Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 148

September 2011

"Vom Nationalgott Jahwe zum Herrn der Welt und aller Völker" lautet die Überschrift eines Beitrags, der in der Augustausgabe des "Deutschen Pfarrerblatt" erschienen ist. Sein Autor, der pensionierte Pfarrer Jochen Vollmer, vertritt darin die Auffassung, dass es vornehmlich das religiöse Selbstverständnis des Staates Israel sei, das einem Frieden im Nahen Osten im Wege stehe. "Die Landnahme ist das oberste Ziel israelischer Politik.", heißt es in dem Beitrag, der seine hochpolitischen Thesen mit zumindest fragwürdigen theologischen und historischen Argumenten zu belegen sucht. (Der Link zum Originaltitel weiter unten in der Info-Box).

Infrage stellt der Theologe Vollmer dabei auch einen Markstein der theologischen Revision in der evangelischen Kirche nach und im Angesicht von Auschwitz, nämlich den Beschluss der rheinischen Synode, der in jeder Hinsicht einen Durchbruch für die Neubestimmung des Verhältnisses von Christen und Juden markierte. In der rheinischen Erklärung von 1980 heißt es: "Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, daß die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist." 

Ende August führte der Beitrag nun - angestoßen von einer Pressemitteilung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR) - zu einer heftigen Debatte.  Der DKR veurteilte den Beitrag als "juden- und israelfeindlich". Der Aufsatz plädiere mit "vorgeblich christlich-theologischen Argumenten" für eine Absage an die theologisch begründete Solidarität mit Israel. Mehr noch, Vollmer bezweifle gar die Rechtmäßigkeit der Gründung Israels und erhebe den Vorwurf, Israel habe vor der Staatsgründung palästinensisches Land "geraubt".

COMPASS dokumentiert und ergänzt die laufende Debatte mit dem vorliegenden ONLINE-EXTRA Nr. 148: Zum einen können Sie zwei Originalbeiträge lesen, die sich mit den Thesen Vollmers auseinandersetzen. Sowohl Wolf-Rüdiger Schmidt, ehemals Redaktionsleiter beim ZDF im Bereich Kultur und Wissenschaft, wie auch Friedhelm Pieper, ehemals Generalsekretär des Internationalen Rates der Christen und Juden, warten mit einer Reihe theologischer und historischer Einwände und Argumente auf, die Vollmers Argumentation und Position infrage stellen. Zum anderen finden Sie in der Info-Box in der Mitte dieser Seite sowohl den Link zum Volltext des Vollmer-Beitrags sowie Links zu weiteren Publikationen und Artikeln, die sich an der Debatte bislang beteiligt oder über sie berichtet haben.



COMPASS dankt insbesondere den beiden Autoren für die Genehmigung zur Wiedergabe ihrer Texte an dieser Stelle!


© 2011 Copyright bei den Autoren 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 148


Auch Antizionismus ist keine Perspektive

Die Israelkritik im "Deutschen Pfarrerblatt"


WOLF-RÜDIGER SCHMIDT

Im Blick auf die Lage Israels im Jahr 2011 häufen sich die Probleme und offenen Fragen: Die Unberechenbarkeiten der arabischen Revolution, unerwartetete soziale Proteste aus der Mitte der israelischen Bürgerschaft, nicht nachlassende Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf grenznahe Siedlungen, eine zweite neue Front im Norden, die Möglichkeit der Anerkennung eines palästinensischen Staates …  Manches sieht geradezu unlösbar aus. Und zusätzlich scheinen weltweit Verständnis und Sympathie für das Land am östlichen Mittelmeer zu schwinden. Das macht vielen große Sorgen. Wie lange, so fragen sich die Freunde und Kenner dieses Staates und seiner Menschen, hat die israelische Gesellschaft noch die Kraft, immer wieder neu auf seine Gegner zuzugehen? Und wie erfolgreich können vorrangig militärische Mittel gegen eine dauerhafte terroristische Bedrohung sein, ohne mit großer Energie auch nach neuen Wegen der Verhandlung mit einem feindlichen Gegenüber zu suchen, aus dessen Reihen  viele noch immer der Illusion folgen, den über 60 Jahre zurückliegenden Beschluss der Völkergemeinschaft zur Gründung eines jüdischen Staates wieder rückgängig machen zu können?

