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ONLINE-EXTRA Nr. 357

November 2024

"Im Pogrom gegen die jüdischen Bürger schlug am 9. November 1938 die Stunde der Bewährung für alle, die Humanität, christliche Moral, bürgerlichen Anstand und Solidarität mit Hilfsbedürftigen ernst nahmen. Es waren aber nicht viele, die den misshandelten und verfolgten jüdischen Mitbürgern, Freunden oder Kollegen Hilfe leisteten, sie verbargen, ihnen zur Flucht halfen, sie im Untergrund schützten. Den Berichten über Solidarität und Hilfe steht die Erkenntnis gegenüber, dass die Mehrheit schweigend die Ereignisse hinnahm, dass viele sich vor dem Regime duckten oder sich gar, vom Judenhass angesteckt, dem Mob anschlossen. Die »Reichskristallnacht « war ein Lehrstück für geübte, vor allem aber verweigerte Solidarität."

Mit diesen, die Quintessenz seines Artikels bereits vorwegnehmenden Worten beginnt der Historiker Wolfgang Benz seinen Beitrag, der den Titel trägt: "November 1938 – Solidarität in der 'Reichskristallnacht'". Sehr anschaulich schildert Benz sodann eine Reihe von eindrücklichen Beispielen, die für beides stehen: geübte und veweigerte Solidarität gegenüber deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens in jener Nacht, der man in den letzten Tagen zum 86. Mal an vielen Orten in Deutschland gedacht hat. Benz wirf auch einen Blick auf die damaligen Reaktionen auf die "Reichskristallnacht" im Ausland und reflektiert am Ende seines Beitrages über Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Blick auf die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrunderts.

Der heute anlässlich des 86. Jahrestages der Reichspogromnacht von 1938 als ONLINE-EXTRA Nr. 357 nachfolgend wiedergegebene Beitrag "November 1938 – Solidarität in der 'Reichskristallnacht'" von Wolfang Benz erschien in gedruckter Fassung erstmals in diesem Jahr in dem von Kerstin Schmidt und Joost van Loon herausgegebenen Band "Herausforderung Solidarität" (Bielefeld 2024), der Beiträge aus Philosophie, Soziologie, Theologie, Geschichte, Wirtschaftswissenschaft, Amerikanistik, Postcolonial sowie Gender Studies zum Thema Solidarität enthält. Nähere Angaben zu dem Band weiter unten im Fließtext.

© 2024 Copyright bei Verlag und Autor
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 Der Beitrag ist versehen mit einer CC-Lizenz BY-NC-ND 4.0.



Online-Extra Nr. 357


November 1938 – Solidarität in der »Reichskristallnacht«


WOLFGANG BENZ



Im Pogrom gegen die jüdischen Bürger schlug am 9. November 1938 die Stunde der Bewährung für alle, die Humanität, christliche Moral, bürgerlichen Anstand und Solidarität mit Hilfsbedürftigen ernst nahmen. Es waren aber nicht viele, die den misshandelten und verfolgten jüdischen Mitbürgern, Freunden oder Kollegen Hilfe leisteten, sie verbargen, ihnen zur Flucht halfen, sie im Untergrund schützten. Den Berichten über Solidarität und Hilfe steht die Erkenntnis gegenüber, dass die Mehrheit schweigend die Ereignisse hinnahm, dass viele sich vor dem Regime duckten oder sich gar, vom Judenhass angesteckt, dem Mob anschlossen. Die »Reichskristallnacht« war ein Lehrstück für geübte, vor allem aber verweigerte Solidarität.1

Auf dem Berliner Kurfürstendamm beobachten zwei Offiziere der Deutschen Wehrmacht am Abend des 9. November 1938 den Pogrom gegen die jüdischen Bürger des Deutschen Reiches, den der Volksmund »Reichskristallnacht« nannte, für den hilflose Betroffene neuerdings das monströse Wort »Reichspogromnacht« benutzen. Die Offiziere schämen sich, sie erheben die Stimme, mahnen zu Vernunft und Anstand. Der wütende Haufen verjagt sie unter Drohungen, und beendet einen missglückten Akt der Solidarität, so ist es in der Londoner Times zwei Tage nach dem Ereignis zu lesen.2 Zum Entsetzen, mit dem die Welt nach Deutschland blickte, gehörte das Erstaunen, dass nicht nur fanatische Nazis die Täter waren. Schweigendes Gaffen der Mehrheit, klammheimliche und offene Freude Unbeteiligter über die Not der Juden kennzeichneten das Geschehen. Nicht nur SA-Leute und andere Parteigenossen, die auf Befehl Synagogen in Brand steckten, jüdische Geschäfte zerstörten,Wohnungen verwüsteten, Menschen verhöhnten, misshandelten und zu Tode hetzten, waren die Täter. Zu viele sahen das Treiben nur in gleichgültiger Apathie, wohl auch in schweigender Ablehnung, und zu viele sahen die Katastrophe mit freudiger Erregung, und zu viele ließen sich anstecken und wüteten wie die Täter, die in Uniformen der SA, der SS, der NSDAP auftraten oder in ziviler Kleidung, um den »jäh aufwallenden Volkszorn«, den Goebbels befahl, zu agieren.

In der Nacht des 9. November 1938 begann der Holocaust, in den Tagen danach ließ das NS-Regime die Maske fallen, enthüllte seine wahre Natur. Als Vorwand diente das Attentat des 17jährigen Herschel Grünspan auf den Legationssekretär Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris. Der junge Jude protestierte mit seiner Tat gegen die brutale Abschiebung von Juden polnischer Nationalität aus Deutschland. Die Nachricht vom Tod des Diplomaten traf am Abend des 9. November die im Alten Rathaus in München versammelten NS-Größen, die dort wie jedes Jahr ihre Traditionsfeier zum Putschversuch von 1923 begingen. Es war der richtige Moment für die Inszenierung des Pogroms. Die Stimmung war durch eine Pressekampagne, die dem Pariser Attentat vom 7. November folgte, schon angeheizt. Hitler und Goebbels verabredeten das Weitere, dann verließ Hitler den Raum, und Goebbels legte mit seiner Hasstirade gegen die Juden los, predigte Rache und »Vergeltung«.3

