ONLINE-EXTRA Nr. 159
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Hanne Vollmer ist 1930 geboren. Sie wäre gewiß schon in jungen Jahren eine Dichterin geworden. Es gab etwas, was ihr Leben anders bestimmte. Sie erlebte das Dritte Reich bis zu seinem Ende von seiner lebensgefährlichen, aber auch von seiner alltäglich bedrohlichen Seite. Sie wuchs in einem Stadtviertel in Aschaffenburg auf und erlebte die Reaktionen auf ihr von Behörden so verdächtigtes und so benanntes „jüdisches Aussehen“. Ihr nichtjüdischer Vater wurde immer wieder aufgefordert, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen und seine Familie zu verlassen. Hanne Vollmers Erfahrungen im Alltag des Dritten Reiches haben sie tief geprägt und ein sehr kritisches Verhältnis zu jeder Obrigkeit bewirkt.
Hanne Vollmer war verheiratet mit dem bekannten Kalligrafen Ernst Vollmer. Im Aschaffenburger Kulturleben hat sie viel gewirkt und sie ist fürsorglich und prägend für viele Kunstausstellungen tätig geworden. Von Zeit zu Zeit entstanden doch Gedichte, die in nicht mehr genutzten Buchschubern aufbewahrt wurden. Von sich aus hat Hanne Vollmer nichts veröffentlicht. Als der Dillenburger Buchhändler und Verleger Albrecht Thielmann sie kennenlernte und beinahe beiläufig von den Gedichten erfuhr, ermunterte und ermutigte er sie, an eine Publikation zu denken. Mit Unterstützung u.a. der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Dillenburg gelang es ihm dann 2011 erstmals eine umfangreiche Sammlung der Gedichte in einem ungemein ansprechend edierten Band herauszugeben: "Eisblumen damals. Gedichte von Hanne Vollmer".
Man mag in Hanne Vollmers unprätentiöser, gleichwohl bilderreichen und tief poetischen Lyrik Verwandtschaften entdecken zu Rose Ausländer oder Hilde Domin. Dennoch ist ihre Stimme von originär eigener poetischer Kraft und entfaltet einen unverwechselbaren lyrischen Kosmos, den kennenzulernen eine immense Bereicherung bedeutet. Der nachfolgende Essay, der eine gelungene Hinführung zu Hanne Vollmers Leben und Werk darstellt, stammt von dem Westerwälder Schriftsteller Johann Peter. Möge er viele Leserinnen und Leser dazu anregen, die poetische Welt von Hanne Vollmer anhand ihres Gedichtbandes selbst weiter zu entdecken: "Eisblumen, damals".
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Online-Extra Nr. 159
Damals und Eisblumen, das geht zusammen. Im grünen Grund Noldes Garten, mit den Augen Hanne Vollmers gesehen. Es ist dieser Blick, der Malerblick, der ihren Gedichten eine unverwechselbare Farbe und Leuchtkraft verleiht, ihr Auge ist es, und seine perfekte Symbiose mit Bewußtsein und Wort. Hätten sich die Gedichte im Nach-Bilden natürlicher Vorlagen erschöpft, wären sie Naturlyrik der impressionistischen oder realistischen Art – man könnte sie dennoch mit Befriedigung lesen. Ich zelte In dieser Haltung erfährt sie die Welt, erprobt sich an ihr, ergreift und begreift sie. Sie, die Schauende, ist zu Fuß unterwegs, nur das wird ihrer Art wahrzunehmen gerecht. Nichts von Mauern, kein Ort, der sie festhält. Ganz unbehaust nicht, ein „Zelt“ immerhin führt sie mit sich – eine Nomadin zwischen Segeltuchbahnen, stets zum Aufbruch bereit, zu Neuland, vielleicht auch zur Flucht.
Paßt in eine Zeit, als man die Häuser nicht wie Flachbildschirme in Styroporkisten packte, als der Frost und der Kohleofen noch ums Bleiberecht in Küche und Wohnzimmer stritten und an den Fensterscheiben das Schwitzwasser zu Floralornamenten erstarrte – Eisblumen eben.
