ONLINE-EXTRA Nr. 198
© 2014 bei Autor und Redaktion Themenheft
Im Januar diesen Jahres erschien das aktuelle "Themenheft" des Deutschen Koordinierugnsrates, das stets dem jeweiligen Jahresthema der über 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gewidmet ist. Dieses Thema lautet in 2014: "Freiheit - Vielfalt - Europa" (siehe den Hinweis weiter unten im Text).
In der durch Finanz- und Eurokrise und damit verbundener, wachsender Europakritik geprägten Europadebatte möchte der DKR die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Europa weit mehr als ein Synonym für "Euro" und "Krise" ist. Denn in der Diskussion um die Schwächen und Fehler Europas droht die Erinnerung und Selbstvergewisserung um die Stärken Europas und die Gefährdung seiner demokratischen und friedensstifenden Substanz immer mehr in den Hintergrund zu rücken. Dem versucht das "Themenheft" mit anregenden Beiträgen namhafter Autoren, die sich mit den theologischen, politischen, kulturellen und pädagogischen Aspekten des Themas auseinandersetzen, entgegen zu wirken.
Ein thematischer Schwerpunkt bildet dabei die Frage nach den christlichen und jüdischen Einflüssen auf die "Idee Europa". Zuletzt wurde dieser Aspekt durch eine politisch durchaus fragwürdige Neu-Beschwörung der "christlich-jüdischen Wurzeln" Europas wiederbelebt. Beiträge u.a. von Julius H. Schoeps, Wolfgang Huber und Walter Homolka greifen diesen Aspekt im "Themenheft" auf - und so auch ein Beitrag des ehemaligen Gründungsintendanten des Deutschlandfunks und Professors für Kultur- und Medienmanagment an der Freien Universität Berlin Ernst Elitz.
Elitz nimmt die Rede vom "christlich-jüdischen Abendland" unter historischer Perspektive unter die Lupe und analysiert sie exemplarisch im Blick auf "seine Bürger: Shylock und Nathan, Mendelssohn und Maimonides", wie es im Untertitel seines Essays heißt, den COMPASS heute online exklusive als ONLINE-EXTRA Nr. 198 präsentiert: "'Damit sie nicht so leicht von der Unverschämtheit des minderen Volkes beunruhigt werden ...' Das christlich-jüdische Abendland und seine Bürger: Shylock und Nathan, Mendelssohn und Maimonides"
COMPASS dankt dem Autor sowie der Redaktion des "Themenhefts" für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe dieses Textes an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 198
Wer den Begriff des christlich-jüdischen Abendlands in die Debatte wirft, landet in der Falle eines doppelten Missverständnisses. „Abendland“ – das klingt klerikal. Kreuzzugideologie liegt in der Luft. Der Begriff erinnert an einen vordemokratischen Ständestaat und an Adenauer, für den das Abendland ohnehin an der Elbe endete, dort wo auch das Reich Karls der Grossen dem finsteren Heidentum gegenüberstand. Und in der Tat, dieser poetische Begriff aus einer Zeit, in der die Menschen sich noch nach dem Stand der Gestirne richteten – occidens sol, das Land der untergehenden Sonne – diente lange als Abgrenzung gegen die an Allah glaubenden feindlichen Morgenländer, später gegen den Kommunismus, den Kollektivismus und alle anderen Übel und übersah dabei vollends, dass der Begründer der das Abendland prägenden Religion ein jüdischer Knabe aus dem Morgenland war und dass darüber hinaus die kommunistische Idee im Herzen des Abendlands geboren wurde. Das Bewusstsein des Menschen lässt sich nicht mit dem Stand der Sonne erklären.
