Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 31

Juni 2006

Nachfolgender Beitrag bildete die Einführung zu der Tagung "Judenfeindschaft. Phänomene und Ursachen des ‘neuen’ Antisemitismus in Europa”, die im März 2005 in der Katholischen Akademie des Bistums Essen “Die Wolfsburg” stattfand.1

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

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Online-Extra Nr. 31


Wie tot ist Hitler?

Oder: Neuer Antisemitismus als Geschichte(n) ohne Ende?


KARL H. KLEIN-RUSTEBERG



Hannah Arendt, deutsche Jüdin in Amerika und politische Theoretikerin des 20. Jahrhunderts, war es, die sich zu dem Titel eines ihrer bedeutendsten Werke „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ in einem Brief kritisch äußerte. Die Rede von den „Ursprüngen“ war der Denkerin der Freiheit zu genealogisch, erschien ihr sprachlich zu nahe an „Ursachen“ und damit zu nahe der Idee einer Zwangsläufigkeit des Denkweges selbst: von der Ursache zur Wirkung. Auf diesem Weg setzt sich das Denken der Gefahr aus, der gedachten Wirklichkeit eine Folgerichtigkeit zu unterstellen, die der komplexen  Wirklichkeit menschlichen Handelns nicht gerecht werden kann. Politische Verantwortlichkeit soll sich nicht auf Folgerichtigkeit, als Quasi-Gesetzmäßigkeit des Handelns, berufen. Die Gefährdung politischer Freiheit unter Berufung auf historische Gesetzmäßigkeit gilt Arendt als Grundelement der Einschränkung von Freiheit.  

 Politische Diskussionen über „Ursachen“ verlängern sich in never ending stories. In einer so angenommenen, genealogischen Kette scheint es keine Unterbrechung, keine Entscheidung zu geben -  weder Katastrophen, noch Schritte der Freiheit scheinen denkbar. Statt Wahrnehmung der Tatsachen sind wir vor Überraschungen bewahrt. Wo aber bleiben Staunen und  Verblüffung? Wie entstünden das Fragen und das Selbstbefragen? Letztlich, so ließe sich mit Arendt ergänzen: Wo bliebe das Denken? Verliefe das Politische ohne Überraschungen, in der Geschichtsschreibung „Zufall“ genannt, wie wären „gut“ und „schlecht“ zu unterscheiden? Wo blieben „besser“ oder „schlechter“ im Blick auf politisch-historische Vergleiche?

Wer aber wollte angesichts des 20. Jahrhunderts ernsthaft behaupten, es gäbe keine Überraschungen – zum Guten, wie zum Bösen? Der Totalitarismus selbst war für Hannah Arendt eine neue Herrschaftsform – nicht Diktatur, nicht Tyrannei, nicht Despotismus. Der Totalitarismus galt ihr als umfassende, total böse Überraschung historischer Beispiellosigkeit. 

Die Phänomene mit denen nicht nur Europa nach den Umbrüchen um das Jahr 1989 konfrontiert ist, lassen sich als ein Konglomerat von Überraschungen beschreiben. Politische Orientierungen und Koordinaten, bis dato durch die bipolare Ordnung auch im Denken stabilisiert und vorherrschend im westlichen Denken geworden, sind, wenn nicht verloren gegangen, so doch „mächtig“ durcheinander geraten. Und das gilt selbst für Phänomene und Grundannahmen, von denen wir vor noch wenigen Jahren mit größter Sicherheit behaupten wollten, dies sei „so“ oder eben „so“.

Zu diesem Konglomerat der Überraschungen gehört auch das altbekannte und doch auch verwirrend neue Phänomen dessen, was als neuer Antisemitismus in wissenschaftlichen Werken, politischen Stellungnahmen und in der Publizistik bezeichnet wird.