Filigrane Gebilde, zartfiedrig weiß, der kindlichen Phantasie klirrende Wälder vorgaukelnd, Paläste, in denen der Schneekönig herrscht. Ein gewisser Abstand beim Betrachten mußte schon sein, Rotznasen, an die Scheibe gedrückt, Atemhauchwärme, vertrugen sie nicht; da verschwammen sie zu wässriger Schliere.
Das Filigrane, das Magische, ist auch diesen Gedichten zu eigen, der Abstand ergibt sich von selbst, denn wer Lyrik liest, weiß, daß ihm die Sprache nicht plump-vertrtaulich daherkommt.
Kälte freilich, Zeitferne, Antiquarisches gar, sind nicht zu befürchten. Im Gegenteil. Den Leser umfängt eine Aura geistvoller Wärme und zeitloser Bildhaftigkeit, die ihn vom Eise befreit und ganz den Blumen zuführt.
ruhen die Sterne
der Rudbekien
Asternkissen nisten
zwischen
den Blattrosetten
der Königskerzen
Aber der Blick dieser Dichterin geht über Noldes Garten hinaus in die Welt, nimmt Farbglut und Formsinn mit und schafft Kunst. Gültige, hochkarätige Sprachkunst.
Kaum ein Lebensmotiv, dem sich Hanne Vollmer entzieht. Kindheit, Liebe, Altern, Tod, Zeitgeschehen, die Frage nach der Bestimmung des Menschen, das Wesen der Kunst – Themen, die keinem Denkenden fremd sind und an denen sich jede Dichtung bewährt.
in der Zeit
schreib mit
dem Stift
in den Wind
immer
des Aufbruchs
gewärtig
bin ich
zu Fuß
unterwegs
in der Liebe
in der Unendlichkeit
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Beide Texte stehen nebeneinander, etwa in der Mitte des Buchs. Die verweigerte und die trotzig behauptete Mitte, das Verbot, mitten drin, will heißen: zugehörig zu sein, die Normalität, die dem „jüdischen Kind“ verwehrt war – welch naives Heimatgefühl wäre darauf zu gründen? 1930 geboren, aufgewachsen im katholisch geprägten Aschaffenburg als Tocher eines „arischen“ Vaters und einer jüdischen Mutter, hat sie Kindheit und frühe Jugend im Schatten jener Drohung verbracht, deren zynische Brutalität sie in den Zeilen an ihre Tante benennt.
EISBLUMEN, DAMALS
Gedichte von Hanne Vollmer
Gedichte von Hanne Vollmer
"Ich hatte immer dieses Brennen in mir." Die Aschaffenburger Lyrikerin Hanne Vollmer wurde 1930 geboren und bis 1945 als "undeutsch" behandelt. "Hier hast du / nichts verloren / Oh doch / Hier habe ich meine Kindheit verloren".
Hellwach für die Zerbrechlichkeit und Schutzbedürftigkeit von uns allen, dieser Sinn ist in ihr seit jener Angstzeit: "Wenn ich Deine Stimme / wieder höre / weiß ich / dass da / ein Netz ist / unter dem Seil, / auf dem ich balanciere"
"Ich bin begeistert! Total begeistert! Das ist großartig. ... Ein Roman. Ein Gedichteroman mit ganz viel Zwischenraum zum ausfüllen" (Lutz Görner)
"Die Gedichte von Hanne Vollmer sind für mich ein Fund: nachgesprochene, neugesprochene Wirklichkeit. Und eine Menschengeschichte, die ihr Metrum findet." (Peter Härtling)
Erst 1946 – sie wird zur Lehrerausbildung zugelassen – erfährt sie „das Glück, auch zu den Menschen zu gehören“ - so schreibt ihr Verleger und Herausgeber Albrecht Thielmann in seiner kundigen biographischen Skizze im Anhang. geschnürt durchwandert sie ihre Biographie, zieht mit ihren Bildern den Lebensbogen entlang. Anne fuhr in die Welt oder das Sterben des Vaters Sterbend oder ein verträumtes Kinderspiel am Küchentisch festhält Schmale Linienstege immer ist das Auge des Zeichners, des Malers, am Werk, gepaart mit souveräner Sprachökonomie. Ihre Diktion ist klar, bisweilen wortschöpferisch, rhythmisch sicher und ohne Pathos. Ein Blumentopf in Empfehlungen, Vorschlägen, Ratschlägen Der