Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 147

Juli 2011

Die Formulierung des Vortragstitels scheint - zumindest im Blick auf den christlich-jüdischen Dialog - buchstäblich in Frage zu stellen, was uns eigentlich schon zur unausgesprochenen Selbstverständlichkeit geworden ist: "Sind Christen bereit für den Dialog mit Juden und Muslimen?" Bereit für den "Dialog mit Juden"? Wird dieser nicht seit Jahrzehnten bereits geführt? Auf kirchlicher und theologischer Ebene, in beinahe unzähligen Gesprächskreisen und Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit? Was soll diese Frage? Und was hat sie mit "Hören lernen", der ersten Hälfte des Vortragstitels, zu tun? Und inwiefern tangiert die Bereitschaft für einen Dialog mit Juden diejenige eines Dialogs mit Muslimen?

Markus Heitkämper, Theologe, Pfarrer und evangelischer Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Essen, hinterfragt vor dem Hintergrund des diesjährigen Jahresthemas der über 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit - "Aufeinander hören - Miteinander leben" - eine Reihe von Annahmen und Voraussetzungen des christlich-jüdischen Gesprächs, die so selbstverständlich geworden sind, dass viele schon meinen, den Dialog mit den Juden wie eine erledigte Hausaufgabe ad acta legen zu können..., um sich der eigentlichen Herausforderung unserer Zeit zu widmen: dem Dialog mit den Muslimen. Mit klarem Blick legt er dabei einige der virulentesten und brisantesten Aspekte im Gespräch von Christen mit Juden offen, kritisiert aktuelle Tendenzen zur Marginalisierung des christlich-jüdischen Dialogs und arbeitet die schmerzlichen Schwachstellen einer mittlerweile zu oft als Erfolgsgeschichte verharmlosten Begegnung zwischen Juden und Christen heraus. Indem er dergestalt ein aktuelles Profil des christlich-jüdischen Dialogs erstellt, vermag er in einem nächsten Schritt sehr präzise eine Reihe von grundsätzlichen Aspekten zu benennen, die im Blick auf einen Dialog mit den Muslimen von elementarer Bedeutung sind.

Heitkämper trug seine nachstehenden Überlegungen anlässlich der lokalen Eröffnung der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit am 14. März 2011 in der "Alten Synagoge Essen - Haus jüdischer Kultur" vor. COMPASS präsentiert Ihnen diesen Vortrag nachfolgend als ONLINE-EXTRA Nr. 147 im Wortlaut: "Hören lernen - Sind Christen bereit für den Dialog mit Juden und Muslimen?"


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

© 2011 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 147


Hören lernen - Sind Christen bereit für den Dialog mit Juden und Muslimen?

MARKUS HEITKÄMPER


Sehr geehrte Damen und Herren,

die Antwort auf den von mir gewählten Vortragstitel scheint auf den ersten Blick klar und einfach zu sein: Ja, Christen sind bereit zum Dialog!

Die Beobachtung, dass ich als Frage formuliere, was für viele Zeitgenossen  doch längst gegeben ist – zumindest im Blick auf die Frage eines christlich-jüdischen Gesprächs - mag darum irritieren.

Es dürfte sich zwar mittlerweile herumgesprochen haben, dass die in der aktuellen Integrationsdebatte schon wieder so populäre Formel einer ‚christlich-jüdischen Leitkultur’ hinsichtlich des tatsächlichen deutsch-jüdischen Verhältnisses auch vor 1933 nur als Illusion zu bewerten ist. Ich verweise in diesem Zusammenhang nachdrücklich auf die Rede Salomon Korns anlässlich der Eröffnung des Neubaus der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg aus dem Jahre 2009 und auf den auch noch heute packenden Offenen Brief Gerschom Scholems aus dem Jahre 1962: „Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch“.

Was jedoch das gegenwärtige christlich-jüdische Verhältnis angeht, so gehen wir in der Regel davon aus, dass sich heute, über 6 ½ Jahrzehnte nach dem Krieg, im Verhältnis der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft  zum Judentum doch Gewaltiges getan habe und es längst ein Hören auf das, was Juden sagen, gebe - dass also alles eigentlich in bester Ordnung sei.  