Er wurde von Funktionären der NSDAP und Führern der SA verstanden, sie gaben die Botschaft weiter an die Unterführer, die Kreisleiter und Ortsgruppenleiter im ganzen Reich. Die Parteigenossen sprangen aus den Betten. In Räuberzivil und auch in Uniform demonstrierten sie ab Mitternacht »die gerechte Empörung des deutschen Volkes«. Antisemiten, fanatische Nazis, Mitläufer und opportunistische Nutznießer der NS-Herrschaft machten die Straßen zum Ort des Terrors gegen eine Minderheit. Brandstiftung und blinde Wut gegen Menschen und Sachen, die Zerstörung jüdischer Geschäfte, Plünderung, Misshandlung, Mord an jüdischen Bürgern waren grelle Zeichen, dass die Früchte von Aufklärung und Emanzipation im Staat der Nationalsozialisten verachtet und verschleudert wurden. Deutschland demonstrierte der Welt, dass es nicht länger ein Land der Vernunft und des Rechts sein wollte. Die zivilgesellschaftliche Solidarität, die fünf Jahre vorher bei der Boykott- Aktion gegen Juden am 1. April 1933 noch von vielen öffentlich agiert wurde, war nirgendwo zu beobachten.

Die Schreckensnacht und die ihr folgenden Tage verliefen im ganzen Deutschen Reich – zu dem seit Frühjahr 1938 auch Österreich und seit Herbst auch das Sudetenland gehörten – in ganz ähnlicher Form. Vor Gebäuden der Jüdischen Gemeinde, vor Synagogen, vor Geschäften und Wohnungen bekannter Juden erschienen die krawallseligen Horden, johlten Judenhass, erbrachen die Türen, verwüsteten das Innere und legten schließlich Feuer. Die Feuerwehr hatte ausdrücklichen Befehl, brennende Synagogen nicht zu löschen, sie sollte lediglich Nachbarhäuser schützen, wenn der Brand überzugreifen drohte. Im ganzen Land machte sich der von damals honorigen Leuten, SA-Führern, Bürgermeistern, NSDAP-Funktionären geführte Mob das Vergnügen, in jüdische Wohnungen einzudringen, Mobiliar zu zerstören und verängstigte Juden, angesehene Kaufleute, Rechtsanwälte, Rabbiner und andere Leute von Reputation zu misshandeln und zu demütigen, sie etwa im Nachthemd durch die Straßen zu jagen.

Die Aufforderung zum Pogrom durch die NSDAP kam einem bei vielen Parteigenossen seit der »Kampfzeit der Bewegung« brachliegenden Aktionsbedürfnis entgegen. Die in der SA und anderen Gliederungen der Partei Organisierten waren seit langer Zeit wieder einmal zur Ausübung von Gewalt aufgefordert, die sie nun im Konsens mit der Staatsmacht ausleben konnten. Das Bewusstsein, an einer parteikonformen Machtdemonstration teilzuhaben und die Erinnerung an die Kampfzeit vor 1933 bildeten für sie die Hauptmotive der Aggression, der Zerstörungswut gegen Menschen und deren Eigentum.

Der Vandalismus der im organisierten Pogrom Tobenden sprang aber auf Unbeteiligte über. Als Frucht antisemitischer Propaganda, als Folge nationalsozialistischer Indoktrination oder aus dumpfer Aggression, aus entfesselter Sensationsund Zerstörungslust. Beispiele sind gerade aus kleineren Orten überliefert, vielleicht auch deshalb, weil die Anonymität der Täter dort weniger gewährleistet war als in der Großstadt. Die »Reichskristallnacht« ist das eindrückliche Lehrstück, wie leicht Menschen durch Demagogie zu lenken sind. In Hoyerswerda und Rostock wiederholte sich der psychologische Affekt nach der Wende, in Freital und Cottbus, in Dresden, Chemnitz und vielen weiteren Orten ist die aufbrandende Wut geängstigter und in ihrer Angst von populistischen Scharfmachern bestärkter und aufgestachelter Bürger gegen Minderheiten – Muslime, Flüchtlinge, Asylbewerber, gegen »Fremde« – in unseren Tagen wieder zu erleben.

Das Zusammenrotten von Bürgern, die sich unter Anleitung von Demagogen in Bestien verwandeln, ist leicht zu stimulieren. Mann oder Frau mussten im November 1938 nicht Parteigenossen oder obsessive Antisemiten sein, um Gewalt gegen Juden zu üben. In Rostock-Lichtenhagen wiederholten sich 1992 und in Chemnitz 2018 anders inszeniert die massenpsychotischen Entladungen, die in der »Reichskristallnacht« 1938 das Pogromgeschehen gegen deutsche Juden charakterisierten. Entgegen der Selbstbeschwichtigung der Anständigen waren 1938 nicht nur SA-Männer und Mitglieder der NSDAP die Gewalttäter gewesen. Entgegen der gern geglaubten Legende, man habe die Aktivisten aus anderen Orten herbeitransportieren müssen, weil Einheimische nicht bereit gewesen seien, gegen jüdische Nachbarn, Geschäftsfreunde, Mitbürger Gewalt zu üben, waren die Ortsansässigen aber mit Lust gewalttätig gewesen. Das führten die Prozesse vor Augen, die in den ersten Nachkriegsjahren von der deutschen Justiz geführt wurden. Das beweisen unzählige Erlebnisberichte der Opfer. Das ist auch den Akten des NS-Regimes zu entnehmen. Die Suche nach der Solidarität mit den Opfern ist dagegen mühsam.



Kerstin Schmidt/ Joost van Loon (Eds.):

Herausforderung Solidarität


transcript Verlag
Bielefeld 2024
320 S.
Euro 42,-
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DOI https://doi.org/10.14361/9783839461013



Die Idee der Solidarität erfährt insbesondere im Kontext multipler Krisen verstärkte Aufmerksamkeit. Die heute allgegenwärtigen Forderungen nach »mehr Solidarität« werden auch – bisweilen leichtfertig und unhinterfragt – als vielversprechender, wenn nicht einzig tragfähiger Lösungsansatz in herausfordernden Zeiten dargestellt. Die Beiträger*innen des Bandes aus Philosophie, Soziologie, Theologie, Geschichte, Wirtschaftswissenschaft, Amerikanistik, Postcolonial sowie Gender Studies stellen kritische Perspektiven zu Grenzen und Möglichkeiten von Solidarität zur Diskussion.



