Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 194

November 2013

Das Attentat auf den israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin vor fast genau 18 Jahren am 4. November 1995 gilt gemeinhin als eines der markantesen Wendepunkte in der jüngeren Geschichte des Nahost-Friedensprozesses. Den tödlichen Schüsse des Attentäters Yigal Amir schien nicht nur Rabin sondern auch der Oslo-Friedensprozess zum Opfer gefallen zu sein. Haben die Kugeln Amirs mithin die Geschichte geändert?

Der Autor des heutigen ONLINE-EXRTRAs, der israelische Soziologe Natan Sznaider, ist skeptisch. Er verweist darauf, dass die Friedensbewegung bereits vor dem 4. November auf beinahe verlorendem Posten stand und kaum mehr über gesellschaftspolitisch einflussreiche Kraft verfügte. Dies habe sich nicht zuletzt an dem gesellschaftlichen Wandel gezeigt, der sich in der Folge des Attentats in der israelischen Gesellschaft vollzog: Der Friedensprozess in Israel wurde zum "innerisraelischen Friedensprozess, während der Friedensprozess mit den Palästinensern zum Anliegen der Amerikaner und Europäer wurde." Die Erinnerung an Rabins Ermordung wurde zunehmend entpolitisiert, der Blick der israelischen Gesellschaft wandte sich fortan nach innen. Und hier rückten Fragen und Probleme des Lebensunterhalts, der Mietpreise und Lebensmittelkosten in den Mittelpunkt, die zu einem neuen innerisraelischen Schulterschluß motivierten, während die Rabin-Ermordnung im Kontext des Oslo-Friedensprozesses einst die Gefahr des "Bruderkriegs", der gesellschaftlichen Spaltung heraufbeschwor.

Sznaider beschreibt und analysiert in seinem nachfolgenden Essay diese Zusammenhänge und zeigt deren Wirkungen bis hin zu den Ergebnissen der letzten Wahlen in Israel auf: "Entweder/Oder: Ein Nachspiel zur Opferung von Jitzchak Rabin".

Sznaiders Beitrag erschien kürzlich zuerst in "Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ 45–46/2013), der Beilage der Wochenzeitung "Das Parlament", die dem Thema "Attentate" gewidmet war. Bitte beachten Sie dazu auch den Hinweis in der Anzeige weiter unten. 

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Autor: Natan Sznaider für bpb.de
 
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ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 193


Entweder/Oder:
Ein Nachspiel zur Opferung von Jitzchak Rabin 


NATAN SZNAIDER


"Ich möchte gerne jedem einzelnen von Euch danken, der heute hierhergekommen ist, um für Frieden zu demonstrieren und gegen Gewalt. Diese Regierung, der ich gemeinsam mit meinem Freund Shimon Peres das Privileg habe, vorzustehen, hat sich entschieden, dem Frieden eine Chance zu geben – einem Frieden, der die meisten Probleme Israels lösen wird. (…) Der Weg des Friedens ist dem Weg des Krieges vorzuziehen. Ich sage Euch dies als jemand, der 27 Jahre lang ein Mann des Militärs war."


Mit diesen Worten beendete Ministerpräsident Jitzchak Rabin am 4. November 1995 eine von seiner Partei, der Israelischen Arbeitspartei, und anderen Akteuren des Friedenslagers organisierte Kundgebung. Danach fielen drei Schüsse, und der Bürgerkrieg in Israel war entschieden.

Es war ein angenehmer Herbstabend in Tel Aviv. Der "Platz der Könige Israels" war wieder einmal voll besetzt mit jenen, die kamen, um das zwei Jahre zuvor mit den Palästinensern geschlossene Oslo-Abkommen zu unterstützen. Viele kannten sich, hatten schon oft gemeinsam gegen die israelische Besatzung "der Gebiete" demonstriert, für den Frieden, für ein in ihren Augen besseres Israel. Sie waren auch dabei gewesen, als im September 1982 auf demselben Platz gegen den Libanon-Feldzug und das von libanesischen Falangisten begangene und von der israelischen Regierung offenbar geduldete Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila protestiert worden war. Schon damals war es ihnen um einen moralischen Staat und um das von ihnen für so wichtig gehaltene Selbstbild eines aufgeklärten westlichen Landes gegangen. Der in diesem Milieu verhasste damalige Außenminister Ariel Sharon hatte daraufhin seinen Posten räumen müssen. 19 Jahre nach jener Demonstration und knapp sechs Jahre nach dieser wurde Sharon dann Ministerpräsident und veranlasste im Sommer 2005 den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen. Aber so weit sind wir noch nicht.