Und tatsächlich: Angesichts der Hochachtung und jede Unterstützung verdienenden Arbeit etwa von „Nes Ammim“ oder „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ fällt die Antwort für mich klar aus: Ja, da gab und gibt es Bereitschaft zur Übernahme von Schuld und Verantwortung, praktische Solidarität mit dem jüdischen Staat Israel, Bereitschaft zu innerchristlich-theologischen Revisionen. -

Da gibt es die über 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland. Seit 1952 veranstalten sie im März eines jeden Jahres die Woche der Brüderlichkeit und verleihen seit 1968 in Erinnerung an die jüdischen Philosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig die Buber-Rosenzweig-Medaille an Personen, Institutionen oder Initiativen, die sich in besonderer Weise um die Verständigung zwischen Christen und Juden verdient gemacht haben – im Jahre 2002 u.a. eben auch an Frau Dr. Brocke.
Und so könnte ich noch lange fortfahren - vom Gesprächskreis „Christen und Juden“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, über die „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“  beim Deutschen Evangelischen Kirchentag bis hin zu den epochalen Synodalbeschlüssen etwa der rheinischen und westfälischen Landeskirche, die sogar Eingang in die jeweiligen Kirchenordnungen gefunden haben.

Da gibt es namhafte Einzelpersönlichkeiten. Lassen Sie mich an dieser Stelle nur den Namen des katholischen Alttestamentlers Erich Zenger nennen, der im April vergangenen Jahres im Alter von 70 Jahren viel zu früh verstarb. Noch im März 2009 wurde ihm die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen. Zenger war auch Herausgeber der Kommentarreihe „Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament“ – ein großartiges, noch nicht abgeschlossenes Werk, an dem jüdische, katholische und evangelische Autorinnen und Autoren gleichberechtigt beteiligt sind. In jedem Einzelkommentar wird die jüdische Auslegung in Geschichte und Gegenwart mitgehört, es wird Ernst gemacht mit der Tatsache, dass das sogenannte Alte Testament die Heilige Schrift Israels war und auch nach der Entstehung des Christentums die Heilige Schrift Israels bleibt. – Alle Achtung!

Und, um einen letzten eindrucksvollen Fall zu nennen: der 45jährige Prof. Dr. Alfred Bodenheimer ist seit dem 1. August 2010 Dekan der Ev.-theol. Fakultät der Universität Basel. Das Besondere: Bodenheimer ist Jude, und damit hat Basel als erste theologische Fakultät in Europa einen jüdischen Dekan. Phänomenal! Dass so etwas überhaupt möglich ist, zeigt, dass christliche Identitäten sich durchaus verändern können.

Angesichts dieser nur wenigen Beispiele muss gesagt werden: ja, da gab es und gibt es christlicherseits wirkliches „Hören lernen“  - entsprungen aus der, wenn auch furchtbar späten Einsicht in den ungekündigten Bund Gottes mit seinem Volk Israel, mit der Folge fundamentaler theologischer Umkehr, insbesondere einer bewussten und vollständigen Abkehr von Judenmission als einer das Erwählungshandeln Gottes verdunkelnden Irrlehre.

Und wie gern würde ich nun die optimistische Prognose wagen:
Auf diesem aufsteigenden Wege wird es beständig weitergehen! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die hier angestoßenen Prozesse auf weite Bereiche von Kirche, Theologie und Frömmigkeit ausstrahlen werden. Es braucht eben alles seine Zeit, und dafür müssen wir angesichts einer fast 2000 Jahre so komplett anders verlaufenen Geschichte auch Verständnis und Geduld aufbringen.

Christen seien eben in vielen Fällen noch nicht so weit und man dürfe sie in diesem „sensiblen Bereich“ auch nicht überfordern, aber das komme schon noch.

Sie vermuten zu Recht, dass ich hier ein großes Fragezeichen setze.