Insofern ist im breiten aktuellen Spektrum zwischen sorgenvollen Fragen und massiver Israelkritik der Text aus dem Pfarrhaus (so die FAZ) ein Beitrag unter vielen. Was ihn allerdings heraushebt, ist die entschieden durchgezogene erkennbar antizionistische Härte aus deutsch-theologischer Feder nach dem Motto : „Zionisten haben palästinensisches Land in Besitz genommen und geraubt mit dem Ziel, einen jüdischen Staat zu errichten“. Und das steht dann nicht irgendwo, sondern in einem ansonsten sehr renommierten Organ des Protestantismus, nämlich in dem in Pfarrerkreisen gern gelesenen „Deutschen Pfarrerblatt“.

Nun könnte man sagen: Der Text hat etwas sehr Aufschlussreiches. Er zeigt, wo wir nach 40 Jahren christlich-jüdischer Zusammenarbeit stehen, nach den Bemühungen um ein neues theologisches Verständnis des Judentums und seiner Geschichte angesichts eines fast 2000-jährigen christlichen Antijudaismus, nach zahllosen freundschaftlichen Begegnungen der letzten Jahrzehnte mit sehr konkreten und liebenswerten Menschen in Israel. Tatsächlich aber wird deutlich, was manche Predigt jenseits des Kreises der Kundigen ohnehin verrät: Was Israel und das Judentum betrifft stehen die christlichen Kirchen offensichtlich doch erst ganz am Anfang eines Umdenkens. Vieles ist an vielen vorbei gegangen, wie der Beitrag im Pfarrerblatt zeigt. Und vieles stellt sich eben aus unterschiedlicher Perspektive völlig unterschiedlich dar, auch wenn es in sehr rationalem Gewand daher zu kommen scheint.

So sind in Pfarrer Vollmers Beitrag aus meiner Sicht die vermeintlichen Fakten über die Vorgeschichte der Entstehung des Staates Israel („…geraubt…“) dünn und – ja, ich muss es sagen – infam einseitig gesetzt. Sie übergehen sträflich und eilig den langen Vorlauf der Probleme, auch wenn manches rückzugsbereit gegen den potentiellen Vorwurf des Antisemitismus oder gar Antijudaismus gut abgesichert erscheint . Und ebenso eilig wird an den klaren völkerrechtlichen Entscheidungen, die dem Staat Israel seine Existenzberechtigung geben, vorbei gehuscht. Das passt halt nicht in die Perspektive. Aber hat der Autor nicht zumindest so einschlägige Werke zur Geschichte des Zionismus wie etwa die von Michael Brenner (bei Beck) oder Michael Krupp (Gütersloh) zur Kenntnis genommen? Aus Dieter Viehwegers Buch allein über den „Streit um das Heilige Land“ zu zitieren reicht halt nicht. Vollmer hätte dann wenigstens erwähnen müssen, dass die Bewegung von europäischen Juden, die sich seit 1890 als „Zionismus“ bezeichnete, eine verzweifelte Rettungsbewegung nach elementaren Enttäuschungen im europäischen Judentum war. Nach allen verheißungsvollen Versprechungen im Gefolge der Französischen Revolution von bürgerlichen Freiheitsrechten, die den Juden bis ins 19.Jahrhundert verweigert wurden, entstand zum Beispiel auch bei Turnvater Jahn, danach bei Richard Wagner und vielen anderen deutschen Größen ein neuer rassistischer Antisemitismus, der sich parallel auch in ganz Europa wieder nach vorne traute. Besonders intensiv flammte das „Die Juden sind unser Unglück“ bekanntlich unter den Gebildeten in Deutschland und Österreich auf und hallte bis in jede Ausgabe des „Völkischen Beobachters“ mit schrecklichen Konsequenzen nach. Gegen Vollmer will ich damit darauf hinweisen, dass Zionismus ein Prozess der Selbstemanzipation war und primär gerade nicht allein die Rückkehr zur alten jüdischen Religion, wie man in den Schriften Herzls nachlesen kann. Zionismus war der verzweifelte Ausweg aus einer offensichtlich unheilbaren, ja schrecklichen Krankheit des christlich-abendländischen Denkens und Handelns.

