Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 152

Oktober 2011

"Dialog an der Schwelle von Auschwitz, Band 2: Perspektiven einer Theologie nach Auschwitz" - So lautet der Titel eines vor wenigen Wochen erschienen Bandes, der die Beiträge des des IV. Kongresses der Vereinigung Polnischer Fundamentaltheologen versammelt, der im September 2008 im "Zentrum für Dialog und Gebet" in Oswiecim (Auschwitz) stattfand. An dem Kongreß nahmen nicht nur polnische Gelehrte teil, sondern auch Referenten aus Deutschland und Israel. Die Konferenz reihte sich ein in eine - noch junge - Tradition des religiösen Dialogs an diesem außergewöhnlichen Ort. Im Jahr 2003 war "Dialog an der Schwelle von Auschwitz, Band 1" erschienen, das einige der ersten wichtigen akademischen internationalen und interreligiösen Begegnungen in Auschwitz dokumentiert (siehe Online-Extra Nr. 4).

"Religiöser Dialog an der Schwelle von Auschwitz ist nicht leicht und verlangt großen geistigen und geistlichen Einsatz", heißt es im Vorwort des Bandes. Programmatisch heißt es an gleicher Stelle: "Dialog beginnt mit Zuhören. Dieses Buch lädt ein, dem Ringen um die Rede von Gott 'nach Auschwitz' in Polen, Deutschland und Israel zuzuhören."

COMPASS freut sich, Ihnen heute als ONLINE-EXTRA Nr. 152 den Beitrag des katholischen Theologen Manfred Deselaers aus besagtem Band präsentieren zu können: "Die Bedeutung von Perspektiven für eine Theologie nach Auschwitz".


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2011 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 152


Die Bedeutung von Perspektiven für eine Theologie nach Auschwitz

MANFRED DESELAERS


FUNDAMENTALTHEOLOGIE NACH AUSCHWITZ

Ausgangspunkt für alle Fundamentaltheologie ist die Aufforderung des Hl. Petrus: „Seid jederzeit bereit zur Rechenschaft gegenüber jedem, der euch fragt nach dem Grund der Hoffnung, die in euch lebt!” (1 Petr. 3,15). Fragen nach dem Glauben ergeben sich aus Erfahrungen, die zweifeln lassen. Deshalb sind auch Glaubenszeugnisse und -begründungen Antworten auf  konkrete Erfahrungen gegenüber konkreten Menschen, die aufgrund ihrer Erfahrungen uns nach dem Sinn unseres Glaubens fragen.

Wie das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 eine Welle von theologischen Reflexionen auslöste, so ist heute die Erinnerung an „Auschwitz“ eine der größten theologischen Herausforderungen. „Wo war Gott in Auschwitz?“, „Wie kann Gott gut und allmächtig sein, wenn er Auschwitz zulässt?“ – wer kennt solche und ähnliche Fragen nicht? Auch die Fragen „Wo war der Mensch?“ „Wo waren die Christen, wo war die Kirche?“ fordern unser Glaubenszeugnis heraus, reinigen es aber auch. Glaubensbekenntnis und Gewissenserforschung gehören immer zusammen.

Um ernstzunehmend auf die Anfragen antworten zu können, müssen wir den Bezugspunkt der Frage ernst nehmen: wovon reden wir eigentlich, wenn wir „Auschwitz“ sagen? Was ist konkret in dem ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz mit seinen Nebenlagern, insbesondere Birkenau, geschehen und warum? Und was ist gemeint, wenn Auschwitz als Symbolwort für einen größeren Zusammenhang gebraucht wird? Die erste Anstrengung einer Theologie nach Auschwitz besteht deshalb darin, den Bezugspunkt Auschwitz ganz ernst zu nehmen und ihn so gut wie möglich kennen zu lernen.

Eine Erfahrung zu deuten bedeutet immer, sie in Zusammenhang mit anderen Erfahrungen zu bringen und mit dem Sinn, den diese anderen Erfahrungen für unser Verstehen von Welt haben. Dieselbe Erfahrung wird anders erlebt, wenn sie anders eingeordnet wird, zum Beispiel noch im Rahmen von Gottes Liebe zu mir oder nicht mehr. Die Fragen, die sich aufgrund der Nicht-Integrierbarkeit der neuen Erfahrung Auschwitz stellen, haben einen Zusammenhang mit dem mitgebrachten Bezugszusammenhang. Die zweite Anstrengung einer Theologie nach Auschwitz besteht deshalb darin, den Sinnzusammenhang zu verstehen, aus dem die Fragen erwachsen.

Oft ist sowohl der Bezug zu „Auschwitz“ als Ereignis als auch der Glaubenskontext beim Fragenden und beim Antwortenden sehr verschieden. Die Antworten, die wir geben, erwachsen aus unserem eigenen mitgebrachten Sinnzusammenhang, mit dem die neue Erfahrung in Beziehung gesetzt wird. Es ist deshalb sehr leicht, an einander vorbei zu reden. Die dritte Anstrengung einer Theologie nach Auschwitz besteht deshalb in der Rechenschaft über das eigene Verhältnis des Antwortgebenden zu der Erfahrung, auf die Bezug genommen wird („Auschwitz“), und zu dem religiösen Bezugsfeld, aus dem die Frage des Fragenden und die Antwort des Antwortenden kommen.