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Eine solche Diskussion ist auf Geduld, Offenheit und mutige Selbstbefragung angelegt. Hierzu laden wir ein!

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Dabei streife ich diejenigen Kräfte in den Kirchen, denen die christlichen Hörbemühungen der vergangenen 5 Jahrzehnte immer schon zu weit gingen, nur am Rande. Den alten und neuen Ewiggestrigen nämlich möchte ich nicht auch noch heute Abend  eine Plattform bieten.  Allerdings wundere ich mich doch, dass es über sie keinen Aufschrei mehr in den Kirchen gibt. Erschreckt es die Christen –die sich durch die Jesusüberlieferung doch dem Gott Israels verpflichtet wissen- denn eigentlich nicht, dass unter ihnen Gruppierungen und ja: Mentalitäten existieren, die versteckt oder offen judenfeindlich sind? Es sollte sie bis ins Mark erschüttern und nicht mehr ruhig schlafen lassen! Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen (D. Bonhoeffer).

Für jedoch weitaus bedenklicher, weil auf den kirchlichen Mainstream zielend, halte ich es, dass nach meinem Eindruck das Anliegen einer spezifisch christlich-jüdischen Zusammenarbeit oder gar eines Dialogs in kirchlichen Kreisen mittlerweile immer stärker als etwas Abständiges, irgendwie Überholtes oder auch schlicht Langweiliges wahrgenommen wird. In denkwürdigem Kontrast zu dem theologischen Feuer der vorhin genannten Initiativen und Persönlichkeiten begegnet hier eine Haltung, die signalisiert: ‚Wir haben doch genug gelernt! Ist nicht schon längst alles gesagt?’ Vielleicht sogar ein: ‚Wir können es nicht mehr hören!’

Entpuppt sich am Ende also auch die ‚Theologie nach Ausschwitz’ nur als eine der vielen, sich stetig ablösenden Zeitgeisttheologien? Reichte das Erschrecken über die christliche Schuld an der Schoa und die Erschütterung hierüber nur für eine oder zwei Generationen aus?

Immer stärker gewinne ich den Eindruck, dass es in den Kirchen bisher überhaupt noch nicht gelungen ist, die Einsicht zu vermitteln, dass es bei der Frage unserer Verhältnisbestimmung zum Judentum und zu Israel nicht um irgendeine Spezialfrage geht, mit der man sich als Christ befassen kann oder eben auch nicht, sondern um den Kern christlicher Identität.

Die Annahme, dass Christen im Blick auf ihre In-Beziehung-Setzung zum Judentum einmal „ausgelernt“ haben könnten, ist ja auch in gleich doppelter Hinsicht illusionär:
Zum einen ist die Kirche als eine Kirche aus der Völkerwelt von ihrer Gründungsurkunde, dem Neuen Testament, als einer in großen Teilen jüdischen Schriftensammlung permanent herausgefordert.  Das Neue Testament ist zum großen Teil Zeugnis eines lebendigen innerjüdischen Dialogs aus der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts. Eine dramatische Zuspitzung erhielt dieser Dialog durch die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 durch das römische Imperium und ihre Folgen sowohl für die überlebende Judenheit als auch für die Gemeinschaft der an Jesus als den Messias Glaubenden. Ohne die Ereignisse des Jahres 70 hätten die Beziehungen zwischen der jüdischen Mehrheit und der an Jesus als den Messias glaubenden jüdischen Minderheit wahrscheinlich einen ganz anderen Verlauf genommen.

Durch die Kanonisierung der Texte wurde nun diese lebendige und durchaus auch sehr polemisch geführte Auseinandersetzung sozusagen eingefroren. Von nachgeborenen nichtjüdischen Menschen unreflektiert gelesen, war und ist das Neue Testament quasi automatisch Quelle schlimmer judenfeindlicher Deutungen. Jede christliche Generation muss daher betrebt sein, die mit der Kanonisierung erfolgte Fixierung des ursprünlichen Dialogs aufzubrechen und für das Gespräch mit Juden heute je neu fruchtbar zu machen. Sonst besteht –auch in zukünftigen christlichen Generationen- die Gefahr judenfeindlicher Schriftauslegung, etwa im Blick auf Aussagen des Matthäus- und des Johannesevangeliums, mit unabsehbaren Folgen.