Glaube an Freiheit, Wirtschaft und materielle Interessen

Kehren wir zurück zum 4. November 1995. Nach vielen Jahren war man wieder am selben Ort; es herrschte gute Stimmung, und manche amüsierten sich, dass sie schon lange nicht mehr bei einer Solidaritätskundgebung einer Regierung mitgemacht hatten. Von 1977 bis 1992 war die Arbeitspartei entweder Opposition oder Koalitionspartnerin der rechten Likudpartei gewesen. Aber all das hatte sich im Sommer 1992 geändert: Die Arbeitspartei war wieder ans Ruder gekommen und mit ihr gestandene Veteranen der israelischen Politik wie der ehemalige Generalstabschef Rabin, der schon von 1974 bis 1977 die Regierungsgeschäfte geführt hatte, und sein innerparteilicher Rivale Shimon Peres, der als Außenminister natürlich auch der Demonstration beiwohnte. Seit drei Jahren regierten sie bereits mit der knappsten aller Mehrheiten. Die israelische Wirtschafts- und Kulturelite unterstützte diese Regierung mit großer Leidenschaft. Auch im Ausland war Israel wieder gern gesehen. Bill Clinton, der damalige US-Präsident und ein enger persönlicher Freund Rabins, sowie viele Investoren schauten hoffnungsvoll auf den Nahen Osten. Die Mauer in Deutschland war schon vor einigen Jahren gefallen, der Kalte Krieg eigentlich vorbei, Deutschland wiedervereint, und trotz anhaltender Kämpfe im ehemaligen Jugoslawien glaubte man an einen neuen Aufbruch in der Welt. Ein "Ende der Geschichte" lag in der Luft. Man glaubte an das Primat der Freiheit und der Wirtschaft.

Die Demonstranten auf dem "Platz der Könige Israels" fühlten sich als Teil dieses Aufbruchs. Sie verstanden sich als Teil des Westens, als Teil Europas und der USA, als Teil einer neuen, sich globalisierenden Welt. Sie vergaßen für einen Moment, dass die israelische Regierung zwar legal gewählt war, aber für einen großen Teil der Bevölkerung keine Legitimation mehr hatte. Aber das sahen die Anhänger des Friedenslagers nicht. Die Geschichte war – so dachten sie – auf ihrer Seite. Mit dem Ende des Kalten Krieges sollte auch der Nahostkonflikt ein Ende finden. Außenminister Peres sprach unermüdlich vom "neuen Nahen Osten". Dieser sollte künftig eine Brückenposition einnehmen zwischen dem geeinten Europa auf der einen und den "Tigerstaaten" im Fernen Osten auf der anderen Seite. Mit arabischen Ölvorräten und Arbeitskräften sowie israelischem Know-how und Hightech könnte die Welt neu gestaltet werden. Frieden sollte herrschen und die Juden in Israel endlich in Frieden mit sich und ihrer Umgebung leben. Man glaubte an das Primat der materiellen Interessen.


Wie hältst du’s mit dem Konflikt?

Die Stimmung war also gut auf dem "Platz der Könige" – im Kontrast zur aufgeheizten Atmosphäre im Land. Die Demonstranten wollten sich den öffentlichen Raum wieder zurückerobern. Zu viele schlimme Dinge waren in den Wochen und Monaten zuvor geschehen, und sie hatten deutliche Spuren bei den Israelis hinterlassen. Als im Oktober 1994 in einem voll besetzten Autobus im Zentrum von Tel Aviv die Bombe eines Selbstmordattentäters explodierte und mehr als zwanzig Menschen in den Tod riss, zweifelten viele am Sinn und an den Erfolgschancen eines Abkommens mit den Palästinensern. Wie oft konnte Rabin noch von den "Opfern des Friedens" sprechen? Und die Anschläge gingen auch 1995 weiter. Bereits im Februar 1994 hatte ein jüdischer Terrorist – Baruch Goldstein – in Hebron das Feuer auf betende Muslime eröffnet und dabei 29 Menschen getötet und mehr als hundert verletzt – bis dahin ein für viele Juden in Israel undenkbarer Vorgang.