Die Novemberpogrome gehören, da kein Mangel an Quellen besteht, zu den hervorragend dokumentierten Ereignissen des Dritten Reiches. Das von Goebbels in der Nacht des 9. November 1938 entfesselte Pogromgeschehen war inszeniert und zentral gesteuert. Die Gewaltakte gegen die jüdische Minderheit waren von Staat und Partei gewollte Demonstrationen. Sie erfolgten keineswegs gegen die Stimmung des Publikums. Viele beteiligten sich freudig. Zunächst Unbeteiligte gerieten rasch in den Sog der vandalisierenden Avantgarde, Neugierige vermischten sich mit den tobenden Fanatikern zum marodierenden, johlenden, gewalttätigen Mob, der sich durch die Gassen des Orts wälzte, dem sich Frauen, Kinder und Jugendliche anschlossen. Sensationslust trieb die Menschen auf die Straße, wo unter dem Eindruck des Geschehens aus Nachbarn plündernde Eindringlinge, aus individuellen Bürgern Partikel kollektiver Raserei wurden. Das lässt sich mit vielen Beispielen belegen.

Wegen Beteiligung am Pogrom in Treuchtlingen in Mittelfranken standen 56 Personen, alle Bürger des Ortes, in den Jahren 1946 und 1947 vor Gericht. Unter ihnen befanden sich acht Frauen. Ihr Anteil an der Barbarei erlaubt Rückschlüsse auf die weibliche Mitwirkung, die meist nur durch Hinweise auf höhnisches Lachen aus der Menge heraus, durch gaffende Neugier oder in der Rolle plündernder, stehlender wegtragender Passantinnen berichtet wird. Nicht nur in Treuchtlingen waren Frauen wütende Mitwirkende am Landfriedensbruch.

So beteiligte sich Sofie O. nicht nur durch anfeuernde Rufe, sie schlug auch Fensterscheiben im Haus eines jüdischen Arztes ein. Nora A. veranlasste die SA zur Rückkehr in ein bereits verwüstetes jüdisches Anwesen und forderte zu weiterer Zerstörung auf mit dem Ruf »Bei Gutmann langt’s noch nicht, was alles zusammengeschlagen ist«. In einem anderen Haus schlitzte sie Betten und Polstermöbel auf, zur Brandstiftung der Synagoge schleppte sie das Benzin herbei, im Schaufenster eines jüdischen Geschäftes zertrampelte sie Waren und einer um Hilfe rufenden Jüdin rief sie zu: »Schau, daß Du rauskommst, Judensau! Sonst erschlagen wir Dich!«

Hannchen B. äußerte vor der brennenden Synagoge ihre Befriedigung und Amalie B. erklärte vor einem jüdischen Anwesen: »Schaut’s, der Judensau langt’s noch nicht! Da müssen wir die SA nochmals holen!« Worauf ein Trupp die Verwüstungen fortsetzte. Ottilie H. zerstörte die Auslagen eines Geschäfts. Leni K., die große Schulden in einem jüdischen Laden hatte, drang mit der Menschenmenge in das Haus ein, um die Geschäftsbücher zu vernichten.4

Die Geschehnisse des 10. November 1938 in der hessischen Kleinstadt Büdingen waren sowohl im Grad der Rohheit, als auch in der Anteilnahme der Bevölkerung typisch für die Exzesse im ganzen Deutschen Reich. Das Landgericht Gießen stellte dazu Jahre später fest: »Zunächst wurden zahlreiche jüdische Einwohner von Büdingen von nicht mehr zu ermittelnden Tätern aus ihren Wohnungen geholt und in das Amtsgerichtsgefängnis gebracht. Am frühen Nachmittag rottete sich eine größere Menschenmenge zusammen, die durch die Straßen der Stadt zog und Gewalttätigkeiten beging. Während zahllose Neugierige von der Straße aus zusahen, drangen einzelne Haufen, zumeist aus Jugendlichen und Schulkindern bestehend, in die jüdischen Wohnungen ein, zertrümmerten die Möbel und andere Einrichtungsgegenstände, zerschlugen Fensterscheiben und Geschirr, schlitzten die Betten auf und warfen Möbelstücke, Wäsche und andere Dinge auf die Straße. Diese Umtriebe, die hin und wieder etwas abebbten und später wieder von neuem aufflackerten, dauerten bis in die Abendstunden.«5

Den Tatbestand jäh aufflammender Rohheit im hessischen Büdingen, der sich ähnlich auch in Baden-Baden, in Berlin, in Kiel, in Dortmund und Gelsenkirchen, in Salzkotten usw., in Kleinstädten und Dörfern ereignete – juristisch klassifizierbar als Aufruhr und Landfriedensbruch, Freiheitsberaubung und Nötigung – rekonstruierte die Erste Strafkammer des Landgerichts Gießen Anfang 1949. Einer der Angeklagten, ein Metzgergeselle, war zur Tatzeit achtzehn Jahre alt. Er gehörte weder der Hitlerjugend noch der NSDAP an, galt als fleißig und tüchtig. Seine Tat bestätigten Zeugen und der Angeklagte selbst. Am Nachmittag des 10. November verließ er nach der Arbeit den Schlachthof, schloss sich einer Menschenmenge an und betrat das Haus der Familie Hirschmann. »Als hier die annähernd 60jährige Frau Hirschmann, die mit ihrem gelähmten Mann in der Küche saß, von zwei jungen Burschen die Treppe hinuntergestoßen wurde, folgte L. ihnen, faßte Frau Hirschmann auf der Straße plötzlich und trieb sie etwa 300 m die Schloßgasse entlang durch die Menge. Er hatte sie dabei an den Kleidern gepackt, schlug auf sie ein und trat sie mit seinen Metzgerstiefeln, wohin er sie gerade traf. Als einige Jugendliche der alten Frau mehrmals ein Bein stellten, so daß sie zu Boden stürzte, riß er sie jedesmal wieder hoch, trieb sie weiter vor sich her und schrie, er wolle sie ins Wasser werfen.« Unnötig zu sagen, dass das Opfer dem Täter, der zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde, nie etwas zuleide getan hatte.6

So entsetzlich wie unverständlich die Exzesse waren, wenn Jugendliche ohne erkennbare Bindung an den Nationalsozialismus als Täter in Erscheinung traten, so waren die Untaten der Antisemiten und Hitleranhänger nicht weniger abscheulich. Die Parteigenossen zeigten sich nach dem Untergang des Dritten Reiches auch weniger tapfer als während des Pogroms, erinnerten sich nicht, wollten nicht am Tatort gewesen sein, beteuerten ihre Unschuld und dass sie nichts gegen Juden hätten, wie ein Mannheimer Apotheker, der in der »Kristallnacht« als Berserker so gehaust hatte, dass sich seine Berufskollegen – im März 1946, mehr als sieben Jahre nach der Tat – einstimmig mit Abscheu wegen seines »menschen- und standesunwürdigen Verhaltens« von ihm distanzierten.7