Der andere Grund hat mit dem Wesen eines jeden Dialogs zu tun.
So bemerkt Gerschom Scholem in dem bereits erwähnten Offenen Brief „Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch“: „Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern.“
Und nach Hans Georg Gadamer setzt ein Gespräch voraus, dass der andere Recht haben könnte.

Wenn das die Grundeinsicht ist, die zum Dialog der Religionen nötig ist, dann kann es für den Christen –und nur für diesen kann ich sprechen- nicht bloß darum gehen, dem jüdischen Gesprächspartner einmal zuzuhören, um sich dann wieder dem Eigenen zuzuwenden: nun zwar wissensbereichert, aber im Grunde unbeeindruckt und ohne Anfrage an die eigene christliche Identität: Man weiß dann gewiss so manches über jüdische Festbräuche oder Speisevorschriften zu erzählen und kennt den einen oder anderen hebräischen Ausdruck. Man weiß dann wohl auch um die gänzliche Jüdischkeit der Gestalt Jesu- aber selbst dieses religionshistorische Wissen hat etwas irgendwie folkloristisches; die bedrängende Frage, mit welchem Recht man sich als Nichtjude dann eigentlich noch auf die Person Jesu und überhaupt auf die jüdischen Glaubensurkunden beziehen kann, lässt man gar nicht an sich heran.  

Aber Dialog meint ja mehr. Die Doppelbedeutung des 1. Teils des Jahresthemas weist uns in die richtige Richtung: ‚Aufeinander hören’ .
Das bedeutet ja nicht nur: ‚Ich höre dir zu’, sondern darüber hinaus: ‚Ich höre auf dich; es ist auch für meine Existenz wesentlich, was du zu sagen hast’. Ja, sogar dies: ‚Ich lasse mich von dir in Frage stellen, weil ich auch dir die Wahrheitsfähigkeit zuspreche’.
Das wäre wirkliches Lernen, ein zu keinem Zeitpunkt abgeschlossener Prozess.
Werden Christen aber dazu einmal ‚bereit’ sein, in der Lage sein?

Gewiss gibt es auch in dieser Tiefendimension bereits ein christlich-theologisches Lernen. Es gibt – um nur ein Beispiel zu nennen - Versuche, von Jesus so zu reden, dass es in jüdischen (aber auch muslimischen) Ohren nicht mehr gotteslästerlich klingt: dass der Sinn und Zweck des christologischen Bekenntnisses nur sein kann, hinzuführen zum Lobe Gottes, dem Gott Israels und der ganzen Welt; dass Jesus kein zweiter Gott, sondern ein Weg der Menschen aus den Weltvölkern zu dem einzigen Gott ist; und dass der einzige Gott auch im Christentum die selbstverständliche Mitte ist.
Aber welch marginale Bedeutung haben solche Bestrebungen, gemessen an den in allen Konfessionen hier weithin, noch oder auch wieder,  vorherrschenden Mentalitäten!

Die Frage ist für mich eine wirkliche und offene Frage, ob es den Kirchen einmal gelingen wird, sich als eine Größe zu verstehen, die an der Seite Israels steht: Eine Kirche, die auch auf das hört, was (von Gott) zu Israel gesagt ist und was (als Ant-wort auf Gottes Wort) in Israel gesagt ist. Eine Kirche, die sich ihrer unablässigen Zuordnung zu Israel bewusst wird und diese ihre Identität in allen ihren Lebensäußerungen zur Geltung bringt.



