Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331


ONLINE-EXTRA Nr. 197

Januar 2014

Der in Deutschland seit 1996 gesetzlich verankterte Gedenktag vom 27. Januar - oftmals verkürzt als "Holocaust-Gedenktag" oder "Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz" benannt - lautet offiziell "Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus". Von Anfang an war mit dieser Bezeichnung das Motiv verbunden, den verschiedenen Opfergruppen, die unter dem Nationalsozialismus leiden mussten, gerecht zu werden. So lenkte etwa die offizielle Feierstunde im Deutschen Bundestag dieses Mal die Aufmerksamkeit auf die russischen Opfer, die während der fast 900 Tage andauernde Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht ums Leben kamen. 

Eine vergleichsweise kleine Opfergruppe, die aber insbesondere für die evangelische Kirche von hoher symbolischer Bedeutung ist, stellen die evangelischen Christen jüdischer Herkunft während des Nationalsozialismus dar. So beispielsweise in der Landeskirche Nassau-Hessen, wo den Kirchenmitgliedern 1942 auf Beschluss der deutschchristlichen Leitung „jegliche Gemeinschaft mit Judenchristen“ fortan untersagt wurde. „Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu pflegen und zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht“, stellte die deutschchristliche Leitung klar. Allein in Frankfurt wurden damit rund 2500 Evangelische sozusagen über Nacht zu „rassejüdischen“ Christinnen und Christen gestempelt und vom Gemeindeleben ausgeschlossen. Ihre Bedrängnis wurde von den vermeintlichen Glaubensgeschwistern meist ignoriert, zum Teil hat man sie sogar denunziert. Nur wenige standen den antisemitisch Verfolgten zur Seite.

Lange hat es gedauert, bis man innerhalb der Kirchen begann, dieses beschämende Kapitel aufzuarbeiten. Über einen Zeitraum von zehn Jahren, in mühevoller Archivarbeit und Befragung noch lebender Zeitzeugen hat eine Gruppe engagierter Persönlichkeiten das Schicksal dieser Menschen in der Landeskirche Nassau-Hessen erforscht und nun in einem ungemein beeindruckenden, äußerst sorgfältig editerten Buch ihre Forschungsergebnisse vorgelegt: "Getauft, ausgestoßen - und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus." Das Buch enthält eine klug angeordnete Fülle an Material wie Zeitzeugenberichte, Hilfsaktionen im Umfeld der Kirche, Lebensbilder der Verfolgten und Ermordeten sowie Texte des Erinnerns und Gedenkens. Außerdem werden alle Namen der 285 Protestantinnen und Protestanten jüdischer Herkunft genannt, die auf hessischem Kirchengebiet dem Naziterror zum Opfer fielen. Begleitet wird das Material von einer Reihe hoch lesenswerter Essays, die die theologische und gesellschaftspolitische Bedeutung der Thematik erschließen. Herausgegeben von dem Historiker Hartmut Schmidt, Monica Kingreen vom Fritz-Bauer-Institut, dem früheren Leiter der Evangelischen Akademie Arnoldshain, Hermann Düringer und dem Beauftragten für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Kurhessen-Waldeck, Pfarrer Heinz Daume ist das über 460 Seiten umfangreiche Buch tatsächlich zu dem geworden, was es im Untertitel verspricht: "Ein Arbeits-, Lese-, und Gedenkbuch".

COMPASS freut sich, Ihnen heute mit vorliegendem ONLINE-EXTRA Nr. 197 einen umfangreichen Einblick in dieses nachdrücklich empfehlenswerte Standardwerk geben zu können. Neben dem Geleitwort von Kirchenpräsident Volker Jung und Bischof Dr. Martin Hein finden Sie einen Beitrag von Heinz Daume und Hermann Düringer, die eine "Einleitung zum Forschungsprojekt in Hessen" geben.  Der Beitrag von Werner Schneider-Quindeau und Hermann Düringer - "Der Verrat an der Taufe" - erörtert wiederum die zentrale theologische Dimension des Themas. Und exemplarisch für die im Buch dokumentierten Porträts der Opfer können Sie den Beitrag von Renate Hebauf lesen: "Wilhelm Ernst und Ernst Ludwig Oswalt: Der Verleger und der Jungscharführer", dem auch ein bewegender Abschiedsbrief von Oswalt beigegeben ist. Und schließlich können Sie sich anhand des vollständig zu lesenden Inhaltsverzeichnisses selbst einen Eindruck von der Fülle und Konzeption des Buches machen.

COMPASS dankt den Autoren und dem Verlag für die Gehnehmigung zur Online-Wiedergabe dieser Texte! Möge das Buch eine weite Verbreitung und Aufmerksamkeit finden - sowie Nachahmer in den anderen Landeskirchen der evangelischen Kirche in Deutschland.