Was ist „neu“ am neuen Antisemitismus? Was ist „alt“ an diesem in Europa agierenden Antisemitismus? Führt das Moment der Verunsicherung, der Überraschung und Destabilisierung unseres Denkens, gegenwärtig in so deutlicher Weise überhaupt mit diesem gewaltigen Phänomen konfrontiert zu sein, das wir doch mit dem Verweis auf Auschwitz als weitestgehend gebändigt gedacht hatten, zu neuen Fragen? Sind unsere über Jahrzehnte stabilisierten Denkmuster fähig, neue Entwicklungen buchstäblich zur Kenntnis zu nehmen? Oder gilt es lediglich, die alten, also vor-89er Lehren aus der Geschichte neuen Bedingungen anzupassen? So hätten wir es mit einem weiteren Lehrstück zum Thema “Tradition und Erneuerung“ zu tun.  

In Anlehnung an den Schriftsteller Georges Bernanos (1888-1947) erwähnt der französische Philosoph Alain Finkielkraut den Hinweis,  Hitler habe dem Antisemitismus Schande gemacht. „Fünfzig Jahre sind die Juden des Westens durch den Schutzwall des Nationalsozialismus geschützt gewesen.“2 

Was ist aus diesem Schutzwall geworden? Ist der Wall von den Reibungen und durch die Brüche der Zeit(-geschichte) abgetragen oder durchlässig worden? Warum jedenfalls erfüllt der Wall nicht mehr die Funktion des Schutzes? Oder haben wir über diesen Wall nicht hinübersehen und so auch in den eingehegten Zeiten der wechselseitigen Abschreckung die Präsenz des Antisemitismus in neuer Gestalt nicht sehen wollen und denken können?

Dann wäre dieser Wall eigentlich nicht ein Schutzwall, sondern ein Wall der Wahrnehmung gewesen, dessen Zementierung durch die oben erwähnte stabile Ordnung der Welt und als ein Angebot an stabiles Denken, gesichert und sichernd schien. Haben die Formen und Bedingungen des Kalten Krieges und der bipolaren Ordnung auch unsere Erinnerung und so die vielzitierten und beschworenen Lehren aus der Geschichte geprägt? Gilt dann nicht auch weiter die Frage „Was hat der Kalte Krieg bzw. die bipolare Weltordnung mit dem christlich-jüdischen Verhältnis in Europa gemacht?“  

Zur Annäherung an diese Fragen lade ich auf einen Denk-Umweg über Amerika ein. Dieser Umweg führt in zwei exemplarische Diskussionen. Es sind Diskussionen und Kontroversen der politisch-kulturellen Entwicklungen in den USA aus jüdisch-amerikanischer Perspektive, die in Europa Folien anbieten, nicht um deckungsgleich mit unseren Herausforderungen verglichen zu werden, sondern im Kontrast Amerika/Europa angesichts unserer überraschend veränderten Verhältnisse und gegenwärtiger Ereignisse für unser Verstehen hilfreich zu sein. Insofern geht es nicht darum, unsere Fragen global zu subsumieren oder zu reduzieren. Hingegen geht es um die reale Erfahrung eines global erscheinenden Antisemitismus, den wir uns bemühen in seinen Komplexitäten und Kontexten, unter gänzlich veränderten Bedingungen als wir sie aus der bipolaren Ordnungszeit kennen, neu zu ordnen. Hierzu hilft der transatlantische Blick.


Wie tot ist Hitler?

Hitler habe dem Antisemitismus Schande gemacht, so also Alain Finkielkraut. Die Schande scheint getilgt, der Antisemitismus in Europa ist präsent.

„Hitler Is Dead“, so betitelte der amerikanische Literaturkritiker Leon Wieseltier wenige Wochen nach den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon einen Beitrag zur Debatte über die Bedeutung und Wahrnehmung dieses Angriffs für Juden in den USA3  in der Zeitschrift The New Republic. Wieseltier schreibt:

„Hat Geschichte jemals so schamlos mit einem Volk gespielt, wie Geschichte mit den Juden in den 40er Jahren? Es war ein Jahrzehnt aus  Asche und Honig; ein Jahrzehnt so zuschlagend und markant, dass es die Fähigkeit derjenigen, die es erlebten,  prüfte einen festen Weltblick und den Glauben an die Welt zu bewahren.“

Mit seinem Beitrag wollte der Autor vor historisierenden Analogien warnen, die möglicherweise angesichts des 11. September 2001 und den Herausforderungen des Djihad-Terrorismus auf falsche Fährten führen. Der Beitrag Leon Wieseltiers kann also auch als Erinnerung daran gelesen werden, dass wir mit dem Blick auf die immer als lehrreich vermutete Vergangenheit den Ausgang aktueller Entwicklungen, neue Gegenwart also, nicht kennen können.