Der Autor des Pfarrerblattes hätte zusätzlich dann auch beachten müssen, dass es weder im 19. noch im frühen 20. Jahrhundert so etwas wie einen palästinensischen Staat gab, dem territorial etwas weggenommen, „geraubt“ werden konnte. Vielmehr wurde das Land  am östlichen Mittelmeer über Jahrhunderte osmanisch von Istanbul aus beherrscht . Dabei wurde es gänzlich herunter gewirtschaftet und war sehr oft Eigentum von Großgrundbesitzern, die in Paris nicht schlecht lebten. Sie ließen es zu, dass zwischen Haifa und Jaffa große Sumpf- und Seuchengebiete entstanden. Schon in den Jahrhunderten zuvor hatten sich immer wieder jüdische Menschen um das Land, in dem stets Juden neben Arabern und Beduinen seit der Zerstörung des Tempels im Jahr 71 lebten, um große Flächen „im Land der Väter“ bemüht, so zum Beispiel auch die im osmanischen Reich einflussreiche Dona Gracia Mendes. Im 19. Jahrhundert kauften schließlich zahlreiche jüdische Initiativen mit riesigen Geldsummen , u.a. mit siebzig Millionen französischen Goldfranken von Baron Edmund Rothschild und später Geldern des Jüdischen Nationalfonds, große Teile der verlorenen, verseuchten und versalzenen Landflächen zurück und rekultivierten sie unter dem Verlust vieler Pioniere. Das ist die Vorstufe des heute blühenden Israel! Pfarrer Vollmer, wenn vertraut mit der Vorgeschichte des Zionismus, wird es wissen, aber auch das passt nicht in seine Perspektive und bleibt unerwähnt.

Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Die Araber haben kein größeres historisches Recht auf das Land als die Juden. Das wussten dann auch die Vertreter der damaligen Weltpolitik nach dem Ende des osmanischen Reiches, als sie 1917 in Folge der Neuordnung einer völlig zusammen gebrochenen Großregion den Juden das „Recht auf eine Heimstätte in Palästina“ in der Balfour-Deklaration zusprachen, noch einmal ausdrücklich bestätigt in der Konferenz von San Remo 1920. Beide, Juden und Araber sollten ein Existenzrecht haben , das war die Vorstellung! Vollmer erwähnt es. Aber schließlich war es nicht irgendeine der vielen beiläufigen Deklarationen der damaligen Zeit, wie es bei Vollmer anklingt, die 1947/48 die Gründung eines Staates rechtfertigen sollte, sondern in vollem Sinn eine völkerrechtliche, hoch dramatisch diskutierte Entscheidung, getragen über alle damals bestehenden weltpolitischen Grenzen und Interessen hinweg. Der Beitrag im Pfarrerblatt lässt sich für Unkundige zumindest so lesen, als sei der Staat Israel quasi die Willkürgründung eines raubgierigen ideologischen Zionismus, „… der der eingesessenen Bevölkerung das Land nimmt …“. Darf das ein gebildeter deutscher Theologe wirklich so sagen und vertreten?

Nicht das Geringste scheint Pfarrer Vollmer außerdem von dem wissen zu wollen, was alle an Israel wirklich Interessierten seit Jahrzehnten hautnah oft selbst erfahren oder von ihren befreundeten Familien hören: Die dauerhafte alltägliche tödliche Bedrohung; das völlige Fehlen eines einheitlichen Ansprechpartners zur Verhandlung über die Gründung eines palästinensischen Staates, was in der Tat dringend geboten zu sein scheint; die Missachtung endlich jeden israelischen Entgegenkommens durch die Palästinenser, etwa im Gazastreifen oder auf dem Golan. Die Antwort auf Israels Vortasten war und ist immer Gewalt, verbunden mit der illusionären Hoffnung, die Juden ins Meer zu treiben. Ja, es war tatsächlich eine brutal quer durchs Land gezogene Mauer, die als ultima ratio die meisten palästinensischen Selbstmordattentäter während der letzten Jahre an ihren schrecklichen Taten hinderte.