Und der Falle zweiter Teil? Die Behauptung einer christlich-jüdischen Tradition in diesem westlichen Teil des europäischen Kontinents – um den ideologieverdächtigen durch einen vollkommen unpoetischen Begriff zu ersetzen – steht unter dem Verdacht einer üblen Geschichtsverfälschung, denn die „christlich jüdische Tradition“, so Shulamit Bruckstein Coruh, sei lediglich „eine Erfindung der europäischen Moderne und ein Lieblingskind der traumatisierten Deutschen“. Erst nach der Shoa habe in Deutschland ein jüdischchristlicher Dialog begonnen.1 Sicher gilt das für den institutionalisierten Dialog, wie ihn seit Beginn der fünfziger Jahre die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und immer häufiger auch Theologen pflegen.
Aber diese Gespräche bauen auf auf dem zweitausendjährigen Fundament eines zuweilen von einem friedlichen Nebeneinander, häufiger aber von Hass und und monströsen Verbrechen gezeichneten gemeinsamen Existenz. Aber Abgrenzung und Verfolgung können das aufeinander Bezogensein durch gemeinsame religiöse Grundlagen nicht auslöschen. Ebenso wenig lassen sich die Perioden einer effektiven Zusammenarbeit für den ökonomischen, wissenschaftlichen wie industriellen Fortschritt des Kontinents leugnen. Gerade diese Widersprüchlichkeit ist kennzeichnend für die zwei Jahrtausende währende christlich-jüdische Tradition des Abendlandes.
Ansätze zu einer Klärung der theologischen Missverständnisse zwischen beiden Religionen gab es früh. Doch es dauerte Jahrhunderte bis die Einsichten des im 12. Jahrhundert in Cordoba lebenden, an Aristoteles geschulten, arabisch schreibenden Juden Moses Maimonides Eingang in die christlich-jüdische Theologie fanden. Maimonides warb in seinem „Führer der Unschlüssigen“ für eine historisch-kritische Lektüre der Schrift, mit dem Ziel, den Sinn der biblischen Aussagen mit der Vernunft und den Kenntnissen des modernen Menschen (auch das Mittelalter war einmal Moderne!) zu versöhnen. Aber die herrschende Orthodoxie beider Religionen sah darin eine Bedrohung des rechten Glaubens. Die Bedeutung des Maimonides wurde erst im Zeitalter der Aufklärung wieder erkannt.
Die Juden waren nach der Vertreibung aus Jerusalem den römischen Legionen gefolgt. Sie waren Händler und Handwerker, nützliche Leute im Prozess der Zivilisierung des Abendlandes jenseits der römischen Kernprovinzen. Sie waren im Gegensatz zur Mehrzahl der christlichen Bewohner des Römischen Reiches alphabetisiert, denn das religiöse Gebot des Torastudiums setzte systematischen Unterricht im Lesen und Schreiben voraus. Die Vertreibung und die Suche nach einer neuen Heimat machte die Juden weltläufig und sprachkundig, und sie sogen Erfahrungen auf, die für ihre weltlichen Herren von hohem Nutzwert waren. Die Kultur der Länder der untergehenden Sonne ruhte nicht nur auf den meist von arabischen und damit muslimischen Gelehrten übermittelten Kenntnisse der Naturwissenschaften und der antiken Philosophie, sondern auch auf dem regen Warenaustausch zu Lande und über das Mittelmeer. Am Bau dieser ökonomischen Fundamente der abendländischen Kultur hatten die Juden als Seefahrer und Fernhändler entscheidenden Anteil. Und als Diplomaten. Karl der Grosse entsandte 797 den Kaufmann Isaak aus Narbonne zur Kontaktanbahnung zum Kalifen Harun al Raschid nach Bagdad. Isaak kehrte Jahre später von seiner strapaziösen diplomatischen Mission mit einem Elefanten als Geschenk aus Bagdad an den Hof Karls zurück. Auch für die wirtschaftliche Funktionsfähigkeit der Städte war die Leistung jüdischer Kaufleute ein Gewinn. In Speyer, der Grablege der salischen Kaiser, siedelte Bischof Rüdiger Huzmann, „um das Ansehen dieses unseres Ortes zu vertausendfachen“ 1084 eine jüdische Gemeinde an – die erste in Deutschland, aber er wies den Zugezogenen ein Quartier „ausserhalb der Wohnstätten der übrigen Bürger“ zu und umgab es mit einer Mauer, „damit sie nicht so leicht von der Unverschämtheit des minderen Volkes beunruhigt werden“.2 Rüdiger war zugleich der weltliche Herr der Stadt.