Die Inpflichtnahme von Kindern und Jugendlichen für den Pogrom durch Erwachsene ist ein Indiz dafür, dass in kleinen ländlichen Verhältnissen wenig Distanz zu den Absichten des Regimes gegenüber der jüdischen Minderheit herrschte. In zwei hessischen Dörfern zog am Vormittag des 10. November unter Führung des NSDAP-Ortsgruppenleiters und des Bürgermeisters eine ständig wachsende Menschenmenge umher und übte Gewalt gegen Juden. Etwa 200 Schulkinder waren vom Rektor auf Verlangen des Bürgermeisters unter Führung ihrer Lehrer zur Demonstration befohlen worden. Sie streiften durch die Gemeinde und folgten der Aufforderung, die Fenster jüdischer Häuser einzuwerfen, bis sie völlig außer Rand und Band gerieten.8

Dem steht die Würde der Opfer gegenüber. Die 76jährige Hedwig Jastrow, pensionierte Schuldirektorin, vergiftete sich am 29. November 1938 in ihrer Wohnung in Berlin-Wilmersdorf. Sie hinterließ einen Brief, in dem sie betonte, dass die Mitglieder ihrer Familie seit über hundert Jahren loyale deutsche Bürger gewesen waren. Sie verbat sich Wiederbelebungsversuche und schrieb, es liege kein Unfall vor und es handele sich nicht um einen Fall von Schwermut: »43 Jahre lang habe ich deutsche Kinder unterrichtet und in allen Nöten betreut und noch viel länger Wohlfahrtsarbeit am deutschen Volk getan in Krieg und Frieden. Ich will nicht leben ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne Wohnung, ohne Bürgerrecht, geächtet und beschimpft.«9

Der Pogrom wurde für viele zum Ventil für Mord- und Zerstörungsgelüste, die öffentlich abreagiert werden durften. Schändlich waren die Reaktionen von Schadenfreude und Genugtuung über das Schicksal der Juden, die sich in Plünderung, Erpressung und Denunziation äußerten und vor allem auf Bereicherung zu Lasten der rechtlos werdenden Juden zielten: Es ging in den folgenden Wochen um die Übernahme der zu »arisierenden« Geschäfte, um Wohnungen, um Büros, Arztpraxen usw. Diese Reaktionen setzten unmittelbar nach dem Pogrom ein, sie waren von dauernder Wirkung.

Es gibt Beweise dafür, dass Deutsche im November 1938 Scham empfanden, dass sie erschrocken waren über das, was sie für einen Rückfall in die Barbarei hielten: die öffentliche Demütigung, Misshandlung und Beraubung einer längst entrechteten Minderheit, deren Angehörige per Gesetz von Vollbürgern zu Staatsangehörigen minderen Rechts herabgestuft waren. Einige wenige haben sich sogar für die Juden engagiert. Beispiele von Zivilcourage, Anstand, Protest gegen die Obrigkeit zeigen die Alternativen zum obrigkeitsfrommen Geschrei, zu wohlfeiler Gewalt, Hetze und zum Vandalismus.

Auch in der Neuen Synagoge, Oranienburger Straße 30 in Berlin-Mitte, waren SA-Männer erschienen und hatten im Vorraum Feuer gelegt. Die Synagoge, 1866 eingeweiht, war mit 3000 Plätzen und einer prächtigen Innenausstattung einer der prunkvollsten jüdischen Kultbauten in Deutschland. Die aufwendige Fassade und die weithin sichtbare goldene Kuppel demonstrierten auch äußerlich Anspruch und Rang des Gebäudes. Die Brandstifter kümmerte das nicht, aber sie wurden an weiterer Zerstörung gehindert durch den herbeieilenden Vorsteher des zuständigen Polizeireviers 16 am Hackeschen Markt, Wilhelm Krützfeld. Der war mit einigen Beamten und bewaffnet mit einem Dokument, das den Bau als unter Denkmalschutz stehend auswies, in der Synagoge erschienen, hatte die SA- Männer davongejagt und die Feuerwehr herbeigeholt, die auch tatsächlich kam und den Brand löschte. Der Reviervorsteher musste sich am 11. November vor dem Polizeipräsidenten verantworten, geschehen ist ihm nichts. Auf eigenen Antrag wurde er, längst Regimegegner geworden, 1942 in den Ruhestand versetzt.10

Landgerichtsdirektor Dr. Ignaz Tischler in Landshut war kein Mann des Widerstands. Er war konservativ von Gesinnung, stand im November 1938 im 62. Lebensjahr. Er war von 1918 bis 1933 Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei gewesen und zur Förderung seiner Karriere dann der NSDAP beigetreten. Dr. Tischler hatte sich aber in seinem Rechtsempfinden nicht beirren lassen und stellte es am Vormittag des 10. November 1938 unter Beweis, als ein Justizangestellter sich damit brüstete, wie er mit anderen SA-Männern in der Nacht die Wohnung des jüdischen Kaufmanns Ansbacher verwüstet hatte. Der Landgerichtsdirektor missbilligte die Tat ausdrücklich und erklärte, wenn er darüber zu richten habe, würde er auf Schadensersatz erkennen und möglicherweise eine Gefängnisstrafe verhängen. Am Abend des folgenden Tages wurde Tischler in einer Kundgebung vom NSDAPKreisleiter angegriffen, am 12. November in den lokalen Zeitungen denunziert und am Nachmittag dieses Tages wurde der Jurist von 50 jungen Leuten, angeführt von einem NSKK-Obertruppführer, durch die Stadt getrieben, als »Judenknecht« und »Sauhund« verhöhnt, mit Fußtritten traktiert. Der grölenden Menge musste er ein Plakat zeigen, auf dem zu lesen war »Tischler ist ein Volksverräter, er gehört nach Dachau«.