Was die Theologie betrifft, hat Pfarrer Vollmer aus einer bestimmten Sicht fraglos recht, wenn er auf die universalistische Ausrichtung des hebräischen Glaubens spätestens nach jener Zeit hinweist, die man als „früh-nachexilisch“ bezeichnen kann. Den Reformpriestern nach 530 vor unserer Zeitrechnung, die an dieser Ausweitung beteiligt waren, verdanken wir größere Teile der Redaktion der hebräischen Bibel, die die Christen seit Melito von Sardes 180 nach Christus als „Altes“ Testament bezeichneten. Damit begann dann auch die Abwertung des Judentums als eigentlich „überholt“ . Das kann freilich jeder Student spätestens nach dem Hebraicum, der obligaten Sprachprüfung, lernen. Leider beschäftigen sich viele dann aber nicht mehr mit dem , was für den Dialog mit dem Judentum heute so unverzichtbar ist, nämlich mit der spirituellen, theologischen, philosophischen und poetischen Geschichte des dann rabbinisch geprägten Judentums, die erst nach der Vertreibung, also nach der Zerstörung des Tempels noch einmal neu und sehr intensiv begann.

Völlig irreführend ist es aus meiner Sicht aber, die Entwicklung zum Universalismus, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen, in einen Zusammenhang mit jenen Entwicklungen im 19.Jahrhundert zu bringen, die zu einem jüdischen Staat führten. Hier stimmt dann auch das bewährte Schema „Universalismus-Partikularismus“ , das Herrn Vollmer so sehr am Herzen zu liegen scheint, überhaupt nicht mehr. Und auch eine „Befreiung der Theologie aus ihrer nationalistischen Gefangenschaft“ ist völlig überflüssig, weil so etwas höchstens bei der Minorität ultrakonservativer jüdischer Siedler anzutreffen ist, schon gar nicht bei Menschen, die am christlich-jüdischen Dialog beteiligt sind. Vollmer urteilt hier m.E. völlig von oben und außen: Keiner unserer israelischen Freunde und Bekannten, auch so gut wie niemand, den ich selbst in jüdischen Gemeinden kennen gelernt oder gehört habe, hat je nationalreligiös argumentiert. Ich kann es nur als boshaft und für mich unerklärlich bezeichnen, die „christlichen Freunde Israels“ als Verbündete der „jüdisch-national religiösen Rechten“ anzusprechen. Darüber bin ich eigentlich wirklich empört! So hilft dann auch der sehr spärliche und späte Hinweis nicht mehr, ein Staat Israel sei ebenso wie ein lebensfähiger Palästinenserstaat ein Gebot der Vernunft: Natürlich, aber nicht vor dem Hintergrund von Argumenten, die gerade dies seit 60 Jahren immer wieder erneut in Frage stellen!

Alles in allem: Mag der Beitrag in einigen Punkten ein Signal dafür sein, wie im christlichen Bereich noch immer gedacht wird, so ist er darin doch auch das niederschmetternde, vermeintlich mutige Dokument einer theologisch verbrämten oder auch überhöhten Abrechnung mit der Existenz des Staates Israel. Dem muss massiv widersprochen werden. Die großen ungelösten Fragen Israels, einschließlich der zumindest von außen kaum vertretbaren Siedlungspolitik, müssen aus einer anderen Perspektive angegangen werden. Wir als Deutsche sollten uns im übrigen auch aus den bekannten Gründen deutlich spürbar dabei zurückhalten, nicht zuletzt als christliche Zeitgenossen. Aus einem deutschen Pfarrhaus eben so wenig wie aus einem soliden Reihenhaus am sicheren Stadtrand von Wiesbaden lässt sich das Leben und die Politik in Israel irgendwie verstehen oder gar beurteilen. Von einem renommierten und überregionalen Pfarrerblatt – ich lese es als Nicht-Pfarrer gelegentlich mit journalistischem Interesse – hätte ich erwartet, dass redaktionell bei einem fraglos problematischen und aggressiven Beitrag ein zweiter Text mit einer Gegenposition oder einer Hinterfragung für die gleiche Ausgabe angefordert worden wäre. Das hätte dann auch für die nichtkirchliche Öffentlichkeit die evangelische Position im Verständnis für Israel und besonders den Stand christlich-jüdischer Zusammenarbeit erkennbarer gemacht.