Ist es möglich, so können wir in Anlehnung an Wieseltier zugespitzt fragen, dass “Hitler“ - als eine der vorherrschenden negativen Inkarnationen der Geschichtsbelehrung des 20. Jahrhunderts - gar der Wahrnehmung von Tatsachen im Wege steht, wenn wir Phänomene und Ereignisse der Gegenwart verstehen wollen und sie weiterhin in ihren potentiellen Reichweiten und Folgen abzuschätzen beabsichtigen?

Im Jahr 1948 veröffentlichte Simon Rawidowicz, wie Leon Wieseltier weiter schreibt, „eine große Schrift des Pessimismus“ unter dem Titel Das ewig sterbende Volk. Nach Rawidowicz gab es kaum eine jüdische Generation in den Zeiten der Diaspora, die nicht davon ausgegangen wäre, mit ihr sei nunmehr das letzte verbindende Glied in der Kette Israels erreicht. Jede Generation sah den Abgrund, in den sie gerissen zu werden drohte. „Es machte oft den Eindruck“, so Rawidowicz von Wieseltier zitiert, „als ob die überwiegende Mehrheit unseres Volkes von der Panik die Letzten zu sein getrieben sei.“4

In den Wochen nach dem 11. September 2001 habe er, Wieseltier, häufig an Rawidowicz´ pessimistische Schrift denken müssen. Denn auch jetzt gebe es diese jüdische Panik. Der israelisch-palästinensische Konflikt, der virulente Antizionimus, der Antisemitismus in der arabischen Welt und die Zunahme anti-jüdischer Worte und Taten in Europa, all dies habe Juden veranlasst erneut anzunehmen, sie seien das letzte Glied in der Kette Israels.

Wieseltier befragt und kritisiert diese Haltung. Juden seien in die Phantasie des Desaströsen abgesunken, es gehe die intellektuelle Überprüfung verloren. Eine der zugespitztesten Formulierungen des Autors: Angst sei zum übergeordneten Nachweis von Authentizität geworden. Ungenaue und flammende Analogien seien allgegenwärtig. Die Holocaust-Phantasie sei überall zu hören und zu lesen. Das eigentliche Thema in den Diskussionen über die Feindschaften der Palästinenser gegenüber Israel aber – so mahnt Wieseltier – trägt einen anderen Titel: Hitler.

Wieseltier belegt seine Argumente, die heftigste Kritik auch enger publizistischer Freunde provoziert haben, mit zahlreichen Beispielen. Da ist Ron Rosenbaum im NEW YORK OBSERVER  zu lesen, der vom „zweiten Holocaust“ schreibt. Oder George Will, ein weiterer bekannter amerikanischer Publizist, schrieb eine Kolumne unter dem Titel „Endlösung. Zweiter Teil“. Israel erlebe jetzt das von dem man meinte, es dürfe sich niemals wiederholen. Und mit Wieseltier sei als letzter Kommentator Charles Krauthammer zitiert, der das Pessach-Massaker von Netanya, bei dem am 22. März 2002 zweiundzwanzig Menschen durch einen Selbstmordattentäter getötet und einhundertvierzig verletzt worden waren, in der WASHINGTON POST als „Die neue Kristallnacht“ kennzeichnete.

Tauben ebenso wie Falken, konstatiert Wieseltier, seien entnervt. Im liberalen NEW YORK MAGAZINE war zu lesen, es wundere ihn (den Autor Nat Hentoff) nicht, wenn eines Tages auf dem Time Square ein Lautsprecher angestellt wäre und eine Stimme vermelde: „Alle Juden haben sich auf dem Time Square einzufinden!“.

Diese Phantasien, ergänzt um weitere Beispiele, nennt Wieseltier grotesk. So sei das Pessach-Massaker von Netanya keine zweite Kristallnacht gewesen. Es wurden zweiundzwanzig Juden gemordet, nach der Zerstörung einer terroristischen Basis durch Israel. Nur ein Narr könne glauben, das Massaker sei ein Auftakt zur Auslöschung der Juden in Israel. Diese Analogie zu ziehen sei vor allem der Annahme geschuldet, es gäbe keine politische Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt, schließlich sei ein Friedensprozess mit dem Dritten Reich auch nicht möglich gewesen.