 „AUSCHWITZ“


FAKTEN

Das Wort „Auschwitz“ steht zunächst einmal für ein sehr konkretes historisches Ereignis, von dem sich auch alle symbolischen Bedeutungen ableiten. Deshalb ist zu fragen, was dieses historische Ereignis ausmacht.

„Auschwitz“ ist der deutsche Name für eine polnische Stadt, die, nachdem Polen 1939 überfallen und als Staat vernichtet worden war, dem deutschen Reich eingegliedert wurde. Zur Ausschaltung des polnischen Widerstandes und der polnischen Führungsschicht wurde in dieser Stadt 1940 ein Konzentrationslager eingerichtet, das schnell wuchs. 1941 nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion kamen sowjetische Kriegsgefangene ins Lager, ab 1942 Massentransporte von Juden, 1943 sogenannte „Zigeuner“, Sinti und Roma, und viele andere: politische Gegner, Kriminelle, sog. Asoziale, Bibelforscher, Homosexuelle, aus der Tschechoslowakei, Weißrussland, Frankreich, Russland, Jugoslawien, der Ukraine und anderen Ländern, darunter auch Deutschland. Neun Dörfer in der Umgebung wurden abgerissen und die Bewohner vertrieben, verhaftet oder ermordet, um das 40 km² große „Interessengebiet Auschwitz“ zu bilden. Es entstanden etwa 40 Nebenlager, etwa jeweils die Hälfte bei Industriebetrieben oder in der Landwirtschaft, viele außerhalb des Interessengebietes.

Wer ins Lager kam, wurde nicht mehr als Mensch behandelt, sondern als nummerierte Arbeitskraft. Die durchschnittliche Überlebensdauer der Häftlinge betrug 10 Monate. Der Grad der Entmenschlichung, des Terrors, der Todesnähe ist für uns heute nicht mehr vorstellbar. Selbst ehemalige Häftlinge können es oft nicht schildern. Nicht vorstellbar ist auch, wie Menschen Menschen so etwas antun können. Aber es ist tatsächlich geschehen.

Es kamen etwa 150.000 polnische Häftlinge ins Lager, von denen die Hälfte ermordet wurde. Es kamen etwa 15.000 sowjetische Kriegsgefangene ins Lager, von denen fast alle ermordet wurden. Es wurden etwa eine Million Juden nach Auschwitz gebracht, von denen die meisten nicht als Häftlinge ins Lager kamen, sondern direkt in Gaskammern ermordet wurden. Etwa 200.000 kamen ins Lager, von denen dort noch die Hälfte ums Leben kam. Es kamen etwa 23.000 Sinti und Roma ins Lager, von denen fast alle ermordet wurden.  Das sind die größten Opfergruppen. Gräber gibt es nicht, die Asche der verbrannten Leichen wurde zerstreut. Nicht vorstellbar ist das Loch durch das über eine Million Menschen spurlos verschwunden sind.

Unser Verstehen wird immer nur Annäherung, immer nur ein Ahnen bleiben. Und doch ist diese Annäherung, unser Versuch die konkrete Wahrheit kennen zu lernen, nötig, schon um der Achtung vor den Opfern willen. Ohne diesen Versuch können wir nicht glaubwürdig von einer „Theologie nach Auschwitz“ reden. Theologie nach Auschwitz beginnt mit Schweigen und Hören auf die Stimme der Opfer, auf die Stimme dieser Erde.

SYMBOL

Das KL Auschwitz war das größte Konzentrations- und Vernichtungslager des Dritten Reiches, aber nicht das einzige. Es steht in seiner Bedeutung deshalb symbolisch auch für größere Zusammenhänge. Zum Beispiel:

In Auschwitz denken wir nicht nur an die Juden, die hier ermordet wurden, sondern an die ganze Tragödie der Juden Europas während der Regierungszeit Hitlers. Es wurde zum Symbol für den jüdischen Holocaust, die Schoa.

Auschwitz ist ein Symbol für das Schicksal Polens während des Zweiten Weltkrieges.

Auschwitz ist ein Symbol für das Schicksal der Roma und Sinti während des Zweiten Weltkrieges und für eine fortdauernde Diskriminierungsgeschichte.

Die Sowjetarmee hat die letzten Häftlinge 1945 befreit; es ist in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ein wichtiges Symbol in der Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, an die Befreiung Europas vom Faschismus.

Für politische Häftlinge vieler Länder, Sozialisten, Kommunisten und andere Widerstandsgruppen hat Auschwitz wichtigen Symbolwert für ihren Kampf.

Für die Zeugen Jehowas, damals Bibelforscher genannt, ist die Erinnerung an Gewaltfreiheit, Verfolgung und Tod als Glaubenszeugnis in Auschwitz wichtig.

Eine Häftlingskategorie waren Homosexuelle. Wenn es auch hier nur einige wenige als solche registrierte Häftlinge gab, hat Auschwitz für die Homosexuellenbewegung eine symbolische Bedeutung.