INFO BOX

Ausgangspunkt der auf dieser Seite wiedergebenen Debattenbeiträge ist ein Artikel von Jochen Vollmer, der in der August-Ausgabe des "Deutschen Pfarrerblatt" erschienen ist. Dieser Beitrag ist hier online zu lesen:

JOCHEN VOLLMER: Vom Nationalgott Jahwe zum Herrn der Welt und aller Völker.
DEUTSCHES PFARRERBLATT

Weitere Reaktionen und Stellungnahmen:



- Pressemitteilung des DEUTSCHEN KOORDINIERUNGSRATES (DKR) der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit vom 23. August 2011:
DKR-Pressemitteilung

- Artikel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom 24. August 2011:
http://www.sueddeutsche.de/N5a387/162893/Verstoerende-Angelegenhei.html

- Stellungnahme des "Deutschen Pfarrerblatts" vom 24. August 2011 zur Diskussion um den kritisierten Vollmer-Artikel:
http://www.pfarrerverband.de/meldungen_1468.htm

Kommentar von Helmut Mayer in der FAZ vom 30. August 2011:
http://www.faz.net/artikel/C30108/evangelisches-pfarrerblatt-im-pfarrhaus-30494171.html

Die Hörfunksendung "Schabat Schalom" im NDR berichtete in seiner Ausgabe von Freitag, 26. August 2011, in einem fünfminütigen Beitrag über den Vorfall, inkl. eines Interviews mit dem jüdischen Präsidenten des DKR, Landesrabbiner Henry G. Brandt:
https://www.strongspace.com/ahavta/public/NDR-Schabbat_Schalom-20110826.mp3

Der DEUTSCHLANDFUNK berichtete in seiner Sendung "Tag für Tag" von Montag, 29. August 2011, ebenfalls über die Kritik des DKR an dem Vollmer-Artikel. Neben Rabbiner Brandt kommt dabei vor allem der evangelische Präsident des DKR, Ricklef Münnich, ausführlich zu Wort:
https://www.strongspace.com/shared/myajf0kim9

Artikel in der JÜDISCHEN ALLGEMEINEN WOCHENZEITUNG vom 1. September 2011:
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/11173

- Der Theologe, Judaist und Religionswissenschaftler Karl Erich Grözinger hat auf den Seiten von SPME (Scholars for Peace in the Middle-East) eine  theologische und historische Kritik des Vollmer-Artikels veröffentlicht:
http://www.spme.net/cgi-bin/articles.cgi?ID=8348

Brief des Direktors des Predigerseminars in Hofgeismar, Dr. Manuel Goldmann:
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(pdf-Datei)


Brief von Dr. Jürgen Zarusky, Historiker am Institut für Zeitgeschichte, München:
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(pdf-Datei)


Altneuer Antijudaismus

Zu Jochen Vollmers "Vom Nationalgott zum Herrn der Welt" im "Deutschen Pfarrerblatt"


FRIEDHELM PIEPER

Jochen Vollmer behauptet, dass die „übliche Wahrnehmung“ des Nahostkonflikts „zugunsten von Israel verzerrt“ sei. Er selbst aber bietet nun eben dasselbe, was er kritisiert: eine Verzerrung der Wahrnehmung, diesmal allerdings unter anderem Vorzeichen. Die These „Die Palästinenser sind Opfer von Opfern“ ist eine verzerrende und irreführende Vereinfachung, die den Konflikt nicht erhellt, sondern einen Schuldigen sucht. Die Zionisten und Israelis werden allein als Täter dargestellt, die Palästinenser allein als Opfer wahrgenommen, das weitere Umfeld im Nahostkonflikt wird ausgeblendet.

Vollmer übergeht die Rechtsverhältnisse in Palästina vor 1948, statt Landkauf gibt es bei ihm nur Landraub, er blendet die Rolle der britischen Mandatsregierung aus, er verschweigt die Annexionen der Westbank durch Jordanien und des Gazastreifens durch Ägypten nach 1948 sowie vieles mehr. Stattdessen sammelt er fleißig das Unrecht auf Seiten der Zionisten und Israelis, wovon sich leider Gottes ja tatsächlich so einiges sammeln lässt, manches davon in den kritischen Reden und Aufsätzen Martin Bubers gut dokumentiert.

In der Konsequenz seiner einseitigen Darstellung vermag Vollmer auch nur zwei Hindernisse zum Erreichen des Friedens zwischen Israelis und Palästinensern zu erkennen: „die Verdrängung der historischen Wahrheit und der religiöse Anspruch Israels auf das Land“. Israel wird hier allein die Verursachung des Konflikts zugeschoben und der jüdische Staat wird als alleiniges Hindernis für das Erreichen eines Friedens hingestellt.