Bemerkenswert ist, dass Tischler über die öffentliche Schmähung hinaus nichts passiert ist. Er durfte sich insgeheimer Solidarität erfreuen. Sein Vorgesetzter, der Landshuter Landgerichtspräsident, wusste bei der dienstlichen Behandlung der Angelegenheit so geschickt die offizielle Lesart vom »spontanen Volkszorn«, der zum Pogrom geführt habe, mit der tatsächlichen Steuerung der Ereignisse durch die NSDAP zu konterkarieren, dass Tischler alle Hürden vom angedrohten Strafprozess (wegen Verstoßes gegen das »Heimtückegesetz«) bis zum Parteiverfahren unbehelligt überstand. Sein Gesuch um Versetzung in den Ruhestand wurde damit gegenstandslos. Die Rehabilitierung in der NS-Zeit bereitete ihm allerdings 1947 beim Entnazifizierungsverfahren Schwierigkeiten. In zweiter Instanz 1948 wurden sie dann ausgeräumt.11

Weniger glimpflich kam Julius von Jan, Pfarrer im württembergischen Oberlenningen, davon. In seiner Bußtagspredigt am 16. November 1938 hatte er in aller Deutlichkeit den Pogrom verurteilt: »Ein Verbrechen ist geschehen in Paris. Der Mörder wird seine gerechte Strafe empfangen, weil er das göttliche Gesetz übertreten hat. Wir trauern mit unserem Volk um das Opfer dieser verbrecherischen Tat. Aber wer hätte gedacht, daß dieses eine Verbrechen in Paris bei uns in Deutschland so viele Verbrechen zur Folge haben könnte? Hier haben wir die Quittung bekommen auf den großen Abfall von Gott und Christus, auf das organisierte Antichristentum. Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote Gottes mißachtet, Gotteshäuser, die anderen heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört, Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben und ihre Pflicht gewissenhaft erfüllt haben, wurden ins Konzentrationslager geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse angehörten! Mag das Unrecht auch von oben nicht zugegeben werden – das gesunde Volksempfinden fühlt es deutlich, auch wo man nicht darüber zu sprechen wagt«. Der unerschrockene Pfarrer schloss seine Predigt mit der Fürbitte, Gott möge Hitler und der Reichsregierung Einsicht und den Geist der Buße schenken.12

Neun Tage nach der Predigt erschien ein Trupp von 200 Nationalsozialisten vor dem Oberlenninger Pfarrhaus, prügelte den Pfarrer nieder und schleppte ihn ins Gefängnis Kirchheim/Teck. Nach vier Monaten Haft wurde er aus Württemberg ausgewiesen, war dann in Bayern als Pfarrverweser tätig. Im folgenden Jahr wurde er wegen Verstoßes gegen das »Heimtückegesetz« zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt, später auf Bewährung entlassen, schließlich zur Wehrmacht eingezogen. Im September 1945 kehrte er in sein Pfarramt nach Oberlenningen zurück.13 Aus den Reihen der Bekennenden Kirche erfuhren Pfarrer Jan und seine Familie Fürsorge und Zuspruch, die Amtskirche zeigte sich dagegen zurückhaltend. Ein Erlass der Kirchenleitung in Württemberg vom 6. Dezember 1938 nahm Bezug auf die Bußtagspredigt mit der Bemerkung, es sei »selbstverständlich, daß der Diener der Kirche […] alles zu vermeiden hat, was einer unzulässigen Kritik an konkreten politischen Vorgängen gleichkommt«.14 Der Kirchenleitung war so viel am Frieden mit der staatlichen Obrigkeit gelegen, dass sie auf die Solidarität mit dem Oberlenninger Pfarrer verzichtete, ganz zu schweigen von den fehlenden Emotionen gegenüber der jüdischen Minderheit.

Das Verhalten der drei Männer, die sich in der Stunde der Not solidarisch zeigten, entlarvt die Lebenslüge der Mehrheit, die nach dem Ende des NS-Regimes beteuerte, man habe nichts machen können gegen den Terror, man sei gleich ins KZ gekommen oder umgebracht worden, wenn man aufgemuckt habe. Deshalb hätten sie, bei aller Missbilligung, nichts unternommen.

Solidarität ohne Wenn und Aber übte ein Berliner Paar und dessen Freundeskreis. Die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich und ihr Partner, der Dirigent Leo Borchard, hatten jüdische Freunde. In der Pogromnacht fanden sie sich in der Wohnung der beiden ein und baten um Obdach, Hilfe und Trost. Das Haus war schließlich voll von jüdischen Personen auf der Flucht vor dem inszenierten Pogrom der Reichskristallnacht. Ruth Andreas-Friedrich und Leo Borchard waren nicht nur in der Schreckensnacht solidarisch. Sie halfen bei der Ausreise, betreuten Zurückbleibende, versteckten Untergetauchte. Aus ihrer Solidarität und der ihres Freundeskreises entstand die Widerstandsgruppe »Onkel Emil«, die bis zum Ende der NS-Herrschaft unentdeckt blieb.15

Die Phantasie derer, die sich wie Pfarrer Jan der Untaten des NS-Regimes schämten, die Zivilcourage zeigten wie Reviervorsteher Krützfeld oder die sich nach dem Pogrom Juden gegenüber solidarisch zeigten wie die Berliner Gruppe »Onkel Emil«, reichte im November 1938 noch kaum weiter als zur Vorstellung, die Machthaber wollten die Juden gewaltsam ins Ghetto zurücktreiben oder schlimmstenfalls endgültig aus Deutschland jagen. Bis Auschwitz reichte keine Vorstellungskraft. Wie hätte sie das auch können, überstieg doch das Bevorstehende, die mit dem Pogrom erst eingeleitete letzte Ausgrenzung, noch lange die Phantasie sogar der meisten deutschen Juden als den vom nationalsozialistischen Rassenwahn zuerst Betroffenen.