Für Deutschland ist Auschwitz eine mahnende Erinnerung an das größte Versagen und ein Ruf zur Umkehr in gute Beziehungen zu den ehemaligen Opfergruppen.

WUNDE

Wer Auschwitz ernst nimmt, berührt eine Wunde, die noch nicht geheilt ist. Sie weckt eine Unruhe in uns, die nicht einfach zu beruhigen ist. Wenn eine Wunde berührt wird, ist die Reaktion oft sehr emotional und „unsachlich“. Oft lässt sich das Wesentliche nicht begreifen und in Worte fassen. Oft ist es besser zu schweigen als zu reden. Oft ist es besser, die Wunde nicht direkt zu berühren, sondern das Leben um sie herum zu stärken. Aber es ist falsch, weg zu laufen. Es geht deshalb um eine Theologie, die die Wunde ernst nimmt.

Diese Wunde hat mit unserer eigenen Identität zu tun. Wer, wie, wo wäre ich damals gewesen? Woran orientiere ich mich, woran glaube ich wirklich? Wer bin ich in meiner Verantwortung vor den Menschen und vor Gott? Wenn es mir schwer fällt, diese Fragen für mich zu beantworten, dann muss ich auch gestehen, dass ich noch viel weniger verstehe, was die Erinnerung an Auschwitz für den Anderen bedeutet, dem ich begegne. Dialog nach Auschwitz ist eine Begegnung von Verwundeten.

Diese Wunde ist nicht nur in uns, sie ist wesentlich in unseren Beziehungen. Auschwitz begann nicht mit der Ermordung von Menschen. Auschwitz begann mit der Vernichtung von Beziehung zwischen Menschen. Erst wurden Polen wie Arbeitstiere, Juden wie Ungeziefer betrachtet, dann konnte man sie guten Gewissens töten. Heilung nach Auschwitz ist eine Beziehungsgeschichte. Die Fragen, die die Erinnerung an Auschwitz in der Theologie weckt, betreffen deshalb vielleicht mehr noch als die Dogmatik und die Fundamentaltheologie vor allem die Ethik. Dialog nach Auschwitz fängt mit vertrauensbildenden Maßnahmen an. Dialog beginnt mit Schweigen und Hören, einander Zuhören. Das setzt voraus, dass ich den Anderen annehme und achte, wie er ist, in seiner Andersheit, mit seinen Wunden. Die wichtigste Aufgabe des Dialogs ist das Vorbereiten dieser Vertrauensebene, sozusagen des Vorzimmers, damit das Vertrauen da ist, einzutreten und dann im Wohnzimmer zu diskutieren, in der Gewissheit des gegenseitigen Vertrauenkönnens. Das hat auch eine theologische Dimension.

Alles beginnt hier mit Schweigen und Hören: Schweigen und Hören auf die Stimme dieser Auschwitzer Erde – was ist hier damals passiert? Schweigen und Hören auf die Stimme des eigenen Herzens – was bedeutet das für mich? Schweigen und Hören auf einander – was bedeutet das für Dich? Für unsere Beziehung? Schweigen und Hören auf Gott ...

Die Wunde ist auch in unserer Beziehung zu Gott. Selbst Papst Benedikt XVI. hat bei seinem Besuch in Birkenau gesagt: „An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen stehen – Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du geschwiegen? Warum konntest du dies alles dulden? In solchem Schweigen verbeugen wir uns inwendig vor der ungezählten Schar derer, die hier gelitten haben und zu Tode gebracht worden sind...“ (28.05.2006). Glaubenszeugnisse, die nicht aus einem Ringen mit der Herausforderung der Erinnerung hervorgehen, und das bedeutet aus einer Achtung vor den Opfern, werden schnell zu hohlen Phrasen und zur Beleidigung, weil sie Missachtung sind.

Im Folgenden möchte ich in großer Kürze (und deshalb notwendig Verkürzung) drei theologische Perspektiven auf Auschwitz darstellen: polnisch katholisch, jüdisch religiös, deutsch christlich. Es soll vor allem deutlich werden, wie stark die jeweils eigenen Prägungen und damit Unterschiede sind, die meist unbewusst in den Dialog über Auschwitz einfließen. Etwas ausführlicher gehe ich auf die polnische Sichtweise ein, weil sie die unbekannteste ist.




Dialog an der Schwelle von Auschwitz, Band 2
Hrsg. von Manfred Deselaers

Verlag Wydawnictwo UNUM
Zentrum für Dialog und Gebet Osiwecim
Krakau 2011
238 S.; 10,- EUR. Bei Abnahme von 10 Ex. 9,- EUR. Zzgl. Porto

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bitte richten an:
Centrum Dialogu i Modlitwy w Oswiecimiu
ul. Kolbego 1
32-604 Oswiecim, Polen
+48 691 669909
manfred@cdim.pl
www.cdim.pl


Das vorliegende Buch ist eine Frucht des IV. Kongresses der Vereinigung Polnischer Fundamentaltheologen, der im September 2008 im Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim (Auschwitz) stattfand. Diese Konferenz reiht sich ein in eine - noch junge - Tradition des religiösen Dialogs an diesem Ort. Im Jahr 2003 erschien das Buch Dialog an der Schwelle von Auschwitz, Band 1, das einige der ersten wichtigen akademischen internationalen udn interreligiösen Begegnungen in Auschwitz dokumentiert (siehe Online-Extra Nr. 4).

