupt noch von einem ganz Anderen, von „Gott“ wie auch immer geredet werden könnte, überwunden zu sein. Auch Feuerbach und seinem so breit aufgenommenen Verdacht auf eine Projektion des GottesGlaubenns aus dem menschlichen Geist muss man sich offensichtlich nicht mehr stellen. Wäre das bereits die Lösung für 2017 ?

Bei dem Eröffnungsgottesdienst zum Jubiläumsjahr in Eisenach am 30. Oktober 2016 hat eine/r der derzeit wohl klügsten Predigerinnen/Prediger der Evangelischen, Margot Käßmann - sie nennt sich „Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum“-, eher indirekt die oben angedeuteten Probleme berührt: Es gehe auch im Glaubenn um das Verstehen. Das habe auch Luther so gesehen. Den Reformatoren sei es um einen „gebildeten Glaubenn“ gegangen. Ohne bei einer Predigt in die Details gehen zu können, lobt sie – für eine Predigt ungewöhnlich genug – die historisch-kritische Wissenschaft und deren Eifer, die Entstehungsgeschichte der Texte zu erforschen. Das Thema einer durch die Aufklärung und die naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesse gegenüber Luther stark fortentwickelten Sicht der Welt und des Lebens wird freilich nicht angesprochen.

Luther und seine damalige Dynamik wiederbeleben? Der Reformator hat vor 500 Jahren die Welt wie kein anderer verändert, obwohl er primär die Kirche, das Christentum auf seine Ursprünge zurückzuführen versuchte. Er steht mit seinem theologisch tiefsitzenden Judenhass am Ende einer langen leidvollen christlichen Vorgeschichte und zugleich am Anfang einer neuen Schuldgeschichte, die von ihm ausging und bis in unsere Zeit nachwirkte. Und hat zugleich mit seinem Freiheitsverständnis eine Tür geöffnet, die in eine neue Welt führte, die er aber nicht selbst durchschritt. Sein Selbstbewusstsein spricht dafür, dass er eine Ahnung hatte, dass er an dieser Schwelle steht. Für uns – so erscheint es mir zunehmend – wird uns Luther umso fremder, je mehr man sich mit den Hintergründen seines Glaubenns und Handelns befasst. In der Hoffnung auf ein gesprächs- und argumentationsfähiges Christentum in der Moderne wird es neben der Bereitschaft zu Abschieden von viel Überholtem weiterhin einiger intellektueller Mühe bedürfen, um den Prozess der Aufklärung zwischen einer weit zurückliegenden, in vielem sehr fremden Reformationszeit und dem Jahr 2016/2017 theologisch fruchtbar zu integrieren – im Denken und Fühlen und nicht zuletzt in der Sprache. Es ist ein wirklich breiter Graben, der zwischen uns und Luther liegt.



Der Autor

WOLF-RÜDIGER SCHMIDT

Dr., Journalist seit 1964, Fernsehredakteur (ZDF), Redaktionsleiter (1989-2002), zahlreiche Filme, u.a. „Ich heiße Rhein, du bringst mich um“, „Der Mensch, ein Vetter der Tiere“, „Urknall und Sternenstaub“, „Letzte Tage in Jerusalem“, „Diesseits der Todeslinie – Dietrich Bonhoeffers Weg in den Widerstand“; Buchveröff. u.a.: „Leben ist mehr“, Gütersloh 1989 (5. Auflage); „Leben ohne Seele? Tier – Religion – Ethik“, Gütersloh 1991; „Geliebte und andere Tiere im Judentum, Christentum und Islam“, Gütersloh 1996; „Der Schimpanse im Menschen – das gottebenbildliche Tier“, Gütersloh 2003; zus. mit I. Pollatscheck „Der brennende Dornbusch – Glanz und  Elend der Juden in Europa“, Gütersloh 2004; zus. mit H. Düringer u.a. „Der etwas andere Blick auf die Schöpfung – Interdisziplinäre Versuche im Dialog zwischen Naturwissenschaft und Religion“, Frankfurt a.M. 2007; zus. mit H. Düringer und H. Meisinger, „Das rätselhafte ICH. Neurowissenschaft und Evolutionsbiologie, Frankfurt a.M. 2010. Schmidt ist außerdem Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Wiesbaden e.V..

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