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Der Abscheu der gesitteten Welt über die Ereignisse in Deutschland war grenzenlos. Die internationale Presse berichtete ausführlich, was in der Nacht des 9. November 1938 und in den folgenden Tagen geschah. Es fehlte nicht an Protesten und Bekundungen der Verachtung für die deutsche Regierung, die nicht nur zugelassen, sondern angezettelt hatte, was unter dem Signum »Reichskristallnacht« über die deutschen Juden hereingebrochen war. An den »spontanen Volkszorn« glaubte zwar niemand, aber man wusste auch nicht, welchen Grad die Zustimmung der Deutschen zur Rassenpolitik des NS-Regimes erreicht hatte. Die »Washington Post« verglich den 9. November 1938 mit dem 24. August 1572, als tausende Hugenotten in der »Pariser Bluthochzeit« ermordet worden waren. Die europäische Welt habe seither nichts ähnliches mehr erlebt: »Und es ist offensichtlich, daß, wie beim Gemetzel der Bartholomäusnacht, auch bei dem jüngsten grausamen Racheakte gegen die deutschen Juden, die Regierung Pate gestanden hat«.16

Der Schriftsteller Heinrich Mann erkannte in den von höchster Stelle in Deutschland inszenierten und sanktionierten Untaten des November 1938 zwei Absichten. Der Hitlerstaat mache Reklame auch mit seinen Verbrechen, um die Welt in Schrecken zu halten. Die Menschheit solle erstarren und darüber jeden Widerstand – den er wie viele andere ins Exil getriebene Intellektuelle, Künstler, Wissenschaftler von den Deutschen forderte – vergessen. Der andere Zweck des Pogroms gegen die Juden in Deutschland sei ein pädagogischer, er bestünde in der »Erziehung der gesamten Mitwelt zur Unmenschlichkeit, vermittels der Gewöhnung an ihren Anblick«. Das kann man als Projekt zur Entsolidarisierung deuten. Entmenschung sei die einzige Lehre des Nationalsozialismus schrieb Heinrich Mann, sein eigentlicher Lehrsatz bestehe in der Botschaft, der Mensch habe kein Recht »auf Freiheit und Würde«, und er habe »selbst das Leben nur so lange der Führer es ihm schenkt«.17

Im Ausland wurde die Verletzung elementarer deutscher Tugenden wie Respekt vor privatem Eigentum, Sparsamkeit, Achtung religiöser Stätten und nachbarschaftliches Verhalten (womit die ganze Skala von Zurückhaltung bis Hilfsbereitschaft gemeint ist) mit Verwunderung registriert – die alltäglichen Normen bürgerlichen Verhaltens im Rechtsstaat schienen für die Gewaltakte des November 1938 suspendiert. Zutreffend an solchem Befremden, das sich in den Spalten der internationalen Presse fand, war, dass das Deutsche Reich vor aller Welt demonstrierte, dass es kein Rechtsstaat mehr war. Die bürgerlichen Konventionen galten zwar weiter, nur eben nicht mehr für die Juden und je nach Belieben auch nicht für andere Minderheiten. Solidarität mit den Entrechteten zu zeigen galt zumindest als inopportun.

Der Novemberpogrom ist als ein Ritual öffentlicher Demütigung zu deuten, als inszenierte Entwürdigung einer Minderheit, gegen die latente Hass- und Neidgefühle mobilisierbar waren.18 Darüber hinaus waren die Novemberpogrome Akte der Entsolidarisierung mit Bürgern, die als Feinde ausgegrenzt waren. Die Entsolidarisierung war staatlich programmiert und durch Propaganda vorbereitet worden. Die Wirkung zeigte sich unmittelbar.

Das jüdische Leben in Deutschland erlosch nach den Pogromen. Am 12. November 1938 konferierten Vertreter des Staats und der NSDAP unter Vorsitz Hermann Görings, des zweitmächtigsten Mannes im Dritten Reich. Die Konferenz beschloss die Enteignung der geschädigten Juden, die Herren besprachen die »Arisierung« des jüdischen Eigentums und diktierten den deutschen Juden eine Sondersteuer auf, in Höhe einer Milliarde Mark.19 Der messbare, d.h. physische und ökonomische Schaden der »Reichskristallnacht« ist erheblich größer, als im November 1938 von den Anstiftern der Pogrome bilanziert wurde. Mehr als 1400 ausgebrannte und geplünderte Synagogen, mindestens 177 zerstörte Wohnhäuser, 1300 bis 1500 Tote, 30756 Verhaftungen jüdischer Männer, von denen 1000 die KZ Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald nicht überlebten bzw. an den Folgen der Haft starben. Die politischen, sozialen und emotionalen Schäden entziehen sich jeder Bilanz und sie sind von Dauer.

Nur wenige Bürger hatten den Juden Solidarität erwiesen. Viele waren zu Gewalttätern geworden, die demonstrierten, wie dünn der Firnis der Zivilisation aller bürgerlichen Wohlanständigkeit aufgetragen ist. Die Erkenntnis aus den Novemberpogromen darf deshalb nicht nur darin bestehen, dass Antisemitismus auch acht Jahrzehnte später lebendig ist und bekämpft werden muss. Erinnern und Gedenken an die Schande der christlichen Mehrheit und das Leid der jüdischen Minderheit sind notwendig. Aber auch das genügt nicht. Die Lektion aus der Geschichte ist erst vollständig gelernt und begriffen, wenn die Diskriminierung aller Minderheiten, sei es wegen ihrer Religion oder Kultur, ihrer Herkunft, ihrer sozialen Situation, ihrer sexuellen Orientierung usw. geächtet ist. Solange Ängste der Mehrheit durch Ressentiments gegen Minderheiten und »Fremde« gelindert werden, sind weitere Ausbrüche bürgerlicher Rohheit zu fürchten. Deshalb gibt der Erfolg von Demagogen, die ihre Gefolgschaft mit populistischen Phrasen und der Denunziation von »Fremden« in politischer Bewegung halten, Anlass zur Sorge vor neuem Ausbruch des »Volkszorns«. In Hoyerswerda und Rostock erfolgte er Anfang der 1990er Jahre und wurde als Teil der Wendekrise erklärt. In Dresden und Freital, in Cottbus und Chemnitz wüteten Rechtsradikale und Bürger, die sich der Mitte zurechnen, gegen Flüchtlinge und Asylsuchende, gegen Muslime, weil sie angeblich anders, tatsächlich unerwünscht sind. Wiederholt sich dort Geschichte mit neuen Opfern?20 Zu fürchten sind Wutbürger und Querdenker, die in organisierter Aufsässigkeit politisch agieren und sich solidarischer Vernunft, die Demokratie kennzeichnet, entziehen.