Religiöser Dialog an der Schwelle von Auschwitz ist nicht leicht und verlangt großen geistigen und geistlichen Einsatz. Die polnische Fundamentaltheologie hat diese Herausforderung verstanden und in Oświęcim eine Konferenz zum Thema "Perspektiven einer Theologie nach Auschwitz" organisiert, zu der auch Referenten aus Deutschland und Israel eingeladen wurden. Dialog beginnt mit Zuhören. Dieses Buch lädt ein, dem Ringen um die Rede von Gott "nach Auschwitz" in Polen, Deutschland und Israel zuzuhören.



POLNISCHE PERSPEKTIVE


NAZISMUS UND KOMMUNISMUS

Polen erinnern ein doppeltes Gesicht des Zweiten Weltkrieges, der am 1. September 1939 mit dem Einmarsch Nazideutschlands begann und am 17 September desselben Jahres durch die Invasion der Sowjetunion. Beide Systeme waren antichristlich – der neuheidnische  Nationalsozialismus und der atheistisch-materialistische Kommunismus. Beide Systeme versuchten die Vernichtung polnischer Unabhängigkeit und polnischer Identität. Beide Systeme liquidierten die militärische Opposition und die Elite des Volkes.

Diese Erfahrungen reihen sich ein in eine lange Geschichte des Kampfes um eine unabhängige Existenz auf der europäischen Landkarte. Nach dem Ersten Weltkrieg, nach 123 Jahren Abwesenheit und vielen Aufständen, war sie endlich errungen. Nur für 21 Jahre.


CHRISTLICHE WURZELN

Von Anfang an war Polen mit dem Christentum und der katholischen Kirche verbunden, die in gewissen Weise das Rückgrat der nationalen Identität bildet. Die Taufe Polens 966 war gleichzeitig der Beginn der staatlichen Existenz und der Christianisierung Polens. 1386 entstand die Polnisch-Litauische Union, deren Ergebnis die Christianisierung der litauischen Gebiete im römischen Ritus war. In der Zeit der Adelsdemokratie (ab 1505) wurde der König gewählt, oft ein ausländischer. Die Stabilität im Land garantierte damals der polnische Primas als Interrex der Republik der beiden Staaten. 1656 nach einem Überfalls von Schweden und deren Rückzug aus Polen krönte König Jan Kazimierz die Gottesmutter in der Lemberger Kathedrale zur Königin der Krone Polens und machte anschließend feierliche Weiheversprechen. Seitdem wird die Gottesmutter als Patronin und Königin Polens verehrt.

1791 verkündete das Parlament (Sejm Wielki) die Verfassung vom 3. Mai, deren erster Paragraf festlegt, dass  „die herrschende nationale Religion der heilige römisch katholische Glaube ist und sein wird“. Gleichzeitig wurde die Achtung anderer Bekenntnisse und Religionsfreiheit garantiert. Kurz darauf, 1795, verschwand Polen von der Landkarte Europas. Im russischen, preußischen und österreichischen Teilungsgebiet wurde in den Kirchen weiterhin polnisch gesprochen. Dort konnte man sich wie nirgends sonst als Pole fühlen.

Der polnische Geist entwickelte sich vor allem unter den Pariser Emigranten, wo die Vision der Freiheit sich mit einer messianischen Vision verband. Adam Mickiewicz schrieb: „Und es sprach schließlich Polen: Wer immer zu mir kommt, wird frei und gleich sein, weil ich die FREIHEIT bin. Aber als die Könige davon hörten, erzitterten sie in ihren Herzen und sagten: […] Kommt, erschlagen wir dieses Volk. Und sie überlegten untereinander den Verrat. […] Und das polnische Volk wurde gekreuzigt und ins Grab gelegt, und die Könige schrien: Wir haben die Freiheit erschlagen und bezwungen. Und sie schrien dumm […]. Denn das polnische Volk ist nicht gestorben, sein Leib liegt im Grab, und seine Seele stieg aus der Erde, das heißt aus dem öffentlichen Leben, in den Abgrund, das ist das häusliche Leben der Völker, die Unfreiheit erleiden im Land […]. Und am dritten Tage wird die Seele wieder in den Leib zurückkehren und die Nation auferstehen und alle Völker Europas aus der Sklaverei befreien“.1 Die Überzeugung, dass Gott auf der Seite des polnischen Volkes ist und die Muttergottes Beschützerin des Vaterlandes (im Polnischen weibliche Form trotz des Wortstammes „Vater“, etwa „Mutterlandes“), der Mutter ist, wurzelte tief in den Überzeugungen der Menschen. Das verband sich mit einer Tradition, die einen tiefen Sinn im Martyrium sieht: es lohnt sich, Gott, dem Vaterland (der Mutter) und Werten treu zu bleiben, trotz Leiden, trotz Tod. Das Blut der Märtyrer bringt Frucht. Nach dem Tod folgt die Auferstehung als Gabe Gottes.