Es waren nicht die von wirtschaftlicher Vernunft bestimmten weltlichen Herren, die den im Mittalter ausbrechenden Antijudaismus befeuerten, es waren die Kirchenväter, die die Juden für den Kreuzestod Christi abstrafen und den Missionsauftrag des Neuen Testaments an ihnen vollstrecken wollten. Sie hetzten schon in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt: „Die Juden haben keine Auffassung von geistlichen Dingen. Sie sind nicht besser veranlagt als Ziegen und Schweine. Sie leben von Ausschweifung und unmässiger Gefrässigkeit.“3 Dieser brandgefährliche Prediger war der Kirchenvater Chrysostomus (354 – 407), erst Bischof von Antiochia, dann von Byzanz. Augustinus legte nicht minder verächtlich nach, indem er den Juden bescheinigte, sie würden die Schrift „niemals verstehen … und auf ewig die Schuld am Tode Jesu tragen“.4 Auch die Wirkungsgeschichte dieses Augustinus-Wortes führte in eine blutige Realität, denn der niedere Klerus saugte diese Polemiken auf und gab sie von den Kanzeln weiter.
Im Abendland war der Hass auf die Juden heimisch. Dabei war in den Kirchenbauten allenthalben die gemeinsame Tradition der Religionen zu besichtigen: die Vertreibung aus dem Paradies, Moses mit den Gesetzestafeln, der Besuch der Königin von Saba bei Salomon, die Propheten. Neben Personal und Szenerie des Alten Testaments aber stand die Gestalt der Synagoga als Allegorie des Judentums, mit Blindheit gegenüber der Offenbarung geschlagen, deshalb die Binde über den Augen. Die Krone am Boden, die Macht verspielt, mit zerbrochener Lanze, und zuweilen in Gesellschaft des Teufels. Sie war der Verlierer. Ihre Anhänger, die aus dem Vorhof des Alten Bundes nicht in den Neuen Bund eintraten, indem sie die Taufe verweigerten, wurden zu sozial Ausgestossenen und Opfern im immerwährenden Kampf zwischen Synagoga und Ecclesia, bei dem die Siegerin von vornherein feststand.
THEMENHEFT 2014
Zu den Autoren gehören diesmal unter anderem Julius H. Schoeps, Rabbiner Walter Homolka, Julia Kristeva, Navid Kermani, Christian Schmidt-Häuer, Klaus-Michael Bogdal, Moshe Zimmermann, Avraham Burg sowie ein Interview mit dem diesjährigen Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille, dem Schrifsteller György Konrád.
Das diesmal von Schülern des Regionalen Berufsbildungszentrums Wirtschaft der Landeshauptstadt Kiel mit Bildern ansprechend versehene "Themenheft 2014" kann auf der Homepage des Deutschen Koordinierungsrates für Euro 5,- zzgl. Porto/Versand bestellt werden:
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In William Shakespeares 1600 in London uraufgeführten „Kaufmann von Venedig“ bricht es aus dem Juden Shylock in seinem grossen Monolog (3. Akt, 4. Szene) leidenschaftlich heraus, was er und seine Glaubensbrüder erdulden mussten: beschimpft, verspottet, „mein Volk geschmäht“. „Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmassen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer wie ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollten wir uns nicht rächen?“ – Und daraus zieht Shylock, der vielfach Erniedrigte, den Schluss: „Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben.“ Gleiches mit Gleichem!