Es ist nicht zu bestreiten, dass den in Palästina lebenden Arabern im Zuge der Entstehung des Staates Israel und seiner Verteidigung gegen arabische Armeen und Terrorgruppen Unrecht zugefügt wurde. Entsprechend muss jeder Versuch, dem Frieden im Nahen Osten näher zu kommen, eine Perspektive für die Palästinenser in den Flüchtlingslagern im Nahen Osten beinhalten, wie dies z.B. von Vertretern der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaften in der „Genfer Initiative“ ausgearbeitet wurde.

Das den Arabern zugefügte Unrecht wird in Israel diskutiert und Vollmer verweist selbst auf kritische israelische und jüdische Historiker wie Moshe Zimmermann, den problematischen Radikalkritiker Shlomo Sand und andere. Es ist allerdings zutreffend, dass die Mehrheit in Israel diesem schwierigen Thema wenig Aufmerksamkeit schenkt. Wie selbstkritisch allerdings die historische Diskussion über die jüngste Geschichte Palästinas unter Palästinensern sowie dem arabischen und persischen Umfeld geführt wird, danach fragt Vollmer nicht. Die enorme Verbreitung des antisemitischen Pamphlets „Protokolle der Weisen von Zion“ in arabischen Ländern ist für Vollmer kein Thema, die penetrante Holocaust-Leugnung durch den iranischen Diktator Ahmadinedschad stört den Autor nicht. Eine „Verdrängung historischer Wahrheit“ macht er allein bei Israelis fest.


Jüdischer und demokratischer Staat

Israel ist nicht der einzige Staat, der eine Balance zwischen ethnischer, kultureller und religiöser Prägung auf der einen Seite und den Forderungen nach Gleichbehandlung in einem demokratischen Rechtsstaat finden muss. In Israel wird über diese Balance heftig gerungen, ein Konsens über die Rolle der Religion scheint weit entfernt und es ist nicht zu übersehen, dass die israelischen Palästinenser dabei auch Benachteiligungen und Unrecht erfahren. Ohne dies beschönigen zu wollen, muss dennoch die Frage an Vollmer gestellt werden, welcher der Israel umgebenden Staaten denn eine größere Rechtsstaatlichkeit als das von ihm hierin so heftig kritisierte Israel verwirklicht.

Vollmers Artikel unterstellt, dass es ein demokratisches Israel nur ohne jüdische Religion geben kann. Für Deutschland oder für ein künftiges Palästina fordert er solche Ablehnung jeglicher religiöser Prägung nicht. Es gibt viele vom Christentum geprägte Staaten, sie haben den Sonntag und feiern die Feste des kirchlichen Kalenders, es gibt viele islamisch geprägte Staaten mit Freitagsgebeten und den Festen des islamischen Kalenders. Warum soll es denn – um alles in der Welt -  nicht einen einzigen Staat geben, in dem der Schabbat der arbeitsfreie Tag ist und der seine Feste vom jüdischen Kalender her erhält? Warum muss Jochen Vollmer nur beim Staat Israel eine Abwehr jeglicher religiöser Bezüge fordern? Die Frage ist nicht, ob Israel ein jüdischer und zugleich demokratischer Staat sein kann, sondern WIE er dies zu realisieren vermag.

Die zu Recht zu kritisierende Instrumentalisierung der Religion im Nahostkonflikt kann nicht durch die Bekämpfung jeglichen Bezugs zur jüdischen Religion überwunden werden, sondern durch eine qualifizierte, sachgemäße, aufgeklärte und also bessere Interpretation der Religion, die auch ihr Potential zum Frieden und zu guter Nachbarschaft aufzeigt. Das gilt nicht nur gegenüber jüdischen, sondern auch gegenüber christlichen und islamischen Fundamentalisten.


Der Staat Israel ein „Zeichen der Treue Gottes“?

Der Begriff „Zeichen“ in dem Beschluss der Rheinischen Landessynode von 1980 zielt nicht auf eine direkte Identifikation des Staates Israel mit dem Willen Gottes. Er verweist aber darauf, dass die Sammlung des jüdischen Volkes im Land und die Errichtung eines eigenen Staates sehr wohl eine große Entsprechung zu den biblischen Verheißungen haben. „Staat“ steht hier vor allem für die Errungenschaft, in selbstbestimmter Weise unabhängig von Fremdherrschaft das eigene Gemeinwesen zu gestalten. Das mag auch in anderer Verfasstheit gelingen; so hat Martin Buber für Palästina einen bi-nationalen Staat vorgeschlagen mit jüdischer und arabischer Autonomie. Es ist aber derzeit nicht erkennbar, wie kollektive Selbstbestimmtheit anders als in staatlichen Strukturen realisiert werden kann. Entsprechend wird auch die Errichtung eines selbstständigen Staates Palästina unterstützt.