Als nach 123 Jahren Abwesenheit auf der Landkarte Europas Polen seine Staatlichkeit wiedererlangte, begann die Präambel der Verfassung von 1921 mit den Worten: „Im Namen des Allmächtigen Gottes!  Wir, das polnische Volk, danken der Vorsehung für unsere Befreiung aus anderthalb Jahrhunderten Sklaverei …”. Das neue unabhängige Polen wird als eine Gabe Gottes beschrieben.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 hat den polnischen Staat wieder vernichtet. Es gab also keine Auferstehung? Doch der Glaube ist unter dem Einfluss der Okkupation nicht zerbrochen, wenn er auch eine große Prüfung durchmachte. Der Eid der polnischen Untergrundarmee im II. Weltkrieg: „Vor Gott, dem Allmächtigen, vor der heiligen Jungfrau Maria, der Königin der Krone Polens, lege ich meine Hand auf dieses heilige Kreuz, Symbol des Märtyrertums und der Erlösung. Ich schwöre, dass ich die Ehre Polens mit aller meiner Kraft verteidigen will, dass ich mit der Waffe in der Hand kämpfen werde, um mein Vaterland von der Sklaverei zu befreien, bereit, mein Leben zu opfern.“


AUSCHWITZ

Es existieren viele christliche Glaubenszeugnisse aus der Kriegszeit, auch von Opfern in Auschwitz.

Aus dem Kassiber von Waclaw Stacherski aus der Gefängniszelle in Block 11 an seine Frau vor der Hinrichtung am 18.09.1944: „O Iris! Es gibt Gott, auch wenn es hier so schwer ist, daran zu glauben. Gestern, am Sonntag, habe ich durch das Kellerfenster eine Messe gehört, die man geheim im Erdgeschoss gefeiert hat. Das erinnert an die urchristliche Zeit der Katakomben. Gott allein weiß, wo es mehr Heilige und Märtyrer gab – in Rom oder in Auschwitz“.2 

Pater Maximilian Kolbe, der im Lager sein Leben für einen Mithäftling gab, wurde in Polen zum Symbol des Sieges der Liebe aus der Kraft des Glaubens in einer Welt des Hasses. In der Nachkriegszeit spielte Auschwitz eine wichtige Rolle in der offiziellen kommunistischen Erziehung als Symbol der Sowjetunion, die das Lager und Europa vom Faschismus befreit hatte. Bewusst wollte man nicht, dass sich mit dem Lager eine religiöse Dimension verband. Vor diesem Hintergrund repräsentierte der Kult von Maximilian Kolbe, der sich seit seiner Seligsprechung 1971 verbreitete, eine andere, religiöse Sicht der Erinnerung an Auschwitz.

Die größte katholische Jugendbewegung in Polen, „Oase“, wurde nach dem Krieg von dem Priester Franciszek Blachnicki , einem ehemaligen Auschwitzhäftling gegründet. Er hatte, als er auf den Vollzug seines Todesurteiles wartete, seine Bekehrung erlebt. Überraschend wurde das Urteil nicht ausgeführt. Seitdem war er überzeugt, dass wahre Freiheit innerlich ist und dass Menschen, die im Gebet verwurzelt sind und Christus vertrauen, keine Angst vor den Machthabern zu haben brauchen. Das ist der Ausgangspunkt für eine polnische Befreiungstheologie. Später spielten Mitglieder der Oase-Bewegung eine große Rolle bei der Revolution der Solidarnosc.


JOHANNES PAUL II

Karol Wojtyla, der in Wadowice, nicht weit von Oswiecim geboren und dort mit jüdischen Freunden aufgewachsen ist, entschied sich während des Krieges Priester zu werden. Als Bischof der Diözese Krakau, zu der Oswiecim gehörte3, und als Papst Johannes Paul II (seit 1978) verstand er seine Sendung als Antwort auf die Erfahrungen des Krieges. 1979 sagte er auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Auschwitz-Birkenau: "Kann sich eigentlich noch jemand wundern, dass der Papst, der auf dieser Erde geboren und erzogen wurde, der Papst, der auf den Sitz des hl. Petrus aus jener Diözese kam, in deren Gebiet das Lager Auschwitz liegt, seine erste Enzyklika mit den Worten «Redemptor Hominis» begonnen hat - und dass er sie insgesamt der Sache des Menschen widmete, der Würde des Menschen, seinen Gefährdungen, schließlich seinen Rechten?“

Die Heiligsprechung von Maximilian Kolbe (1982), die nach der ersten Polenreise des Papstes stattfand (1979), nach dem Entstehen der freien Gewerkschaft Solidarnosc (1980) und nach der Einführung des Kriegsrechtes (1981), wirkte wie ein Aufruf, sich nicht besiegen zu lassen und Böses durch Gutes zu überwinden. Während der zweiten Polenreise (1983) sagte er: „Was bedeutet es, dass die Liebe stärker ist als der Tod? Das heißt auch: ‘Lass dich nicht von dem Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute‘, nach den Worten des hl. Paulus (Röm. 12,21). Diese Worte übersetzen die Wahrheit über die Auschwitzer Tat von Pater Maximilian in verschiedene Dimensionen: in die Dimension des täglichen Lebens, aber auch in die Dimension der Epoche, in die Dimension eines schwierigen historischen Momentes, in die Dimension des XX. Jahrhunderts, und vielleicht auch der Zeiten, die kommen. [...] Wir möchten das christliche Erbe Polens um die ergreifende Aussage seiner Auschwitzer Tat bereichern: ‚Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute’. Ein evangelisches Programm. Ein schweres Programm – aber möglich. Ein unerlässliches Programm.“