In diesem Shakespeare-Monolog wird deutlich, dass das Schicksal der Juden auch in dieser judenfeindlichen Zeit durchaus Mitgefühl weckte, wobei der Spiegel der Dichtung die vorherrschende antijudaistische Stimmung nicht wenden konnte. Aufschlussreich ist die den Zeitstimmungen folgende Inszenierungsgeschichte des Shakespearschen Werks. Lange wurde dramatisches Grundmotiv der inneren Zerrissenheit Shylocks von einer eindimensionale Rollenauffassung überdeckt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde Shylock als komische Figur dargestellt. Später rückte seine „unbändige und furchterregende Grausamkeit“ in den Mittelpunkt, bis Edmund Kean in der Mitte des 19. Jahrhunderts die von Shakespeare angelegte tragische Spannung von Leiderfahrung und Rachedurst zum Leitthema seiner bahnbrechenden Inszenierung am Londoner Drury Lane Theatre machte. Diese tragische Rollenauffassung, die den „Kaufmann von Venedig“ zu einem genuin europäischen Drama macht, bestimmt auch nach der Shoa die Inszenierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert.
Keans Sicht auf die Rolle war das Ergebnis einer politischen wie philosophischen Zeitenwende. Es war nicht die Kirche, die in Demut und Nächstenliebe die Juden aus ihrem sozialen Getto befreite. Es waren die Philosophie der Aufklärung und die französische Revolution. Die Vernunft machte sich auf den Weg, das Denken und die Welt zu verändern. Alte Wahrheiten wurden erschüttert. Das Selbstbewusstsein der Bürger brach sich Bahn. Der Ruf nach Toleranz wurde zum Banner einer Epoche. Dafür stand in Deutschland ein Name: Moses Mendelssohn.
Der vierzehnjährige Sohn eines Dessauer Tora-Schreibers, liess sich im September 1743 am Rosenthaler Tor im Norden Berlins vorschriftsgemäss als fremder Jude in der preussischen Hauptstadt registrieren, fand Unterkunft im Hause des Gemeindeältesten, studierte den Talmud und machte sich – gefördert vom Mathematiker und Philosophen Aron Salomon Gumpertz – vertraut mit den Gedanken der europäischen Aufklärung, las bei Leibniz, dass Gott und Vernunft kein Gegensatz waren und dass der Mensch zur freien Entscheidung in religiösen wie moralischen Dingen befähigt wäre.
Mendelssohn erhielt das Aufenthaltsrecht für die Stadt, wurde Kaufmann und Teilhaber der Bernhardschen Seidenfabrik und eine Leuchte der Berliner Gelehrtenrepublik. Die Königliche Akademie der Wissenschaften verlieh ihm 1763 den ersten Preis für seine Abhandlung „Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften“. Zweiter Sieger in diesem Essay-Wettbewerb wurde Immanuel Kant. Aber so weit ging die Toleranz im Reich des von der Nachwelt als „Philosophenkönig“ gerühmten Friedrich II. dann doch nicht, als dass der Monarch die Wahl des Preisträgers als Mitglied der Akademie bestätigen wollte. Mendelssohn, weil Jude, musste draussen bleiben; aber mit seiner sechs Jahre später bei Nicolai erschienenen Schrift „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“, in der er den „unverdorbenen Menschenverstand“ über „Aberglaube, Pfaffenlist … und Sophisterey“ obsiegen liess5, wurde Moses Mendelssohn zum Vordenker und Vorbild einer neuen christlich-jüdischen Tradition gegenseitiger Toleranz. Die Schrift wurde zum europäischen Bestseller, weil ihr Autor der Religion jenseits der Konfessionen einen Platz in der aufgeklärten Bürgergesellschaft zuwies.