Es hätte möglicherweise für die Errichtung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina auch einen Weg des Interessensausgleichs mit den Arabern gegeben (vgl. Feisal-Weizmann-Abkommen von 1919). Es ist aufgrund der Entscheidungen und Handlungen der unterschiedlichen Konfliktparteien – nicht nur der Zionisten – anders gekommen. Aufgrund dieser konkreten Geschichte von Interessenspolitik und Gewalt, will Vollmer dem „Staat Israel“ absprechen, ein „Zeichen der Treue Gottes“ zu sein. Und in der Tat: wer wollte leugnen, dass Gewalttaten im Entstehungsprozess Israels sowie die palästinensische Not unter der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik dieses „Zeichen“ in hohem Maße verdunkeln. Was hier aber eine Folge der politischen und militärischen Entscheidungen und Aktionen ist, will Vollmer ins Grundsätzliche ziehen. Er möchte dem jüdischen Volk vorschreiben, dass es gar keinen Staat haben darf. Für andere Völker fordert Vollmer das nicht. Nur die Juden dürfen bei ihm keinen Staat haben. 

Die herrschaftskritische Linie der biblischen Texte interpretiert Vollmer allein gegen die Staatsgründung Israels. Mit Hinweis auf die Entwicklung eines universalen Verständnisses von Gott will er jede partikulare und nationale Engführung überwinden. Da er aber die universale und die besondere jüdische Perspektive in einer Entweder-Oder-Setzung gegeneinander stellt, landet Vollmer in der Haltung des klassischen kirchlichen Antijudaismus: in seinem universalen Gottesverständnis wird die besondere Beziehung Gottes zum Volk Israel gekappt. In den biblischen Texten wird dagegen beides zusammengehalten: Der Gott Israels ist der Schöpfer der Welt und Gott aller Völker, er bleibt dabei als universaler Gott in einer speziellen Bundesbeziehung zum Volk Israel.

Die Propheten machen deutlich, dass aus dem besonderen Bundesverhältnis Israels zu Gott keine Privilegien entstehen sondern stattdessen ethische Ansprüche an das Verhalten des Volkes. Eine partikulare Bindung muss sich daher nicht zwangsläufig gegen andere richten, wie Vollmer behauptet. Es kommt auf den Inhalt der partikularen Perspektive an. Seine These von der „Unvereinbarkeit von jüdischem Volk und jüdischem Staat“ entspringt der selbst gewählten Entweder-Oder-Haltung Vollmers.


Das Volk Israel und das Land

Vollmer bemerkt zwar richtig, dass die Bibel von Gott „universal und partikular“ redet, und dass die Offenheit der partikularen zur universalen Perspektive hin wesentlich ist. Leider aber verschließt er andersherum die universale Interpretation zur bleibend bestehenden besonderen jüdischen Tradition hin. Offenheit ist für ihn eine Einbahnstraße. Der Zugewinn an Universalität in den biblischen Erzählungen des Exils führt für Vollmer zum Zerschlagen jeglicher nationalen Perspektive der jüdischen Gemeinschaft. Dabei lässt er die Rückkehr der Exilierten nach Israel nach 538 v. Chr., den Wiederaufbau des Tempels und die folgenden Bestrebungen zur nationalen Unabhängigkeit bis zur Zerstörung Israels durch die Römer 70 – 74 n.Chr. völlig außer Acht. Vollmer kennt auch den bleibenden Bezug der Juden zum Land „Eretz Israel“ nicht, der doch Jahrtausende lang in jüdischen Gebeten, rabbinischer Literatur und Gedichten zum Ausdruck kam.

Wie schon im vorausgehenden Abschnitt erschlägt Vollmer mit seiner Interpretation der Universalität biblischer Texte zentrale Bereiche jüdischen Selbstverständnisses. In unkritischer Aufnahme der Thesen von Shlomo Sand behauptet er die Diskontinuität des jüdischen Volkes als ethnischer Größe und verkündet, dass Juden, die die Universalität biblischer Texte ernst nehmen, „nicht an das Land im geographischen Sinn gebunden“ seien. Dass Vollmer mit diesen Aussagen das Selbstverständnis der überwiegenden Mehrheit der Juden komplett ignoriert, fällt dem Autor entweder nicht auf oder es interessiert ihn nicht.