All dies wussten die Demonstranten, die am Abend des 4. November kamen, um dennoch ihre Solidarität mit Rabin und dem Oslo-Abkommen zu bekunden. Damals war der Konflikt noch der entscheidende Punkt, an dem sich die israelische Gesellschaft spaltete. "Sag mir, wie hältst du’s mit dem Konflikt?" – das war die israelische Gretchenfrage damals. Noch war die israelische Gesellschaft nicht so nach innen gekehrt, wie sie es knapp zwanzig Jahre später sein sollte. Heute sind es nicht mehr die Besatzung und "die Gebiete", sondern die steigenden Lebenshaltungskosten, welche die Israelis auf die Straße bringen. Damals sah man das noch anders. An diesem Abend sahen sich die Demonstranten als das fortschrittliche, aufgeklärte, säkulare, demokratische, liberale und städtische Israel.

Das andere Lager, das waren die Ewiggestrigen, die Klerikalen, die Nationalisten, die Rechten – diejenigen, die auf die Heiligkeit der Erde pochten und nicht daran glaubten, dass die Palästinenser an einem Ausgleich mit Israel interessiert sein könnten. Ihr Protest gegen die Friedenspolitik war in den Augen der Demonstranten genauso illegitim wie die Friedensverhandlungen in den Augen der Anderen. Hier ging es nicht um verschiedene politische Ansichten, sondern um den gegenseitigen Versuch, die jeweils andere Seite außerhalb der Legitimation und des Konsensus zu stellen. Es ging um die Frage, wer das "wahre" Israel vertritt – eine Bürgerkriegssituation also. 



Aus Politik und Zeitgeschichte


"Aus Politik und Zeitgeschichte" - die Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" - wird von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) herausgegeben.

Sie veröffentlicht wissenschaftlich fundierte, allgemein verständliche Beiträge zu zeitgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Themen sowie zu aktuellen politischen Fragen. Sie ist ein Forum kontroverser Diskussion, eine Einführung in komplexe Wissensgebiete und bietet eine ausgewogene Mischung aus grundsätzlichen und aktuellen Analysen.

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APuZ



Symbol ohne breite Legitimität

Der Ministerpräsident wurde schon wochen- und monatelang öffentlich geschmäht, beschimpft und auch einige Male tätlich angegriffen. Seine Sicherheitsbeamten waren nervös und rieten ihm, sich aus der Öffentlichkeit fernzuhalten oder eine kugelsichere Weste zu tragen. Doch Rabin, der schon etwas ältere General, nahm das alles nicht so ernst. Er wusste, dass seine Entscheidungen für das rechte Milieu in Israel schwer zu ertragen waren, aber er war auch ein Symbol. Er wurde von vielen Israelis respektiert. Er war keiner der üblichen Verdächtigen, die schon jahrzehntelang über Frieden moralisierten. Er war einer der höchstdekorierten Soldaten Israels, er war im Land noch vor der Staatsgründung geboren, ein Symbol für das in Israel aufgewachsene neue Judentum, das nicht mehr von der Vergangenheit bestimmt ist. So stand die israelische Elite, standen die Journalisten, die Professoren, die Unternehmer, die Schriftsteller fast alle hinter ihm. Und wenn man zu dieser Zeit in Tel Aviv lebte, dann glaubte man sich auch in der absoluten Mehrheit.

Rabin und seine Regierung mochten zwar mit einer knappen Mehrheit regieren, für ein anderes Israel – vor allem außerhalb von Tel Aviv – hatten sie jedoch keine Legitimität. Es gibt ein Milieu in Israel, für das die Legitimität des Staates Israel nicht im politischen Prozess, sondern in der Heiligkeit selbst liegt. Rabin war in dieser Hinsicht in der Tat ein Repräsentant eines militärischen und weltlichen Israels, und er war der Repräsentant des 1948 gewonnen Unabhängigkeitskrieges, war Generalstabschef des Krieges von 1967, als das Westjordanland erobert wurde. Er hat sich diesen Gebieten nie verbunden gefühlt. Das war schon 1975 während seiner ersten Amtszeit klar, als er gegen die ersten Siedlungsversuche in Samaria war. Es war der damalige Verteidigungsminister Shimon Peres, der die Siedler unterstützte und damit den Beginn der heutigen Siedlungsbewegung ins Rollen brachte. Rabin hatte in der Tat keinen Sinn für das Heilige, das durch die Eroberung der biblischen Stätten nach 1967 Teil der Tagespolitik wurde.