Die große Rolle, die der polnische Papst, die Kirche und der Glaube auf dem Weg der gewaltfreien Revolution spielten, die die Diktatur des Kommunismus in Europa beendete, hat zusätzlich zu der Überzeugung beigetragen, dass das Christentum aus diesen Erfahrungen siegreich hervorgegangen ist, grundsätzlich bestätigt nach Auschwitz und dem Gulag. Diese Perspektive, die das Christentum so tief verbindet mit der Würde der Menschen und der Freiheit der Nationen, unterscheidet Polen deutlich von anderen Ländern Europas. Dies ist ein Hintergrund der heftigen Diskussionen der vergangenen Jahre bezüglich der Beziehung von katholischen Polen zu Polen anderer Konfessionen und zum jüdischen Holocaust.




Das Zentrum für Information, Begegnung, Dialog, Erziehung und Gebet endstand im Jahr 1992. Es ist eine Einrichtung der katholischen Kirche, die der Krakauer Erzbischof Kardinal Franciszek Macharski mit Unterstützung anderer Bischöfe aus ganz Europa und in Absprache mit Vertretern jüdischer Organisationen errichtet hat.  

Anliegen des Zentrums, das 1998 den Namen Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim annahm, ist es, in der Nähe des Stammlagers Auschwitz für alle Menschen, die betroffen sind von dem, was dort geschehen ist, unabhängig von ihrer religiösen Orientierung, einen Ort zu schaffen, der zu Besinnung, Begegnung, Lernen, und Gebet einlädt.

Das Zentrum soll helfen, die Opfer zu ehren und eine Welt des gegenseitigen Respektes, der Versöhnung und des Friedens zu gestalten.




JÜDISCHE PERSPEKTIVE

SCHOCK

Vor 1939 war das Judentum vor allem in Europa zu Hause, und das vor allem in polnischen Gebieten. Diese jüdische Welt gibt es nicht mehr. In gewisser Weise ist Hitler und den Seinen gelungen, was sie wollten – die sogenannte „Endlösung der Judenfrage in Europa“. Das war vorher unvorstellbar gewesen und bleibt bis heute schwer zu verstehen. Juden waren nicht nur vertrieben und ermordet worden, sondern zuvor von Deutschen zu Unmenschen, nicht-Menschen, Ungeziefer, Krankheitserregern erklärt worden, die zu vernichten seien. Und unter deutscher Besatzung ließ sich Europa dementsprechend organisieren: Juden wurden systematisch gesucht, gekennzeichnet, ausgesondert, eingesammelt und in Öfen verbrannt. Wie war das möglich?


BUND

Der wichtigste religiöse Bezugspunkt für die jüdische Perspektive ist die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten und an den Bundesschluss am Sinai: „Mose stieg zu Gott hinauf. Da rief ihm der Herr vom Berg her zu: Das sollst du dem Haus Jakob sagen und den Israeliten verkünden: Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe. Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.“ Ex 19,3-6. Dieser Bund ist die Lebensquelle des Volkes Israel. In ihm bestätigt sich die Liebe Gottes zu seiner ganzen Schöpfung.

Im Laufe der Geschichte haben viele Katastrophen diese Liebe und Gottes Bundestreue in Frage gestellt. Aber die religiösen Leiter haben immer wieder zu zeigen versucht, dass es Untreue und Schuld des Volkes war und nicht Gottes, die zur Katastrophe geführt haben. Das galt vor allem für die Deutung der zweifachen Zerstörung des Jerusalemer Tempels (586 vor und 70 nach Christus), die darauf folgende Verbannung ins Exil und das Ende der Existenz des Staates Israel. Aber es ist nicht möglich, Auschwitz als Strafe Gottes anzunehmen. Die versuchte Ausrottung des ganzen Volkes, 6 Millionen Ermordete, darunter fast die ganze orthodoxe jüdische Welt Osteuropas und unendlich viele Kinder, sind nicht vorstellbar als angemessene Antwort auf eine entsprechende eigene Sünde. Was ist mit dem Bund geschehen? War die Schoa nicht schlimmer als Ägypten? Wo war Gott?

Die alten Kategorien passen nicht mehr. Aber wenn Israel den Bezug zur Bibel und ihrer Verheißung verliert, verliert es seine Identität. Das wäre der endgültige Sieg Hitlers, die endgültige Vernichtung Israels. Das nicht zuzulassen, ist das neue, das – so Emil Fackenheim -  614. Gebot für Juden nach Auschwitz. Elie Wiesel streitet mit Gott. Er lässt die Beziehung nicht los, aber bevor Gott ihn fragt „Wo bist Du“ fragt er Gott „Wo warst Du, als meine Schwester, meine Mutter, meine Volk ermordet wurden?“ Die Treue der Erinnerung an die Ermordeten wird zum Ausgangspunkt für alles.