Nach Wieseltier handelt es sich bei all dem nicht um wirklich historische Argumente. Vielmehr sind es historisch verkleidete, politische Argumente. Ergebnis solcher Verkleidung ist die Paralyse des Denkens und der Diplomatie.

Keine Gewalt ist wie die andere, fährt er fort. Allerdings sei das „Denken in Typologien“ für das Denken über jüdische Geschichte in den letzten Jahrhunderten vorherrschend. Immer gehe es um den gleichen Feind und es sei ein Krieg der geführt werde. Das wirkliche Problem solch typologischen Denkens sei überhaupt nicht das geschichtliche Denken. Hingegen ist es vielmehr das unhistorische Denken. Alle Unterschiede macht dieses Denken unbestimmt und löscht die Unterschiede somit aus. „Historiosophie ist keine Strategie“ schreibt Wieseltier. Historisches Denken aber ist konkret. Es ist an Erfahrungen orientiert, ist praktisch und säkular.

Hierfür aber - erfahrungsbezogen, praktisch, säkular -  stehe die Revolution des jüdischen Geistes. Nach den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts ist für Juden die Geschichte eben nicht nur schicksalhaft. Juden lernten ihr Schicksal auch durch Interessen zu beachten. Diese Lektion heißt Zionismus. Niemals wäre ein jüdischer Staat ohne diese Bewegung und Revolution entstanden. Die Zwickmühlen jüdischer Gegenwart können nicht ohne die rettenden Diskontinuitäten zur jüdischen Vergangenheit5 verstanden werden. Mit der Revolution des jüdischen Geistes haben die Juden erkannt und gezeigt: Wir sind nicht mehr das letzte Glied der Kette der Generationen. Nicht um den einen Feind zu zerstören, sondern um ihn zu verneinen wurde Israel geschaffen.

So weit ein nur kurzer Überblick über kritische Argumente Leon Wieseltiers, deren Bezug auf die weitreichenden und kontroversen Amalek-Überlieferungen und -deutungen, die Wieseltiers Kritik grundieren, hier nicht weiter aufgezeigt werden können.

Eine zentrale Frage für die „Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ wäre die nach dem Stellenwert, den die Fragestellung Leon Wieseltiers auch für die nichtjüdischen, christlichen Beteiligten in der Gegenwart, also nach 1989, besitzt.

Wenn die Gründung des Staates Israel Revolution des jüdischen Geistes ist und ihr Resultat ist, so ließe sich fragen, ob wir in Europa auch nur ein historisch annäherndes Ereignis erinnern, eine „Revolution des ..... Geistes“ erfahren und daran anknüpfen können, um Begründung und Kraft in der Kritik und im Kampf gegen Antisemitismus nicht allein aus „Hitler“ zu ziehen?

Wir wissen um die Gefahr des anmaßenden, substituierenden Vergleichs, wenn jüdische Geschichte als erinnertes Kontinuum mit profaner, allgemeiner Geschichte verglichen wird. Wenn es denn nicht um Vergleichbarkeit oder Analogien geht: Wäre etwa der Eintritt der USA in die europäische Geschichte im Jahr 1944 in seinem Bedeutungsgewicht der erwähnten Revolution ähnlich? Andererseits: Würde das Bild der jüdischen Revolution des Geistes in der Gründung des Staates Israel so Christen verständlicher? Diese Fragen müssen offen bleiben.

Der Beitrag Wieseltiers entstand im nahen zeitlichen Umfeld des 11. September 2001. Doch Wieseltiers Fragen sind keinesfalls allein der Unmittelbarkeit des Schocks „11. September“ geschuldet. Es sind vielmehr Fragen, die der Autor im Hinblick auf jüdische Geschichtsschreibung zuvor mehrfach thematisiert hat.