Die Verweigerung von Solidarität mit Hilfesuchenden, Flüchtigen, Menschen in Not hat sich längst wiederholt. Die »Reichskristallnacht« war nicht der letzte Pogrom in Deutschland. Und nicht die letzte öffentliche Zurschaustellung verweigerter Solidarität. Im Sommer 1992 raste wieder entfesselter Mob, tobte sich in Brandstiftung und Steinwürfen aus. In Rostock und zuvor schon andernorts, wie in Hoyerswerda spendeten Bürger fremdenfeindlichen Randalierern Applaus, feuerten sie an, vermittelten ihnen, während die Obrigkeit unsichtbar war, den Eindruck, sie handelten im Auftrag der schweigenden Mehrheit, ja, sie hätten gar den Beifall interessierter Politiker, wenn sie mit Krawall und Feuer, mit Hassgesang und Mordversuch eine unerwünschte Minderheit vertrieben oder so lange terrorisierten, bis sie amtlicherseits abtransportiert werden musste, weil ihre Sicherheit vor Ort nicht mehr gewährleistet werden konnte. Andere nahmen die Reaktion staatlicher Stellen als Ansporn, fühlten sich in ihrer Fremdenfeindlichkeit bestätigt und wieder andere zogen eigene Schlüsse zur Nutzanwendung aus den Ereignissen: Eine Gemeinde in Brandenburg wehrte die Einquartierung von Asylbewerbern dadurch ab, dass sie jugendliche Rechtsextremisten dafür bezahlte, die vorgesehene Unterkunft niederzubrennen. Der Erfolg wurde mit einem Fest gefeiert, bei dem das Bier in Strömen floss.21

Das geschah 1993 und war kein Einzelfall. Fremdenhass entlud sich auch in brennenden Wohnheimen, im Gebrüll rechter Aktivisten, die seit 2014 gegen Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge demonstrieren, in Brandstiftung, Pöbelei, Gewalt. Die Täter sind aber nicht nur Rechtsextremisten. Organisiert in der fremdenfeindlichen, nationalistischen und gegen Europa hetzenden Partei »Alternative für Deutschland« und zusammengerottet in der Dresdner Empörungsbewegung »Pegida« finden sich Bürger aus der Mitte der Gesellschaft im Protest gegen die demokratischen Errungenschaften Toleranz und Weltoffenheit, die als Lehre der Geschichte der »Reichskristallnacht« unsere politische Kultur bestimmen.22 In der »Reichskristallnacht« wurde unter regierungsamtlicher Regie das Signal gesetzt zur definitiven, zur physischen Ausgrenzung der Juden in Deutschland, die mit den Nürnberger Gesetzen 1935 und einer Flut von diskriminierenden Verordnungen längst begonnen hatte, die nach dem Pogrom mit der Wegnahme des Eigentums durch »Arisierung«, durch Ghettoisierung, Stigmatisierung durch den Judenstern und schließlich mit der Deportation in die Vernichtungslager im Osten endete.

In Rostock entluden sich 54 Jahre nach der »Reichskristallnacht« Frustrationen und sozialer Stress an unschuldigen Objekten der Aggression, an »Fremden«, auf die ein verbreitetes Unbehagen an unübersichtlichen und als bedrohend empfundenen Zuständen projiziert wurde. Interessierte Politiker haben, als sie »das Ausländerproblem « in Szene setzten, das Ihre dazu beigetragen. In ungläubigem Staunen sahen sie dann zu, wie ihnen die Kontrolle über den Protest entglitt. Der entfesselten Wut der Straße – die auch und vor allem ihnen galt – haben sie stundenund tagelang nichts entgegenzusetzen gehabt. Unter dem Beifall der in ihrem Ordnungssinn gekränkten Bürger errang die Straße einen vorübergehenden Sieg. Nicht anders war, trotz allem Entsetzen, trotz der Scham und dem Zorn der Mehrheit der deutschen Bürger über die Vorgänge, die Abwesenheit der Polizei, die anschließende Publizität der rechten Szene, die vielfache Nachahmung des Rostocker Aufruhrs bis hin zu den Morden in Mölln und Solingen zu verstehen.

Der Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im Stress der Wende 1992 war ein Menetekel. Die Belagerung von Wohnheimen, grölende Dorfbewohner wie in Clausnitz, jubelnde Fremdenfeinde in Bautzen, die Feuerwehrleute am Löschen einer brennenden Flüchtlingsunterkunft hindern wollen, verängstigte Flüchtlinge sind Zeichen einer Menschenfeindlichkeit, die zutiefst erschreckt. Trotzdem: Die Ereignisse der Gegenwart sind zwar Zeichen der Erosion der gesellschaftlichen Mitte, von bürgerlicher Rohheit, aber nicht, wie die Pogrome von 1938, von der politischen Führung gewollt. Die Ereignisse zeigen jedoch abermals, wie dünn der Firnis von Zivilisation und Kultur ist, wenn Solidarität gefragt ist.

Die Ereignisse in Rostock und Hoyerswerda und die fremdenfeindliche Wut der Jahre ab 2014 sind, das bleibt festzuhalten, Ausfluss von Unsicherheit, Angst und Dumpfheit von unten, und darin liegt der wesentliche Unterschied zur Schreckensnacht des Jahres 1938. Im November 1938 war die Situation trotz äußerer Ähnlichkeiten anders, die »Reichskristallnacht« war von Staats wegen inszeniert, kaltblütig und flächendeckend kalkuliert und diente als Auftakt für Schlimmeres, für den letzten Akt aggressiver Rassenpolitik des NS-Regimes gegen die jüdischen Bürger des Deutschen Reiches.

Die materiellen Schäden des Novemberpogroms und seiner Folgen wurden im Rahmen der »Wiedergutmachungs«-Gesetzgebung der Bundesrepublik, so gut es ging, behoben. Die immateriellen Beschädigungen der Menschen durch Demütigung und Misshandlung, durch den Verlust von Heimat und Selbstvertrauen, von Glück und Gesundheit waren nicht gutzumachen. Nicht wiedergutzumachen war auch der Verlust an bürgerlicher Sicherheit und an Vertrauen in die Mehrheitsgesellschaft auf Seiten der Minderheit nach dem öffentlichen Entzug der Solidarität.