KIDDUSCH HA SCHEM

Vielleicht geht es nicht darum, Gott zu verstehen, sondern ihm trotz allem treu zu bleiben. „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege, sagt der Herr.“ (Jesaja 55:8). Juden sind für ihr Jude-sein ermordet worden, ob sie wollten oder nicht, nicht für ihr nicht-mehr-Jude-sein. Haben sie nicht so, selbst wenn gegen ihren Willen, ein Zeugnis für Gott abgegeben? Den Namen Gottes geheiligt: Kiddusch Ha Schem?

In der langen Geschichte des Judentums gab es immer wieder Antijudaismus, Antisemitismus, Verfolgungen, Vertreibungen, Pogrome, Martyrium. Oft ist ein hoher Preis für Treue gezahlt worden. Das gilt besonders auch für die Geschichte der Juden im christlichen Europa. Ist sie nicht die Vorgeschichte dafür, dass Auschwitz im christlichen Europa hat geschehen können? Die nationalsozialistische Ideologie war auch antichristlich, aber woher kam der Gedanke, dass die Juden die Quelle allen Übels sind? Nicht indirekt aus der christlichen Tradition, Juden als Feinde Christi und dadurch als Feinde Gottes zu sehen? Selbst wenn Christen nicht deren Ermordung wollten, warum haben sie so wenig geholfen? Haben Christen nicht eine Mitverantwortung für den Weg nach Auschwitz? – Dies sind auch zentrale Fragen der christlichen Gewissenserforschung „nach Auschwitz“ geworden.


DER STAAT ISRAEL

Anders als Polen haben Juden den Holocaust nicht im Kontext eines Kampfes um nationale Unabhängigkeit erlebt. Zwar gab es den Zionismus schon, aber die meisten Juden wollten in Frieden weiter als Nachbarn unter Nachbarn leben, dort wo sie waren. Die Schoa bedeutet nicht nur einen Schock für das Verhältnis zu Gott, sondern auch zu den Nachbarn. Kann man ihnen wirklich trauen? Viele Juden hatten während des Krieges nicht einmal einen Ort gefunden, wohin sie fliehen konnten.

Deshalb ist für viele Juden die wichtigste Antwort auf Auschwitz die Entstehung des Staates Israel. Endlich eine Heimat, die immer aufnahmebereit sein will. Vielleicht auch ein Zeichen, dass Gott sein Volk doch nicht vergessen hat. Und vielleicht geht es viel mehr als um Kiddusch Ha Shem, Martyrium, um Kiddusch Ha Chaim, Leben. „Am Israel chai“ – das Volk Israel lebt. Umso mehr tut es weh, dass in Israel der Traum vom Schalom so schwer zu verwirklichen ist und eine Wiederholung von Auschwitz nicht unmöglich scheint.

Aber es geht nicht nur um Israel und das eigene Volk. Es geht um Menschenwürde weltweit. Denn Gott ist der Schöpfer der Welt und der Vater aller Menschen.


DEUTSCHE PERSPEKTIVE

SCHULD

Wenn Deutsche heute nach Auschwitz kommen, dann nicht, um der Ihren ehrend zu gedenken und ihnen treu zu bleiben. Im Gegenteil. Wir sind keine Nazis, wir sind andere Deutsche, und wenn wir hier jemandes ehrend gedenken wollen, dann der Opfer. „Auschwitz“ haben wir nicht gemacht und nicht gewollt, es tut uns leid, wir schämen uns und wollen eine andere Welt gestalten. Wir, die wir heute leben, sind unschuldig, aber es gibt diese deutsche Schuld, und irgendwie haben wir mit ihr zu tun. Dies ist die deutsche Wunde „nach Auschwitz“. Auschwitz erinnert daran, dass etwas entsetzlich falsch gelaufen ist. Diese Erinnerung ist als ständiger Gewissensbiss heute Teil der deutschen Identität. In der Mitte von Berlin steht das Brandenburger Tor, daneben auf der einen Seite das Parlamentsgebäude und auf der anderen Seite das Holocaustmemorial.

Das prägt auch die deutsche Theologie nach Auschwitz. Das Ringen mit dem tief empfundenen Versagen der eigenen Kirche prägt diejenigen, die sich mit „Theologie nach Auschwitz“ beschäftigen. Selbst wenn Christen im Widerstand auch ihr Leben gegeben haben, so gilt das doch nur für eine sehr kleine Minderheit. Warum haben die deutschen Bischöfe geschwiegen, als die jüdischen Geschäfte boykottiert wurden und die Synagogen brannten? Warum haben sie seelsorglich den Krieg unterstützt? Fast alle deutschen Soldaten waren Christen…

Weil es so schwierig ist, nehmen nur wenige deutsche Theologen die Herausforderung der Erinnerung an Auschwitz wirklich an. Der wichtigste Theologe diesbezüglich ist Johann Baptist Metz, der Anamnese anstatt Amnesie in der Theologie einfordert: Erinnerung statt Vergessen.