Der Verweis auf eine weitere Diskussion aus den USA soll die bislang aufgeworfenen Fragestellungen kontrastieren und revidieren. Diese Diskussion entwickelte sich drei Jahre nach dem 11. September, also in größerem Anstand, jedoch nicht minder prägnant. Sie betonen die Frage nach den geschichtlichen Diskontinuitäten in Form des Romans und lassen sich als literarische Befragung Wiesetiers lesen. Der Kontrast der beiden Autoren bildet sich primär vor dem Hintergrund der Frage des jüdischen Vertrauens in die amerikanische Republik. Es geht um einen kurzen Verweis auf den bislang jüngsten Roman Philip Roths, der die europäische historische Kernerfahrung des 20. Jahrhunderts in die amerikanische Geschichte literarisch transferiert.


Ist „Frieden“ judenfeindlich?

In einem Essay über die Entstehung seines Romans, The Plot Against America6 , erzählt Philip Roth wie er, angeregt und beeindruckt von der Biographie des Historikers Arthur Schlesinger jr., sich daran erinnerte, dass auch ihn die 30er und 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts deutlich geprägt haben. Er interessierte sich in der Biographie des Historikers ganz besonders für die Ereignisse jener Zeit, die so tiefe Besorgnis in seiner Familie hinterlassen hatten, über das was sich in Europa und Amerika ereignete. Schon bevor er, Philip Roth, in die Schule gekommen war, wusste er etwas vom Antisemitismus der Nationalsozialisten und vom Antisemitismus in Amerika. Letzterer war geprägt durch Jahrhundertfiguren wie Henry Ford und Charles Lindbergh, die in jener Zeit ähnlich berühmt waren wie die Filmstars Chaplin und Valentino. Hinzu kam der Rundfunkprediger Charles Coughlin, der Nation antisemitischer Propagandaminister, wie Roth ihn nennt.

Während der Lektüre der Schlesinger-Biographie stieß Roth auf eine Notiz: Schlesinger wies darauf hin, dass sich einige isolationistisch orientierte Republikaner dafür ausgesprochen hatten, Charles Lindbergh 1940 zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen zu machen. An den Rand des Schlesinger-Textes schrieb Roth wiederum seine Notiz: Was, wenn die Republikaner dies getan hätten?

Zwischen dieser notierten Frage aus dem Jahr 2000 und dem Niederschreiben des Romans liegen drei Jahre der Arbeit. Das Ergebnis ist der 2004 erschienene Roman The Plot Against America.

Mit dem Roman verfolgt Roth die Absicht, der Frage, was hätte geschehen können, wenn die Kandidatur Lindberghs real geworden wäre, nachzugehen und sie auszubuchstabieren. Seine Aufgabe sah Roth darin, die geschichtliche Wirklichkeit zu verändern und Charles Lindbergh zum 33. Präsidenten Amerikas zu machen, alles weitere aber so nahe wie es ihm eben möglich war an der Tatsachenwahrheit zu halten. Er wollte die Atmosphäre jener Zeit echt erscheinen lassen und eine Wirklichkeit so authentisch präsentieren, wie die in dem Buch Arthur Schlesingers, auch wenn er im Unterschied zum Historiker der Geschichte eine Wendung gebe, die sie nicht genommen hat. Hier also liegt die Wendung zum Roman. Roth schaffte sich so die Möglichkeit, wie er schreibt, seine Eltern „wieder aus dem Grab zurückzuholen und sie wieder zu dem zu machen, was sie auf der Höhe ihrer Kraft in den späten 30er Jahren waren“. Und all dies unter dem enormen Druck einer jüdischen Krise der späten 30er und frühen 40er Jahre, mit der sich zuvor ein in New Jersey Geborener niemals konfrontiert gesehen hatte. Ähnlich wie Roth durch die mehrjährige Arbeit an dem Roman mit seinen Eltern in Berührung kam, berührte er auch die geschichtliche Periode und kam so in Berührung mit dem kleinen Jungen, der er selbst gewesen war, weil er auch ihn glaubwürdig zu porträtieren beabsichtigte.