Das „Land“ steht in der Bibel für die Konkretheit der Verheißungen. Das Kollektivleben eines Volkes braucht einen realen Raum, damit es konkret gestaltet werden kann. Während ihm diese schlichte Tatsache für die Situation der Palästinenser offenbar gut einleuchtet, konstruiert Vollmer eine christliche universale Theologie, die dem jüdischen Volk jeglichen theologisch legitimen Bezug zum Land entziehen will. Wer in so eklatanter Weise keine Wahrnehmung für das Selbstverständnis des Judentums offenbart, der bringt keinen Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts, der wird stattdessen eine ernste Irritation im Verhältnis zwischen Christen und Juden hervorrufen.

Kein Wort hören wir von Jochen Vollmer über exklusive theologische Konzepte des Landes auf islamischer Seite, wie z.B. in Artikel 11 der Charta der Hamas:
"Die islamische Widerstandsbewegung glaubt, dass das Land Palästina eine islamische Stiftung („Waqf“) ist, künftigen muslimischen Generationen bis zum Tag des Gerichts geweiht. Es darf nicht leichtfertig weggegeben werden, kein einziger Teil davon; es darf nicht aufgegeben werden, kein einziger Teil davon. Weder ein einzelnes arabisches Land noch alle arabischen Länder, weder ein König noch ein Präsident, weder alle Könige und Präsidenten, weder eine einzelne Organisation noch alle, mögen sie palästinensisch oder arabisch sein, haben das Recht solches zu tun. Palästina eine islamische Stiftung, muslimischen Generationen bis zum Tag des Gerichts geweiht".

Es ist in der Tat notwendig, exklusive Ansprüche auf das Land zu überwinden, sowohl auf jüdischer wie auf islamischer Seite und auch unter christlichen Fundamentalisten. Jochen Vollmer aber sieht hier allein bei Israel eine Bringeschuld. So unterstellt er Israel nicht nur alleiniger Verursacher des Nahost-Konflikts zu sein, sondern er schiebt Israel auch noch die alleinige Verantwortung für die Lösung zu.


Ergebnis

Der Aufsatz Jochen Vollmers ist kein Beitrag zum besseren Verständnis des Nahostkonflikts.  Er stellt Israel allein als Verursacher dar und macht es allein für die Lösung verantwortlich. Er bietet eine christliche theologische Interpretation, die weder den biblischen Texten noch dem jüdischen Selbstverständnis gerecht wird. Wer so die besonderen Beziehungen zwischen Gott und dem jüdischen Volk und die besonderen Beziehungen zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel versucht, theologisch als illegitim hinzustellen, der muss sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, eine Neuauflage des klassischen kirchlichen Antijudaismus zu betreiben.

Dabei ist es notwendig, dass wir in Europa eine bessere Wahrnehmung des Nahostkonflikts inklusive der zunehmenden Bedrückung der Palästinenser durch israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik gewinnen sowie auch des Engagements von israelischen und palästinensischen Friedensaktivisten. Diesem Anliegen aber hat Jochen Vollmer durch seine höchst einseitige Israelkritik und seinen altneuen Antijudaismus einen Bärendienst erwiesen.



Die Autoren

WOLF-RÜDIGER SCHMIDT
FRIEDHELM PIEPER


Dr. Wolf-Rüdiger Schmidt, Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Wiesbaden; Redaktionsleiter bis 2002 im ZDF-Bereich Kultur und Wissenschaften;
Redakteur zahlreicher TV-Dokumentationen zu Israel/Judentum; Autor v.Büchern, u.a.: „Der Mann aus Galiläa,“ (Gütersloh 1991). „ Der brennende Dornbusch. Glanz und Elend der Juden in Europa"(Gütersloh 2003, zus. mit Iris Pollatscheck).



Pfarrer Friedhelm Pieper ist Europabeauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau mit Sitz im Zentrum Ökumene, Frankfurt a.M. Er ist Mitglied in "ImDialog - Ev. Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau" sowie im Vorstand der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Wetterau und war von 1998 bis 2004 Generalsekretär des "Internationalen Rates der Christen und Juden", Martin-Buber-Haus, Heppenheim (Bergstraße).



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