Literatur



Beckenbauer, Alfons: Das mutige Wort des Dr. Tischler zur Kristallnacht in Landshut: In: Verhandlungen des historischen Vereins für Niederbayern 98 (1972) 21–36.
Benz, Angelika: Stationen bürgerlicher Gewalt. Von Rostock-Lichtenhagen bis Clausnitz. In: Benz,Wolfgang (Hg.): Fremdenfeinde und Wutbürger. Verliert die demokratische Gesellschaft ihre Mitte? Berlin 2016, 69–98.
Benz, Wolfgang: Die Entnazifizierung der Richter. In: Diestelkamp, Bernhard/ Stolleis, Michael (Hg.): Justizalltag im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1988, 112–130.
Benz, Wolfgang: Gewalt im November 1938. Die »Reichskristallnacht«. Initial zum Holocaust, Berlin 2018.
Benz, Wolfgang: Protest und Menschlichkeit. Die Widerstandsgruppe »Onkel Emil« im Nationalsozialismus, Stuttgart 2020.
Benz, Wolfgang: Vom Vorurteil zur Gewalt. Politische und soziale Feindbilder in Geschichte und Gegenwart, Freiburg 2020.
Bundesarchiv u.a. (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 2, München 2009.
Denzler, Georg/Fabricius, Volker: Christen und Nationalsozialisten, Frankfurt a.M. 1993, 340f.
Gerlach, Wolfgang: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1987.
Graml, Hermann: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München 1988.
Gross, Raphael: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe, München 2013.
Heiden, Konrad: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht, hg. von Markus Roth, Sascha Feuchert und Christiane Weber, Göttingen 2013.
Heiden, Konrad: Der Pogrom, Paris 1939.
Knobloch, Heinz: Der beherzte Reviervorsteher. Ungewöhnliche Zivilcourage am Hackeschen Markt, Berlin 1990.
Loewenberg, Peter: Die »Reichskristallnacht« vom 9. zum 10. November 1938 als öffentliches Erniedrigungsritual. In: Bohleber, Werner/Kafka, John S. (Hg.): Antisemitismus, Bielefeld 1992, 39–64.
Pehle, Walter H. (Hg.): Der Judenpogrom 1938. Von der »Reichskristallnacht« zum Völkermord, Frankfurt a.M. 1988.
Volkov, Shulamit: The »Kristallnacht«. In: Context. A View from Palestine, Year Book Leo Baeck Institute 35 (1990) 279–296.



ANMERKUNGEN



1 Wichtigste Literatur: Benz, Wolfgang: Gewalt im November 1938. Die »Reichskristallnacht«. Initial zum Holocaust, Berlin 2018; Graml, Hermann: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich, München 1988; Pehle, Walter H. (Hg.): Der Judenpogrom 1938. Von der »Reichskristallnacht« zum Völkermord, Frankfurt a.M. 1988; Gross, Raphael: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe, München 2013.
2 Heiden, Konrad: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht, hg. von Markus Roth, Sascha Feuchert und Christiane Weber, Göttingen 2013, 39.
3 Der Hergang ist offiziell rekonstruiert im Bericht des Obersten Parteigerichts der NSDAP an Göring vom 13. Februar 1939, Nürnberger Dokument PS 3063.
4 Das Verfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth wurde am 29.12.1945 eröffnet, das Urteil datiert auf den 14.11.1947, Institut für Zeitgeschichte München, Archiv Gn 02.10.
5 Urteil des Landgerichts Gießen, 6.1.1949, Institut für Zeitgeschichte München, Archiv Gg 01.08.
6 Urteil des Landgerichts Gießen, 6.1.1949, Institut für Zeitgeschichte München, Archiv Gg 01.08.
7 Urteil des Landgerichts Mannheim, 24.6.1948, Institut für Zeitgeschichte München, Archiv Gm 02.05.
8 Urteil des Landgerichts Gießen, 2.3.1949, Institut für Zeitgeschichte München, Archiv Gg 01.23.
9 Abschiedsbrief Hedwig Jastrow, 29.11.1938. In: Bundesarchiv u.a. (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 2, München 2009, 512.
10 Vgl. Knobloch, Heinz: Der beherzte Reviervorsteher. Ungewöhnliche Zivilcourage am Hackeschen Markt, Berlin 1990.
11 Beckenbauer, Alfons: Das mutige Wort des Dr. Tischler zur Kristallnacht in Landshut: In: Verhandlungen des historischen Vereins für Niederbayern 98 (1972) 21–36; Benz, Wolfgang: Die Entnazifizierung der Richter. In: Diestelkamp, Bernhard/Stolleis, Michael (Hg.): Justizalltag im Dritten Reich, Frankfurt a.M. 1988, 126.
12 Wortlaut der Predigt bei Denzler, Georg/Fabricius, Volker: Christen und Nationalsozialisten, Frankfurt a.M. 1993, 340f.
13 Gerlach, Wolfgang: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1987, 238.
14 Denzler/Fabricius: Christen und Nationalsozialisten, 343.
15 Benz, Wolfgang: Protest und Menschlichkeit. Die Widerstandsgruppe »Onkel Emil« im Nationalsozialismus, Stuttgart 2020.
16 Zit. nach der von Konrad Heiden zusammengestellten Sammlung von internationalen Reaktionen: Der Pogrom, Paris 1939, 97f.; vgl. auch Volkov, Shulamit: The »Kristallnacht«. In: Context. A View from Palestine, Year Book Leo Baeck Institute 35 (1990) 279–296.
17 Der Pogrom, Paris 1939, Vorwort von Heinrich Mann, S. IV.
18 Vgl. Loewenberg, Peter: Die »Reichskristallnacht« vom 9. zum 10. November 1938 als öffentliches Erniedrigungsritual. In: Bohleber, Werner/Kafka, John S. (Hg.): Antisemitismus, Bielefeld 1992, 39–64.
19 Stenographische Niederschrift der Besprechung über die Judenfrage bei Göring am 12. November 1938, Nürnberger Dokument PS 1816.
20 Benz, Wolfgang: Vom Vorurteil zur Gewalt. Politische und soziale Feindbilder in Geschichte und Gegenwart, Freiburg 2020.
21 Zit. nach taz vom 25.8. 1993 (Gekaufter Anschlag: Stolpe weckt den Staatsanwalt).
22 Benz, Angelika: Stationen bürgerlicher Gewalt. Von Rostock-Lichtenhagen bis Clausnitz. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Fremdenfeinde und Wutbürger. Verliert die demokratische Gesellschaft ihre Mitte? Berlin 2016, 69–98.



Der Autor

Prof. em. Dr. WOLFGANG BENZ

Geb. 1941 in Ellwangen/Jagst. Nach dem Studium 1968 Promotion an der Universität München, anschließend bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte. Von 1990 bis 2011 Professor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin.

1992 erhielt er den Geschwister Scholl-Preis. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft sowie Autor zahlreicher Veröffentlichungen, darunter einiger Standardwerke zur Geschichte des Nationalsozialismus, des Holocaust und des Widerstands. Benz gilt als einer der renommiertesten Zeithistoriker Deutschlands.
  



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