Der kommende Schabbat ist der Schabbat vor Purim. An Purim wird das Durchkreuzen des Plans von Haman gefeiert. Haman, der höchste Regierungsbeamte des persischen Königs, wollte alle Juden im Perserreich an einem Tag ausrotten. Haman ist ein Nachkomme Amaleks. Darum wird in dieser Woche am Schabat der reguläre Wochenabschnitt durch die Sachor-Lesung ergänzt. In dieser Lesung aus dem 5. Mosebuch, Kap. 25, wird den Israeliten befohlen, dem Bösen Amaleks zu gedenken (hebr. sachor) und ihm in dieser Welt aktiv entgegenzutreten. Amalek griff in der Zeit der Wüstenwanderung das Volk Israel an und tötete aus lauter Mordlust die Nachzügler, die Schwachen, wohl auch die Frauen und Kinder. Diesen historischen Amalek gibt es natürlich schon lange nicht mehr. Aber er wird von Juden in der jüdischen Geschichte wiedererkannt. Nicht allzu häufig –Ägypten etwa und Babylonien gelten meines Wissens nicht als Amalek. Doch zwei Mächte in der bisherigen Geschichte werden so bezeichnet: das römische Imperium und, sehr viel später, Nazideutschland.

Prof. Klaus Wengst hat darum den Text aus 5 Mose 25 im Blick auf seine auch für uns als Deutsche und Christen bestürzende Aktualität folgenderweise leicht umformuliert:
„Erinnere dich daran, was Nazideutschland dir getan hat, als ihr in der Zerstreuung lebtet in Europa: Dass es alle Länder nach euch durchkämmte, euch erschlug, erschoss, erhängte, vergaste und verbrannte,  Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge, Kranke und Gesunde – und ihr wart schwach und wehrlos-; und es fürchtete Gott nicht. Es soll sein: Wenn der Ewige, dein Gott, dir Ruhe verschafft hat vor allen deinen Feinden ringsum im Land, das der Ewige, dein Gott, dir zum Eigentum gibt, es zu erben, dann sollst du die Erinnerung an Nazideutschland auslöschen unter dem Himmel! Nicht sollst du vergessen!“

Der Schreck, der auch noch heutige Christen beim Hören dieses Bibeltextes überfällt, war für diejenigen, die sich nach dem Krieg, sei es bei Aktion Sühnezeichen, sei es bei Nes Ammim engagierten, lebensprägend. Sie waren erfüllt von der Überzeugung: Nie mehr wollen wir Amalek sein, nie wieder Täter!

Und auch wir, die Kinder und Enkel des Amalek des 20. Jahrhunderts, wollen gewiss nie wieder dahin zurückfallen, nie wieder zu Tätern eines Menschheitsverbrechens werden.

Was wir als Christen auf keinen Fall mehr sein wollen, ist also klar.
Aber noch einmal sei gefragt: wozu werden wir uns positiv entwickeln?

Ein biblisches Leitbild könnte uns hier Jithro, der Schwiegervater des Mose, werden: Jithro, ein Nichtisraelit wie wir Christen, von dem die Bibel aber ausdrücklich erzählt, dass er sich zum Gott Israels hingewendet habe, und zwar „aus Freude über all das Gute, dass der Ewige an Israel getan hatte“ (2 Mose 18, 9).

Das Spannende ist: auch mit und nach dem Lobpreis des Gottes Israels bleibt Jithro ein Nichtisraelit, ein Goj. Er gibt seine Identität als midianitischer Priester nicht auf. Und doch bekommt er Anteil am Gottes-Verhältnis Israels.  So könnte man vielleicht sagen: Christen gelangen aus Freude über das, was der Ewige gemäß ihrer Glaubenstradition an Jesus getan hat, zum Gott Israels, ohne selbst jüdisch zu werden.

Aber: mit diesen Andeutungen – und um mehr kann es hier nicht gehen - greife ich, wie mir scheint, weit voraus. Für ein echtes Gespräch mit der Judenheit stehen die innerchristlichen Klärungsprozesse noch weitgehend aus: Wer sind wir als Kirche angesichts des fortbestehenden Judentums? Wie definieren wir uns so, dass es jüdische Existenz nicht mehr beschädigt?