© 2014 Copyright bei Autoren und Verlag 
online exklusiv für
ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 197


Getauft, ausgestoßen und vergessen?

Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus.

Ein Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch

(Hrsg.) HEINZ DAUME, HERMANN DÜRINGER, MONICA KINGREEN und HARTMUT SCHMIDT
Redaktion: Renate Hebauf und Hartmut Schmidt




Geleitwort

Von Kirchenpräsident Volker Jung und Bischof Dr. Martin Hein 



Liebe Leserinnen und liebe Leser,

die Geschichte der evangelischen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus gehört zu den eher düsteren Kapiteln der Kirchengeschichte. Es ist bis heute beklemmend, wie eng sich die evangelischen Kirchen ab 1933 an die neuen Machthaber banden. Ein bislang wenig erhelltes, aber umso dramatischeres Schlaglicht aus dieser Zeit fällt auf den Umgang mit Christen, die jüdischer Herkunft waren. Nach und nach wurden diese so genannten „nichtarischen“ Mitglieder systematisch ausgegrenzt. 1942 wurden sie beispielsweise in der Evangelischen Landeskirche Nassau-Hessen ausgeschlossen. Die Staatsraison trat an die Stelle der Taufe: ein unglaublicher Vorgang, der an den Grundfesten des christlichen Glaubens rüttelt. Mit der Ausgrenzung war die Zukunft dieser Gemeindemitglieder vorgezeichnet.

In der jüdischen Tradition hat das Gedenken an die im Holocaust getöteten Christen jüdischer Herkunft schon lange einen festen Platz. In den christlichen Kirchen dagegen wurden ihre Schicksale bisher kaum wahrgenommen. Dass sich nun ein spezielles Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch diesem fast vergessenen Thema widmet, ist ein wichtiger Schritt zur weiteren Aufarbeitung der jüngeren Kirchengeschichte. Vage Erinnerungen werden endlich mit Fakten unterlegt. Mutmaßungen werden zur Gewissheit. Aber vor allem erhalten hier neben Geschichtsdaten und Zahlen die betroffenen Menschen ein Gesicht. Die Vergangenheit rückt auf diese Weise nah und fordert zur Auseinandersetzung auf.

Dafür ist den Initiatoren von „Getauft, verfolgt – und vergessen?“ ein großer Dank auszusprechen. Sie haben nicht nur Archivmaterial untersucht, Zeitzeugen befragt und Dutzende von Einzelschicksalen erforscht. Sie haben in einem einzigartigen Projekt auch Kirchengemeinden und eine breite Öffentlichkeit aktiv in die Forschungsarbeit eingebunden. Aus diesem Material entstanden zunächst eine Wanderausstellung und später dieses Buch. Es soll bewusst mehr als ein Forschungsbericht sein. Es soll viele Menschen in Kirche und Gesellschaft erreichen und bewegen. Wir hoffen, dass dies gelingt, und wünschen dem Band eine breite Aufmerksamkeit.

Ihre
   
Dr. Volker Jung und Professor Dr. Martin Hein



LESEPROBEN



- Heinz Daume / Hermann Düringer:
Einleitung zum Forschungsprojekt in Hessen


- Werner Schneider-Quindeau und Hermann Düringer:
Der Verrat an der Taufe


- Renate Hebauf:
Wilhelm Ernst und Ernst Ludwig Oswalt: Der Verleger und der Jungscharführer

- vollständiges Inhaltsverzeichnis des Buches


Getauft, ausgestoßen –
und vergessen?

Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus

Ein Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch



Herausgegeben von Heinz Daume, Hermann Düringer, Monica Kingreen
und Hartmut Schmidt

Redaktion: Renate Hebauf/Hartmut Schmidt


CoCon Verlag
Hanau 2013
468 Seiten, Hardcover
29,80 Euro
ISBN 978-3-86314-255-1
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Das Schicksal der evangelischen Christen jüdischer Herkunft in Hessen während des Nationalsozialismus wurde lange verdrängt und ist so weitgehend unbekannt. Nach nationalsozialistischer Definition galten diese Christen als „Juden“ und wurden antisemitisch verfolgt.

In Hessen waren sie einer oft tödlichen Verfolgung ausgesetzt, hunderte wurden im Holocaust ermordet. Die evangelischen Kirchen schwiegen zur Verfolgung der Juden. Auch ihre eigenen Kirchenmitglieder mit jüdischer Herkunft schützten sie nicht und grenzten sie aus. Die Landeskirche von Nassau-Hessen schloss ihre Mitglieder sogar aus der Kirche aus. Das Sakrament der Taufe wurde verraten. Nur einzelne Menschen aus der Kirche standen den Bedrängten zur Seite.

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