Daran änderte auch der 1994 an ihn, Peres und Palästinenserführer Jassir Arafat verliehene Friedensnobelpreis nicht viel. Ganz im Gegenteil. Noch kurz davor rief die Opposition zu einer großen Kundgebung in Jerusalem auf. Dort standen auf einem Balkon auch die zukünftigen Premierminister Benjamin Netanyahu und Ariel Sharon, die die aufgebrachte Menge noch anfeuerten. Plakate, die Rabin in SS-Uniform zeigten, wurden demonstrativ verbrannt. Das war bewusst inszenierte Radikalität. Jeder konnte das im Fernsehen gut sehen, aber trotzdem dachte wirklich niemand an etwas Schlimmeres als an diese radikalste aller symbolischen Taten. Die Rhetorik war angeheizt, aber noch regierte das Friedenslager. Der Bürgerkrieg lag in der Luft, hatte den Boden aber noch nicht erreicht.


Ein anderer 4. November 1995

Während die Kundgebung nun langsam ihr Ende nimmt, beobachten Sicherheitskräfte im Wagenpark unter dem Balkon der Redner einen jungen Mann. Sie wissen erst nicht, ob er einer der Fahrer ist. Sie sprechen ihn an und er antwortet kurz, dass er auf jemanden warte. Die Sicherheitsleute sagen ihm, dass dies ein steriler Ort sei und bitten ihn, woanders zu warten. Darauf geht er weg. Die Kundgebung ist vorbei. Gemeinsam singt man ein Friedenslied. Rabin ist zufrieden. Es scheint, dass das Regierungslager die Straße zurückerobert. Er kehrt zu seinem Wagen zurück und fährt in seine Jerusalemer Residenz.

Die nächsten Monate sind die wohl schwersten für den Premier Rabin. Die Verhandlungen mit den Palästinensern kommen ins Stocken. Man kann die Jerusalemfrage nicht einfach unter den Teppich kehren. Rabin ist bereit, über Jerusalem und die Flüchtlingsfrage zu verhandeln, aber erst sehr viel später. Arafat bringt immer wieder Jerusalem und die Flüchtlinge ins Spiel. Langsam wird allen Beteiligten klar, dass eigentlich nicht mehr um 1967 diskutiert und verhandelt wird. Allen geht es um 1948, um den eigentlichen Kern des Konfliktes, um die Ausübung jüdischer Souveränität im Nahen Osten, um die Heiligkeit des Bodens und um die Flüchtlingsfrage. Zugleich sind die radikalen Gruppierungen der Palästinenser nicht bereit, überhaupt zu verhandeln, und nutzen Terroranschläge auf Autobusse in Tel Aviv und Jerusalem, um Arafat zu unterwandern, aber auch zu unterstützen. Arafat glaubt an den Terror als eine zweite Waffe gegen die Israelis. Auch er weiß, was Rabin schon lange und sogar länger bewusst ist: Die Israelis entwickeln sich zu einer post-heroischen Gesellschaft, die nicht mehr im permanenten Kriegszustand leben will und kann. Auch soll der Terror die israelische Bevölkerung einschüchtern, um sie kompromissbereiter zu machen. Das Modell ist Algerien, wo der Terror diesen Zweck erfüllt hat.

Auf der einen Seite ist es der Terror, der die Friedensbemühungen belastet, auf der anderen Seite die immer aggressiver werdende Opposition, geführt von dem in Amerika ausgebildeten neuen Oppositionsführer Benjamin Netanyahu, dem neuen Stern am rechten Himmel Israels: Als gewandter Redner, ideologisch fest in der Idee des moralischen und historischen Rechts Israels auf das Westjordanland verwachsen, steht er seit 1993 an der Spitze der Likudpartei. 27 Jahre jünger als Rabin, gerade mal Mitte 40, verkörpert er auch eine neue Generation israelischer Politiker. Rabin wird von ihm immer mehr in die Defensive gedrängt.