Eigenart an keine bestimmte Adresse gerichtet. Jeder könnte gemeint sein und zu allererst das schreibende Ich - Lyrik, die in hohem Maße Selbstverständigung, Selbstklärung ist. Grasflächen oder am Rhonetal bei Tournon, knorrigen Zwergentanz - reine Schauenslust das, während ihr am Canale Grande das Erscheinungsbild zur Sentenz wird Aller Glanz Indessen, kein abgehobenes Moralisieren – vielmehr der konkrete, betrachtende Mensch, der seiner je eigenen Empfindung Ausdruck verleiht: Zeit haben Von der Impression zur Empfindung - hier: einer elegischen -, von der Empfindung zur Metapher, von der Metapher zur Erkenntnis: Diese Bewegung vom Reflex als Sinneseindruck hin zur Reflektion als Arbeit des Bewußtseins, die Verdichtung von Sinnlichem zu Sinn, diese Fähigkeit hat Hanne Vollmer in ihrer Lyrik kraftvoll und überzeugend entwickelt. Damit ein Gedicht Getäuscht! So sieht der schöpferische Prozeß in Wirklichkeit aus. Daß sein Ergebnis von der Mühe nichts preisgibt – abgesehen vielleicht von der Langsamkeit, mit der sich Zeile um Zeile hervorwagt – auch das ist Kunst, und große dazu. Begraben sein Dem Erdreich Der Sinne Danken Doch sie wagt es, auch von der Liebe zu reden. Nicht allein von erinnerter oder geistgeläuterter Liebe. Stormy Weather Es schluchzt Und dann unser kleines Schweigen Auch, wenn das Gedicht undatiert ist, können wir annehmen, es ist nicht schon zur Jungmädelzeit der Autorin entstanden. Der englische Titel, unter anderem, legt das nahe. Das Auf und Ab Platonisch ist das nicht. Es ist kein Empfinden, das seine Berechtigung nach Lebensjahren bemißt. Es ist zeitlos jung, und es ist mutig. Ihr Jungen wollt wissen Und was es dafür gibt: Wenn sich denn ein Hauptmotiv zeigt, das aus diesem glutvollen Bildreigen hervortritt, eine Botschaft, die dem Leser als großes Finale geschenkt wird, dann ist es die Liebe. Die Liebe Die Liebe, die nicht teilbar ist zwischen Körper und Geist. Die in allem ist und in allem die eine, in den Eisblumen am Fenster, in Noldes Garten, im Wort, das den Weg zu uns findet, in der Hand, die uns liebkost und in der Hand, die Erde auf unser Grab wirft.
Gleichwohl sind dies keine „Judenschicksal-Gedichte.“ Auch an diesem Lebensabschnitt hat das lyrische Ich seine Arbeit getan, er war „zu bestehen“, wie die Autorin selbst es ausgedrückt hat, menschlich und künstlerisch, doch eben als Abschnitt eines Lebens, nicht als sein zentrales Motiv. Mit ihrem Zelt aus Wörtern, ihren „Wortbündeln“,
und in den
Fluß der Zeit
geworfen
Ob sie nun die Geburt ihrer Kinder notiert
auf meinem blitzblanken Schrei
trank der Vater
seine letzten
Atemzüge
schluckte sie
hinunter
starb
mit dem Fingernagel
gezogen
Breite Bänder und Flecken
mit der Fingerkuppe getupft
Oft spricht sie in kurzen, auch verkürzten Sätzen, Ausdruck einer Spannung, die sich in Gedankenblitzen entlädt, in prägnanten gegensätzlichen Bildern
fällt zur Erde
und zerscherbt
Die Aster
blüht weiter
des anderen
vertrauen
und
rätselhaft
bleiben dürfen
Solchen Nah-und Weitblick, geschärft durch ein inneres Zu-Fuß-Unterwegs-Sein, übt sie auch auf ihren Reisen, an den Landschaften der Provence,
gewellt vom Mistral
der Weinstöcke
hingeduckt
an grau gebleichte Stäbe
irrlichtert hier
in Schein und
Widerschein
zu Grund
an diesem Ort
was für ein Fest
Aber
welche Trauer
am abgeräumten
Tisch zu sitzen
Zu spät
Tafelsilber
schimmert aus Kanälen
Ihr Denken in Bildern wirkt so organisch, so verblüffend leichthin, daß man bei ihr einen unablässig sprudelnden Urquell vermutet.