Roth geht mit dieser Schreibweise von keinen literarischen Vorbildern aus. Orwells „1984“ habe die historische Zukunft vorstellbar machen wollen. Im Jahr 1948 schreibt Orwell über eine historische Katastrophe, die an den Katastrophenvorbildern des 20. Jahrhunderts orientiert war, also an  Hitlers Deutschland und Stalins Russland. Roth hingegen beabsichtigt nicht, sich an historischen Modellen oder Vorbildern zu orientieren. Seine Begabung liege eher darin, etwas kleines zu schreiben; klein genug um hoffentlich glaubwürdig zu sein. Er orientiert sich daran, was leicht in der Präsidentschaftswahl 1940, als das Land voller Wut geteilt war, hätte geschehen können. Da waren die isolationistischen Republikaner, die - nicht ohne Grund, wie Roth meint – kein Teil des zweiten europäischen Krieges werden wollten und damit wahrscheinlich eine leichte Mehrheit im Land repräsentierten. Und dann waren da die Demokraten, die zwar nicht unbedingt als Interventionisten in den Krieg ziehen wollten, die aber davon überzeugt waren, dass Hitler gestoppt werden müsse bevor es zu einer Invasion und Besatzung Englands komme. Bevor Europa völlig faschistisch sei und unter seine, Hitlers, vollständige Herrschaft gelange. Die Zeit laufe sonst aus, so lässt sich in Anlehnung an ein aktuelles Wort des gegenwärtigen US-Präsidenten George W. Bush die Position der Demokraten jener Zeit umschreiben. 

Warum suchte sich Roth die Figur Lindbergh für dieses Thema?

Schnell wurden nach der Veröffentlichung des Buches von Philip Roth in den USA im Herbst 2004 Parallelen in die amerikanische politische Gegenwart gezogen. Derartige Parallelen aber verwirft Roth in seinem erwähnten Essay. Zwar gehört der Schriftsteller zu den Kritikern der Bush-Administration und das Buch kam in Zeiten des Präsidentschaftswahlkampfs 2004 auf den Markt. Doch Roth geht es um anderes. Und dieses „andere“ macht die ganze Sache um dieses Buch aus europäischer bzw. deutscher Sicht nicht nur interessant, sondern politisch interessant und relevant.

Es geht Philip Roth nach eigenem Bekunden darum, für Juden in den USA einen authentisch amerikanischen Antisemitismus spürbar werden zu lassen. Und Charles Lindbergh dient dem Autor hierfür als politische Leit- und Zeitfigur. Dabei steht für Roth nicht im Vordergrund was Lindbergh tat. Vielmehr geht es darum zu erzählen, was Juden zu recht oder unrecht angesichts dieser Figur zu erwarten gehabt hätten.

Gerade nach Lindberghs öffentlichen Äußerungen und Verleumdungen gegen Juden in einer über das ganze Land ausgestrahlten Rundfunkerklärung drängt es den Autor, nach eigenem Bekunden, hierüber zu schreiben bzw. zu erzählen. In der Rundfunkrede erklärt Lindbergh die Juden zu Kriegstreibern, indifferent gegenüber amerikanischen Interessen.

Die Kritiken und Besprechungen des Romans in den USA sind kaum zu überschauen. Neben dem erwähnten Leon Wieseltier hat sich auch der viel beachtete Literaturkritiker Paul Berman dieses Romans angenommen. Berman zitiert in seiner Besprechung des Roth-Buches7 den markanten Slogan, der für Lindbergh zu einem der machtvollsten im Wahlkampf 1940 werden sollte: „Für Lindbergh stimmen oder für den Krieg!“.

Wie lässt sich der in diesem Slogan so kraftvoll behauptete Anspruch, gegen den Krieg zu sein, kritisieren? Lässt sich ein solcher Anspruch überhaupt kritisieren? Wie ist es möglich, einen Gegen-Slogan zu propagieren? Und gelten diese und zahlreiche weitere Zweifel an der Legitimität der Kritik auch oder gar besonders für Juden? Machen sich Juden nicht lächerlich, wenn sie mit dem Verweis auf die Situation der Juden in Europa gegen den Anti-Kriegskandidaten öffentlich Stellung beziehen bzw. für den Gegenkandidaten votieren und dies auch öffentlich bekunden? Würde es nicht den Antisemitismus schüren, wenn Juden sich für eine amerikanische Kriegsbeteiligung in Europa aussprechen?