Nicht mehr um Politik geht es in dieser Zeit, sondern um die geistigen und materiellen Grundlagen des zionistischen Projekts selbst. Der Friedensprozess wird immer mehr als das Projekt einer sich globalisierenden Elite gesehen, die an den speziellen Bedürfnissen vieler jüdischer Israelis vorbeisieht. Das radikale religiöse Milieu sieht seine messianische Aufgabe darin, jede Form von Rückgabe heiligen Bodens für immer zu vermeiden. Der messianische Zionismus hat sich nun endgültig vom Staat Israel befreit. 1996 verliert Rabin die Wahlen gegen Netanyahu und damit die knappe Mehrheit, die den Friedensprozess noch unterstützt hatte. Für viele Israelis bedeutete der Friedensprozess, dass man in Frieden leben konnte. Wenn die Folgen des Friedensprozesses Angst und Schrecken sind, dann will man nicht mehr mitmachen. Netanyahu wird Premier. Rabin zieht sich verbittert aus der Politik zurück und stirbt nicht lange danach an einem Herzleiden.


Trauer um verlorene Unschuld

Aber so, lieber Leser, ist die Geschichte natürlich nicht weitergegangen. Der junge Yigal Amir wurde von den Sicherheitsbeamten nicht als verdächtig befunden, konnte im Wagenpark bleiben und auf Rabin warten. Als dieser auf seinen Dienstwagen zuging, wurde er von Amir von hinten mit drei Kugeln in den Rücken erschossen. Rabin starb kurz darauf. Drei Schüsse, und damit war der Bürgerkrieg vorbei – und eine Seite siegreich aus ihm hervorgegangen. Shimon Peres übernahm die Amtsgeschäfte, bis er ein knappes Jahr später zugunsten von Netanyahu abgewählt wurde. Das Land stand unter Schock und trauerte um Rabin. Nicht für lange, denn rasch wurde aus der Trauer Melancholie, die Trauernden verloren das Interesse an der Außenwelt. Rabin wurde natürlich nicht vergessen, man erinnert sich nur nicht an ihn. Sein sogenanntes Vermächtnis wurde entpolitisiert. Nach dem Anschlag kam es zu spontanen Trauerkundgebungen. Die sogenannte Kerzenjugend saß Tag und Nacht am Platz mit Trauerkerzen und Gitarren und tat ihre Meinung mit vielen Graffiti um den Platz kund. Sie trauerten nicht nur um Rabin, sie trauerten um sich selbst, sie trauerten um ihre verlorene Unschuld, ihre verlorene Jugend, ja ihre verlorene Normalität. Kurz danach wurde dann aus dem "Platz der Könige Israels" der "Rabin-Platz".

Die Menschen in Israel gingen mit sich selbst ins Gericht. Was wurde falsch gemacht? Hätte der Mord verhindert werden können? Auch wurde der "Bruderkrieg" beschworen (der hebräische Ausdruck für Bürgerkrieg). Wenn es überhaupt möglich ist, Gesellschaften mit psychologischen Begriffen verstehen zu wollen, dann kann man sagen, dass die israelische Gesellschaft durch den Mord an Rabin fortwährend narzisstischer wurde. Israel verliebte sich in sein trauerndes Spiegelbild, und langsam wurde es zu diesem Bild, das es sich von sich selbst machte. Die Trauer wurde zur Feier und zum Ritual. Lieder wurden gesungen, Kerzen entzündet, Bilder von Rabin gemalt, Rabin-Sprüche an die Wände gepinselt, und von Versöhnung war die Rede. So hat man die Versöhnung mit den Palästinensern langsam vergessen. Es ging um die Versöhnung der in Israel verfeindeten Lager.

Was die Palästinenser anging, so gab es unter ihnen keine Partner mehr, wie es der zwischenzeitliche Premier Ehud Barak einige Jahre später formulierte. Partner gab es nur in Israel selbst. Wie konnte die Linke mit der Rechten ausgesöhnt werden, wie konnten Säkulare und Religiöse miteinander das Land teilen? Sind wir nicht alle Brüder? Sind wir nicht alle Juden? Nun hatte aber ein Jude Rabin ermordet und kein arabischer Terrorist. Und dieser junge Mann, der zwar ständig behauptete, er habe allein und auf niemandes Befehl gehandelt, kam aus dem rechten und nationalreligiösen Milieu, welches es als Todsünde empfindet, das heiliggesprochene Land zu teilen.