entsteht
muß ich
abertausend Worte
vergessen
Muß leer sein
und hoffen
daß ein Dutzend Worte
mich findet
und mir
angehören will
für immer.
Gleichviel, ob Panorama oder aphoristische Kürze - nichts ist gesucht, alles scheint wie selbstverständlich gefügt und gefunden. „Selbstverständlich“ soll nicht „altbekannt“ heißen, vielmehr: aus sich selbst verständlich, aus der inneren Logik des Bildes, die zu uns spricht.
Und das ist ein weiteres Verdienst ihres Buchs: zu beweisen, daß Gedichte auch heute lesbar und lesenswert sind. Entdeckerlust, geistige und sprachliche Neugier und die Bereitschaft, die Erfahrung des Menschseins zu teilen – das sind die Voraussetzungen, die einer mitbringen muß. Nicht verkrampfte Ehrfurcht oder aufgeblasene Fachwörterei. Es sind keine Gedichte, die sich für exegetische Klimmzüge eignen. Anschauen soll man sie, aufsammeln, nachschwingen lassen. Darin liegt ihre poetische Kraft.
Und noch eine Kraftquelle läßt sich verorten. Die Autorin ist Jahrgang 1930. Daß sie vom Altern spricht, vom Tod - man erwartet es fast.
keinen Schatten
mehr werfen
nicht mehr
die Sonne
verstellen
ledig
zum Sinn
heimkehren
denen
die uns
begraben
und jauchzt in mir
das Glück
Dich so beflügelt
erlebt zu haben
mein Sturmvogel Du
Windstille
Es grünt
und trocknet
und grünt
die Rose von Jericho
Dazu der Befund, daß der Buchabschnitt „Ich liebe und ich fürchte mich“, der ausschließlich Liebesgedichte versammelt, nahezu der umfänglichste ist.
meiner Hände
auf Deiner Haut
sammelt
geheimes Wissen
gibt Kunde davon
wie der Tanzflug der Imme
vom Nektar.
Auch hier der Blick in seiner ganzen fordernden Klarheit, nicht umflort von jener defizitären Wahrnehmung, die sich als „Altersweisheit“ verbrämt.
Einsicht, Einbuße, Einschränkung, ja. Doch Preisgabe, Abtötung, Kapitulation des Empfindens – niemals.
was das Leben
so in Zahlung nimmt
Fragt die Alten:
Kraft Anmut und
Ausdauer
Gesundheit Zähne und
Haar
Zeit Einsicht und
Gelassenheit
Dem einen oder andern
eine grüngoldene
Oktoberliebe.
hat mich
als Geisel
genommen
sie fordert
freien Abgang
aus diesem Leben
ich halte still
komplizenhaft still
will mit ihr fliehen
Die Liebe, die Anfang ist und Ende. Und doch wieder Anfang.
Die Liebe, trotz allem.
Wer sich auf diese wunderbaren Gedichte einläßt, den werden sie begleiten.
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Der Autor
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"Johann Peter" kam unter anderem Namen in Frankfurt am Main zur Welt, wanderte in den 90ern des letzten Jahrhunderts in den südlichen Westerwald ein, wo er noch heute als Lehrer und Schriftsteller lebt.
Er verfasst zumeist Erzählungen und Gedichte, hat eigene Bücher und Beiträge zu Büchern anderer veröffentlicht, ist Herausgeber (von Ludwig Rühle und Fritz Philippi) und organisierte literarische Projekte mit Schülern und Erwachsenen. Er hat weder Hund noch Katze, aber eine Schildkröte, und wahrscheinlich ist das der Grund, warum er sich in der Literaturszene nur sehr langsam bewegt.
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