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Wenn es sich aber so verhält, dass Christen eigentlich noch nicht „bereit“ sind für den biblisch-ökumenischen Dialog mit dem Judentum – wie können sie dann schon in das interreligiöse Gespräch mit dem Islam treten? Machen sie den zweiten Schritt nicht vor dem ersten?

Wie kann verhindert werden, dass in einem solchen christlich-muslimischen Dialog oder auch christlich-jüdisch-muslimischen sog. Trialog die durch nichts zu ersetzende und mit nichts gleichzusetzende Bedeutung, die das Judentum für den Christen hat, verblasst?

Steht der Christ unversehens nicht schon wieder in Gefahr, die Juden, seine „Zivilationsgefährten von Anfang an“ (E.W. Stegemann), zu überhören, bevor er überhaupt richtig gelernt hat, hinzuhören?

Damit ist für mich die große Problematik bezeichnet, die in dem scheinbar so harmlosen Wörtchen „und“ beschlossen liegt: „Sind Christen bereit für den Dialog mit Juden und Muslimen?“

Der Frage nach den Bedingungen eines Dialogs mit dem Islam kann ich jetzt nur noch in aller gebotenen Kürze nachgehen - wobei ich die Frage nach der grundsätzlichen theologischen Möglichkeit eines solchen Dialogs nicht eigens erörtere, sondern gleichsam als Arbeitshypothese voraussetze. 

Folgende Hinweise halte ich aber für unerlässlich, hat doch immerhin der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland in diesem Jahr erstmals die Buber-Rosenzweig-Medaille an einen muslimischen Gelehrten verliehen, an den Orientalisten und Publizisten Navid Kermani:

1.) Es kann für Christen im Blick auf ihre Positionierung zu Judentum und Islam keine Äquidistanz geben. Ebensowenig ist christlicherseits eine Parallelisierung der Dialoge christlich-jüdisch und christlich-islamisch denkbar. Die Frage der Beziehung der Kirche zum Judentum, so soll schon Karl Barth gesagt haben, ist für Christen die „große ökumenische Frage“, denn das Verhältnis des Christentums zum Judentum ist theologisch und geschichtlich einzigartig. Das Gespräch mit dem Islam liegt kategorial auf einer anderen Ebene, es handelt sich um ein interreligiöses Gespräch.  Leider wird diese fundamentale Unterschiedenheit des christlich-jüdischen vom christlich-islamischen Gespräch innerkirchlich oftmals nicht, noch nicht oder nicht mehr, beachtet.

2.) Die biblisch-theologisch begründete besondere Solidarität der Christenheit mit dem Judentum hat stets politische Relevanz. Es wäre bestenfalls naiv zu glauben –und auch wieder typisch für die verzerrende Wahrnahme des Judentums als einer bloßen Glaubensgemeinschaft- den Dialog mit dem Judentum auf einen religiös-theologischen Diskurs im engeren Sinne beschränken zu können.

Dem muslimischen Gesprächspartner muss bewusst sein, dass der Christ gegenüber dem jüdischen Volk im Modus der besonderen Solidarität lebt, und zwar um seines Christseins willen. Denn diese seine grundsätzliche Parteilichkeit hat weder etwas zu tun mit einem verkrampften deutschen Schuldbewusstsein, noch mit einem schwärmerischen Philosemitismus, und ebenso wenig mit einer verhohlenen Islamophobie. Seine besondere Solidarität mit Israel ist schlicht Ausfluss der ihm vom biblischen Zeugnis vorgegebenen Identität.

Wenn also in einem christlich-muslimischen Dialog der christliche Gesprächspartner erkennen muss, dass etwa die Frage des selbstverständlichen Existenzrechts des jüdischen Staates Israel auch nur in der Schwebe gelassen wird, so kann er nach meiner Überzeugung das Gespräch nicht ernsthaft weiterführen. Hier kann es christlicherseits keine Neutralität geben, geschweige denn irgendwelche Formen klammheimlicher Sympathie mit denen, die versteckt oder offen heraus den Staat Israel dämonisieren und delegitimieren.