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Verdrängung der politischen Dimension

Die Einzeltätertheorie war sehr vielen mehr als recht. Man konnte sich auf die narzisstische Melancholie konzentrieren und musste den Mord nicht politisch einordnen. Auch in der Gerichtsverhandlung von Amir ging es um Mord, etwas anderes konnte das Gericht gar nicht verhandeln. Amir wurde von Gerichtspsychiatern untersucht, die ihn für schuldfähig befanden – er selbst wollte seine Tat als eine religiös motivierte verteidigen, das Gericht ihn aber nur als einen heimtückischen Mörder verurteilen. Es hatte keine Befugnis, den politischen Kontext der Tat in irgendeiner Form zu verhandeln. Nicht die Politik Amirs stand vor Gericht, nicht das rechte politische Milieu von Amir, nicht die fanatischen Demonstrationen gegen Rabin und nicht die symbolischen Todesurteile, die von fanatischen Rabbinern gegen Rabin ausgesprochen wurden. Das einzige, das vor Gericht stand, war die banale Tat der drei Schüsse. Ein Mann ermordet einen anderen Mann. Es ging um den kriminellen Akt, nicht um Politik. Obwohl es anfänglich etwas Widerspruch gegen diese Sichtweise gab, hat sich die Mehrheit der israelischen Gesellschaft damit abgefunden. Dass es eigentlich um die Identität Israels ging, war den meisten melancholischen Israelis nicht zuzumuten.

Und als dann das rechte Lager 1996 wieder an die Macht kam, da war es fast schon, als ob der Mord noch durch die Geschichte legitimiert wurde. Der "Oslo-Verbrecher" wie er oft von seinen Gegnern genannt wurde, verblasste in der Erinnerung. Den offiziellen Gedenktag hat man per Gesetz auf den 12. des Heshvan gelegt, das hebräische Datum der Ermordung, und nicht auf den 4. November, das weltliche Datum. So entfernen sich von Jahr zu Jahr die Veranstaltungen vom eigentlichen Kern der Ermordung. Es geht weihevoll um Demokratie, um die Gefahr der Gewalt, um Toleranz und Werte. Dann werden Jugendbilder von Rabin gezeigt, traurige Lieder gesungen und man darf wieder nach Hause gehen. Es wird natürlich ganz selten ein Wort über Oslo und den Friedensprozess verloren. Darum geht es nicht mehr. Das passiert manchmal auf den inoffiziellen Kundgebungen um den 4. November herum am Ort des Geschehens, dem "Rabin-Platz". Man kann hier in der Tat von einer fragmentierten Erinnerung an den Mord reden, obwohl es klar ist, dass alle Beteiligten an der Entpolitisierung dieser Erinnerung interessiert waren. So gedenkt man in Jerusalem am hebräischen Gedenktag offiziell am Grab Rabins und kann nicht über Politik reden. Dort herrscht die große Verdrängung.

Es gibt sicher genug Menschen, die glauben, dass die Kugeln Amirs die Geschichte geändert haben. Mag sein, wir wissen es nicht. Der Autor dieser Zeilen geht davon aus, dass das schrumpfende Friedenslager schon vor dem 4. November 1995 auf verlorenem Posten stand. Danach war die israelische Gesellschaft mehr und mehr auf sich bezogen. Der Friedensprozess in Israel war der innerisraelische Friedensprozess, während der Friedensprozess mit den Palästinensern zum Anliegen der Amerikaner und Europäer wurde.

Die heftigen Demonstrationen im Sommer 2011 haben das nur bestätigt: Dort ging es um Lebensunterhalt, Mietpreise, Lebensmittel. Das Leben der Israelis ist zu teuer geworden. Man wollte Normalisierung. Die Demonstranten, die zuweilen an andere Demonstrationen in Europa erinnerten, wollten den Schulterschluss der ganzen Gesellschaft. Man weigerte sich, über Besatzung und Besatzungspolitik zu reden. Man wollte die Sozialbewegung nicht durch Nahostpolitik spalten, als ob die Ermordung Rabins wie eine dunkle Wolke warnte, was die Konsequenzen einer solchen Spaltung sein können.


Neue Bündnisse – und Frieden mit der Geschichte?