KRITISCHER ANSATZ

Ihrem Wesen nach ist deshalb deutsche Theologie nach Auschwitz kritisch. Sie sucht die Fehler in der Theologie, die zu dem Versagen geführt haben, und sie sucht nach neuen Ansätzen, die eine Wiederholung der Fehler unmöglich machen.

Ein Ansatz ist die Entdeckung und Betonung des Jüdischen in der christlichen Theologie. Jesus war Jude. Der Bund Gottes mit dem jüdischen Volk ist nicht durch das „Neue Testament“ abgelöst worden, sondern besteht weiter und hat als Bund des lebendigen Volkes Israel auch für Christen wesentliche Bedeutung.

Schwieriger ist die Integrierung der Erinnerung an die Tragik der Opfer in die Theologie. Das versucht Metz, der betont, dass nach Auschwitz Theologie nicht mehr anders möglich ist als gemeinsam mit den Opfern von Auschwitz, die dort oft ihren Glauben an die Güte Gottes verloren haben. Von daher verbieten sich zu schnelle theologische Antworten. Nötig ist eine Theologie als „Memoria Passionis“, die nicht nur das Leiden Jesu am Kreuz, sondern auch das der Juden in Auschwitz vergegenwärtigt. Diese Theologie betont nicht die Gottesbeziehung und das Gebet, sondern die den Opfern notwendige konkrete Hilfe und wird so zur Politischen Theologie.

Anders als in Israel und in Polen gibt es in Deutschland heute keinen theologischen Bezug zum eigenen Volk. Seit der Reformation mit den folgenden Religionskriegen und dem „Augsburger Religionsfrieden“ gab es Katholiken und Protestanten, und der deutsche Staat, der Länder mit verschiedenen religiösen Prägungen vereinte, bestand erst seit 1871. Der Nationalsozialismus versuchte, eine nationale Identität auf „nordisch-germanischen“, vorchristlichen Fundamenten aufzubauen. Große Teile der evangelischen Kirche versuchten, sich eine neue Identität als „Deutsche Christen“ zu geben. Diese Versuche sind heute völlig diskreditiert. Auf nationalreligiöse und „völkische“ Tendenzen wird mit großem Misstrauen geschaut, wo immer sie auftauchen.


VERGEBUNG?

Das Thema Vergebung wird in einer deutschen Theologie nach Auschwitz kaum thematisiert, weil es unter dem Verdacht steht, sich selber entschuldigen zu wollen. Aus der Perspektive der Täter ist Vergebung nicht einzufordern, sondern nur als Gnade dankbar zu empfangen. Aber wer kann hier wem was in wessen Namen vergeben? Und was ist mit einem Fortwirken von Schuld in die nächsten Generationen? Wie in einigen anderen wesentlichen Fragen hat der „Gesprächskreis Christen Juden beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken“ dazu Wichtiges gesagt – als gemeinsame Stimme von Christen und Juden.4


ANMERKUNGEN



1 Adam Mickiewicz, Księgi narodu i pielgrzymstwa polskiego, opr. Z. Dokumo, Warszawa 1982, S. 211 ff. Zitiert nach: Norman Davis, BOŻE IGRZYSKO, Tom II. l. Polska zniszczona i odbudowana (1795-1945), 2002, S.516.
2 Zitiert nach: Irena Pająk, Mieszkańcy Śląska, Podbeskidzia, Zagłębia Dąbrowskiego w Auschwitz. Księga Pamięci, Tom 1. Katowice 1998, S. 3.
3 Seit 1992 gehört  Oświęcim zur neu gegründeten Diözese Bielsko-Biala.
4 "NACH 50 JAHREN - wie reden von Schuld, Leid und Versöhnung?" Erklärung des Gesprächskreises "Juden und Christen" des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 6.1.1988, S. 13.



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Der Autor und Herausgeber

MANFRED DESELAERS


Katholischer Prieser des Bistums Aachen. Seit 1990 lebt und arbeitet er in der Pfarrgemeinde St. Mariae Himmelfahrt in der Stadt Oświęcim (Auschwitz). 1996 Promotion an der Päpstlichen Theologischen Akademie in Krakau ("Und Sie hatten nie Gewissensbisse?" Die Biografie von Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, und die Frage nach seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, Leipzig 2. Aufl. 2001), wo er Vorlesungen über Theologie nach Auschwitz hält. Er leitet zudem das Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim, wo er sich der deutsch-polnischen und christlich-jüdischen Versöhnungsarbeit widmet. Der polnische Rat der Juden und Christen verlieh ihm im Juni 2000 den Titel "Mensch der Versöhnung", und am 26. Januar 2005 erhielt er den Verdienstorden der Republik Polen, die an Personen verliehen wird, die sich seit Jahren für die Bewahrung der Erinnerung und für Erziehung im Umfeld der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau einsetzen. 2008 verlieh Bundespräsident Horst Köhler ihm das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

ZENTRUM FÜR DIALOG UND GEBET

IN OSWIECIM
Tagungs- und Gästehaus
Centrum Dialogu Oswiecim



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