Gewiss, ich spreche hier nicht von dem Islam. Islam bedeutet, woran schon Lessing in seiner Ringparabel erinnert, „innigste Ergebenheit in Gott“, Frieden. Es ist mir wichtig, dies zu betonen – nicht aus Gründen politischer Korrektheit, sondern aus tiefer Wertschätzung muslimischer Existenz. Ich vergesse dabei auch nicht, dass ich eigentlich genug damit zu tun hätte, mich mit der Gewaltverstrickung meiner Religion zu befassen.

Andererseits aber darf die Erkenntnis der Gewaltgeschichte der eigenen religiösen Tradition keinesfalls zu einer Selbstlähmung in der Wahrnehmung der gegenwärtigen realen Bedrohungen führen!  
Und wer wollte ernsthaft bestreiten, dass es eben auch islamistischen Antisemitismus gab und gibt?!

Und so frage ich als Christ, wie eine Evangelische Akademie im Sommer 2010 gemeinsam mit der Pax Christi Nahostkommission eine Tagung mit dem Titel „Partner für den Frieden – Mit Hamas und Fatah reden“ planen konnte, zu der auch der „Gesundheitsminister“ der Hamas im Gazastreifen eingeladen werden sollte. Was ist da bloß innerchristlich „gelernt“ worden, so dass man es für möglich hält, mit Vertretern einer Organisation über den „Frieden“ zu reden, die nicht nur vom deutschen Verfassungschutz beobachtet und laut Europäischer Union als Terrororganisation eingestuft wird, sondern eben auch das Existenzrecht Israels nicht anerkennt, ja mehr noch: die laut eigener Charta auf die Vernichtung Israels abzielt und sich hierbei positiv auf die antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“ bezieht?! 



Ich komme zum Schluss:

Angeregt durch prophetische Texte von der Völkerwallfahrt zum Zion (Jesaja 2; Micha 4) bewegt mich dieses Hoffnungsbild:
Christen und Muslime gelangen auf ihren je eigenen Wegen – die einen durch die Jesusoffenbarung, die anderen durch die Herabsendung des Koran - zu dem einzigen Gott. Sie verstehen sich als Hinzugekommene und freuen sich mit Israel, weil sie erkennen: Israel ist Gottes auserwähltes Eigentumsvolk, wir aber sind seine nicht weniger geliebten Völker. Sie lassen ab vom Wahn, sich absolut zu setzen; sie nehmen vielmehr wahr, dass der andere nicht weniger einzigartig ist wie man selbst.  Eine solche gegenseitige Anerkenntnis der je eigenen Einzigartigkeit und Partikularität wäre friedensstiftend.

Angesichts islamistischer Gewalt, unter der heute nicht mehr nur Juden, sondern zunehmend auch Christen und nicht zuletzt Muslime bitter zu leiden haben, ist jene Vision nicht von dieser Welt.  Als Utopie aber kritisiert sie die vorfindliche Wirklichkeit und kann für die Mutigen und Weisen unter Christen wie unter  Muslimen zur Richtschnur ihres Handelns werden.

Beide müssen schrecklich achtgeben, dass in unserem Jahrhundert kein neuer Amalek ersteht. Der Antisemitismus gegenüber der Judenheit in Europa und weltweit wie auch die Vernichtungsdrohungen gegenüber dem Staat Israel sind ja keine Halluzinationen, sondern sie sind sehr real – in unseren Tagen vielleicht sogar realer als noch vor wenigen Wochen.



Der Autor

MARKUS HEITKÄMPER


 
Jhg. 1960; Studium der ev. Theologie in Bochum und Bonn; 1991 -1999 als Pastor im Bereich der Krankenhausseelsorge und als Dozent in einem Seminar für Altenpflege tätig; seit 1999 Gemeindepfarrer in der ev. Kirchengemeinde Essen-Kupferdreh; Erteilung von ev. Religionsunterricht an einem Essener Gymnasium; seit einigen Jahren ev. Vorsitzender der Essener GCJZ; verheiratet und 2 Kinder. 


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Betreff: Heitkämper
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