Bei den jüngsten Wahlen 2013 kam es zu einem Zusammenschluss der ehemals verfeindeten Milieus. Die sogenannte säkulare und urbane Partei des Journalisten Yair Lapid und die nationalreligiöse Partei des Unternehmers Naftali Bennett kamen gemeinsam auf 31 der 120 Parlamentssitze. Zur Überraschung einiger schlossen sich Lapid und Bennet zu einem Bündnis zusammen. Dieses hat nun endgültig die Spannungen zwischen den ehemals verfeindeten Lagern des "Bruderkrieges" überbrückt. Die Arbeitspartei von Rabin spielt in den großen politischen Fragen keine Rolle mehr. Ihre derzeitige Vorsitzende Shelly Yachimovich will, dass sich die Partei nur noch zu sozialen Fragen äußert, und hat ihren Frieden auch mit den Siedlern jenseits der grünen Linie geschlossen.

Das Lapid-Bennett-Bündnis ist eigentlich die langfristige Konsequenz, welche die israelische Gesellschaft aus der Opferung Rabins gezogen hat. Es ist das Bündnis des sich selbst als aufgeklärt verstehenden und westlich orientierten Israels (das auch bereit ist, langfristig Zugeständnisse an die Welt zu machen) mit dem nationalreligiösen Lager (das zu diesen Zugeständnissen nicht bereit ist und glaubt, sie nie leisten zu müssen). Diese neue Verbundenheit drückt sich am stärksten darin aus, dass sich beide Parteien darauf einigten, die ultraorthodoxen Juden, die bisher vom israelischen Wehrdienst befreit waren, nun auch zum Militärdienst einzuziehen. Der Schulterschluss beider Lager macht es notwendig, dass auch die Ultraorthodoxen Teil des kämpfenden Israels werden, um somit die letzte große Differenz innerhalb der jüdischen Bevölkerung zu verwischen. Die nicht in der Armee dienenden palästinensischen Bürger Israels gehören nicht zu dieser neuen Formation.

Blickt man 18 Jahre später zurück auf die Nacht am "Platz der Könige Israels", kann man durchaus sagen, dass der Mord Israel verändert hat, wenn auch nicht grundlegend. Die Gesellschaft hat diesen Mord als Opfer genutzt, um sich alt-neu wieder zu konstituieren, neue Solidaritäten zu schaffen und vor allen Dingen die Angst vor einem "Bruderkrieg" zu überwinden.

Diese Angst existierte schon kurz vor der Staatsgründung, als verschiedene paramilitärische Einheiten nicht nur die Briten, sondern auch sich gegenseitig bekämpften. Nach der Staatsgründung löste David Ben-Gurion alle militärischen Gruppen auf und wollte sie in die neue Staatsarmee integrieren. Zum letzten Kampf kam es im Juni 1948 an der Küste von Tel Aviv, als das von der rechten paramilitärischen Gruppe Irgun (unter Führung des späteren Premiers Menachem Begin) ausgerüstete Schiff "Altalena" anlegen sollte, um Waffen an die eigenen Leute zu verteilen. Ben-Gurion beschloss, das Schiff anzugreifen, woraufhin mehrere Mitglieder der Irgun an Bord getötet wurden. Einer der an dieser Aktion beteiligten Soldaten war Jitzchak Rabin, in den Augen der Nachfahren des rechten israelischen Milieus schon damals ein Verräter.

Letztendlich hat die israelische Gesellschaft Frieden mit ihrer Geschichte geschlossen. Ob das Opfer Rabins dazu wirklich notwendig war, bleibt dahingestellt. Ob es ausreicht, um dauerhaft ein neues politisches Gemeinwesen in Israel zu gründen, wird die Zukunft zeigen.



Der Autor

NATAN SZNAIDER

1954 in der Nähe von Mannheim geboren, wanderte er als 20jähriger nach Israel aus. Dort studierte er Soziologie, Psychologie und Geschichte an der Universität Tel Aviv. 1984 promovierte er mit dem Thema „Die Sozialgeschichte von Mitleid“ an der Columbia University in New York City, USA. Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Globalisierung und Erinnerungskultur. Heute lehrt Sznaider als Professor für Soziologie und Kulturwissenschaften am Academic College in Tel Aviv-Yafo.

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