Jedenfalls liegt der Zusammenhang an einer nicht nur aus deutscher Sicht prekären Schnittstelle, die von dem oben erwähnten Paul Berman im New York Times Magazine im Hinblick auf das Buch von Philip Roth ganz gegenwärtig auf den Punkt gebracht wird: „Der Antisemitismus, den Roth beschreibt, entspringt weitestgehend dem Antikrieg-Ressentiment. Man glaubte, es trügen die Juden und nicht die Nazis die Verantwortung für den Krieg und seien so an ihrem Eigeninteresse vor allen anderen Interessen vorteilhaft orientiert.“ Der darauf folgende Satz von Berman, davon habe sich einiges als Ressentiment in unsere Zeit gerettet, wird noch zu interessieren haben.8

Es sei nochmals betont, um dem Autor Philip Roth nicht zu Unrecht Motive zu unterstellen, die er ausdrücklich ablehnt: The  Plot Against America ist keine Allegorie auf die Gegenwart. Vielmehr arrangiert Roth erneut Fragen in der Gegenwart des entstehenden Romans im Jahr 2004, die sich für Juden durch die Geschichte der modernen Gesellschaften, im „Kaleidoskop der 40er Jahre“ (Berman), stellen.  Angst stellt sich nach den Jahrzehnten des erfolgreichen sozialen Aufstiegs und der Integration von Juden in die amerikanische Gesellschaft nicht mehr allein als Herausforderung eines symbolischen Kulturkampfes, wie in den 80er und 90er Jahren. Angesichts „9/11“ stellt  sich Angst existentiell ein. Roth beschreibt diese nun auch für ihn zum  Thema gewordenen Angst im Milieu des Familienlebens und den Nöten, Entbehrungen, dem Hin- und Hergerissen-Sein als Kind der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts.

Mit dem Slogan des Lindbergh-Gegenkandidaten, Franklin D. Roosevelt, erhält die Zerrissenheit für den Autor Roth wie für den Leser spürbaren Ausdruck: „Wir – wählen – die Freiheit!“.

Der Deutsche Rundfunk entlarvt seinerzeit eine Verschwörung durch „den Kriegstreiber Roosevelt – in Verbindung mit seinem jüdischen Finanzminister, Morgenthau, seinem jüdischen Richter am Supreme Court, Frankfurter, und dem jüdischen Investment-Banker Baruch.“ Finanziert werde diese Verschwörung durch die jüdischen Nützlinge Warburg und Rothschild, ergänzt durch politische Begleiter, wie dem New Yorker Bürgermeister, dem halb-jüdischen Gangster La Guardia  und anderen. Und all dies, um Roosevelt wieder ins  Weiße Haus zu bringen und einen Krieg der jüdischen gegen die nicht-jüdische Welt zu lancieren. Dem Kommentator Berman ist zuzustimmen, wenn er schreibt, dies also sei das Nazi-Gerede über Amerika, das über die Rundfunkwellen ausgestrahlt wurde und es sei in seiner Weise ein erhellendes Gerede.

Spätestens mit diesem Hinweis konfrontieren wir uns ausdrücklich mit den Gegenwärtigkeiten und einigen ihrer Herausforderungen, wie wir sie dann auch im Titel des „neuen Antisemitismus“ finden.

Tritt nicht heute die fundamentale Ablehnung des Staates Israel auch als Friedensbotschaft auf? Gilt nicht Israel in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit und im arabischen Raum als der Herd umfassender Kriegsgefahr?

Und: War nicht der Wunsch nach Frieden eine der zentralen Lehren des ´Nie-wieder´ aus der deutschen Geschichte? Ist nicht dieser Frieden das Band europäischer Selbstverständigung? Was aber gilt, wenn Denker wie Jürgen Habermas die Anti-Irak-Krieg-Demonstrationen als Gründungsakt des neuen Europa (erneut Polen vergessend) publizistisch anbieten? Was haben Jürgen Habermas und andere zu den Entwicklungen in der Region des Nahen Ostens nun, angesichts einer prekären, aber doch auch die Chance zur Erneuerung gewährenden Verunsicherungen der despotischen arabischen Regimes, zu sagen? Und was sagen die Kirchen Europas und die in Deutschland dazu wenn - angenommen – Demokratie in der Region, zwar nicht von außen verordnet, doch so vorbereitet und gewaltig angestoßen werden kann, so dass despotische Alternativen entgegen den Jahrzehnten der Kontinuität keine Chance zu dynastischer Fortsetzung finden? Warum erinnern wir uns hier nicht deutlicher an die Voraussetzungen und Folgen der deutschen Nachkriegsdemokratie? Warum steht die Rede von der Erinnerung nicht gleichermaßen hierfür?

Eine Antwort auf die eingangs gestellte absurde Frage, wie tot Hitler sei, kann vorläufig lauten: Er ist zumindest so tot, dass wir vor Überraschungen, die jenseits unserer historischen Reflexhaftigkeit liegen, die in allen kritikwürdigen und bedenklichen Ereignissen Hitler vermutet, nicht so sicher sein sollten. Auch unsere historischen Lehren dienen unseren Identitäten im hier und jetzt.
Der Erinnerungsposten der Gegenwart, „1989“, kann als Chance auch des freien Denkens gesehen werden, wenn auch diese Überraschung der Freiheit böse enden kann.

Geschichte kennt keine Wiederholung. Ist die offene Gesellschaft, die westliche Zivilisation für Überraschung offen? Ist das christlich-jüdische Gespräch, wie es sich als Nachkriegsgespräch etabliert und institutionalisiert hat, offen für Verblüffungen angesichts ihres (eigenen) historischen Rahmens? Die Bewährung dieses Gespräches, so es nicht um seiner selbst willen geführt wird, steht aus. Vor Überraschungen sind wir nicht sicher. Die Leitfrage bleibt: Wie tot ist Hitler?  Lindbergh jedenfalls lebt .  




ANMERKUNGEN



1 Leicht überarbeitete Fassung der Einführung in die Tagung. Zum Zeitpunkt der Tagung lag der unten aufgenommene Roman von Philip Roth deutsch-sprachig noch nicht vor. Kritiken und Diskussionsbeiträge zur deutschen Ausgabe „Verschwörung gegen Amerika“ (München/Wien 2005) bleiben hier auch dann unberücksichtigt, wenn sie die hier angedeuteten Fragestellungen zuspitzen würden. Völlig unberücksichtigt bleibt – selbstverständlich – die für die Geschichtsschreibung fundamentale und letztlich dieser einführenden Bemerkungen zugrunde liegende Fragestellung über Zufall und Geschichte.

2 Alain Finkielkraut: Im Namen des Anderen. Reflexionen über den kommenden Antisemitismus, in: Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt am Main 2004, S. 119

3 Leon Wieseltier: Hitler Is Dead – Against Ethnic Panic. THE NEW REPUBLIC - May 27, 2002.

4 Ebd.

5 Eine dieser rettenden Diskontinuitäten jüdischer Geschichte – hier beispielhaft erwähnt - ist für Leon Wieseltier der friedliche Wettstreit um jüdische Zukunft zwischen Israel und dem jüdischen Leben in den USA, „zwischen Souveränität und Pluralismus“ wie er es formuliert.

6 Philip Roth: The Story Behind „The Plot Against America“, in: NEW YORK TIMES MAGAZINE, September 19, 2004, sowie ders.: The Plot Against America, London 2004

7 Paul Berman: ´The Plot Against America´: What if It Happened Here? In: NEW YORK TIMES MAGAZINE, Oct. 3, 2004

8 ebd.


Der Autor

KARL H. KLEIN-RUSTEBERG


geb. 1952, studierte Erziehungs- und Politikwissenschaften. Neben seiner Tätigkeit in der Beratung für ausländische Studierende in der Evangelischen Studierendengemeinde an der Universität Duisburg-Essen arbeitet er seit vielen Jahren als Mitarbeiter der ALTE SYNAGOGE Essen. Er war im Jüdischen Museum in Berlin tätig und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen der jüdischen Geschichte nach 1945 im deutsch-amerikanischen Vergleich. 
Er ist Geschäftsführer der „GESELLSCHAFT FÜR CHRISTLICH-JÜDISCHE ZUSAMMENARBEIT Essen e.V