Wieder war es ein Bühnenstück, das dem Geist der Veränderung künstlerisch Gestalt gab. Nicht Shylock, der Gedemütigte, sondern Nathan, der Weise, stand jetzt vor seinem Publikum. Er sann nicht auf Rache. Er gab Rat. Er grenzte die Anhänger unterschiedlicher Glaubensrichtungen nicht voneinander ab, sondern wies ihnen allen einen Weg zur Wertschätzung sowohl des eigenen Bekenntnisses wie der Bekenntnisse seiner Nachbarn. Diese jüdisch-christliche Tradition mag ein „Lieblingskind der traumatisierten Deutschen“ geworden sein, aber sie hat ihre geistigen Wurzeln eben auch in Deutschland. Sich auf sie zu berufen ist ein Zeichen gelungener historischer Kontinuität.
Lessing hatte Mendelssohn in Berlin kennengelernt. Die Gleichaltrigen, beide 1729 geboren, pflegten ihrer Leben lang Gespräch und Gedankenaustausch, waren Geistes- und Seelenfreunde; und es gelang Lessing, die Toleranzphilosophie seines Freundes im Monolog Nathans (3. Akt, 7. Szene) so schlüssig in Worte fassen, dass sein Bühnenstück zum Credo der religiösen Toleranz wurde und in den Kanon der europäischen Literatur Eingang fand. In der Ringparabel – einer abendländischen Überlieferung, die Boccaccio schon für seinen „Decamerone“ aus noch älteren Quellen übernommen hatte – spricht Nathan dem Juden, dem Christen und dem Muselmann das selbstverständliche Recht zu, sich zu der von ihren Vätern überkommenen Religion zu bekennen, ohne die jeweils anderen zu missachten und fordert sie auf: „Es eifre jeder seiner unbestochenen, von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins“ – die Kraft des Glaubens – „in seinem Ring an Tag zu legen!“ Und jeder komme, welcher Religion er auch angehöre, „dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hülf’!“- So wurde die Botschaft der Religionen zur Botschaft der Humanität, ohne dass auch eines der drei Bekenntnisse den eigenen Glauben zu verleugnen brauchte.
Im Osten lebte „vor grauen Jahren“ der Vater, der die drei Ringe fertigen liess. Lessing schlägt mit dem Verweis auf den geographischen Ursprung der Parabel den Bogen vom Abend- ins Morgenland und bindet so ganz selbstverständlich den Islam in seine Toleranzbotschaft ein. Die Absage an die „Tyrannei des einen Ringes“ bekräftig er mit der rhetorischen Frage nach der Geschichtsgebundenheit der Bekenntnisse: „Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert!“ – und folgt so der historisch-kritischen Sicht auf die heiligen Schriften, wie sie sechs Jahrhunderte früher der von Mendelssohn verehrte Maimonides vertreten hatte. Die Kontinuität der religiösen Toleranzidee hat eine abendländische Tradition, die sich bis ins Mittelalter zurück verfolgen lässt, auch wenn diese Idee in der Wirklichkeit immer wieder tragisch scheiterte.
Philosophen und Literaten konnten die Gleichstellung der Juden zwar fordern, durchsetzen konnten sie ihre Forderung nicht. Erst mit den sozialen Umwälzungen, die ausgehend von der französischen Revolution 1789 Europa erschütterten, bekam die Toleranzidee ein gesetzliches Fundament. 1791 verabschiedete die französische Nationalversammlung nach leidenschaftlichen Debatten ein Dekret, das den Juden ein uneingeschränktes Bürgerrecht zugestand. Während in anderen europäischen Staaten beim Kampf zwischen Moderne und Restauration den Juden bürgerliche Rechte gewährt und wieder genommen wurden, blieb Frankreich den Ideen der Gleichberechtigung treu und stellte das Judentum auch als Religionsgemeinschaft gleichberechtigt neben die christlichen Kirchen.
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In Deutschland war es – nach dem Interregnum der unter napoleonischer Herrschaft geltenden bürgerrechtlichen Verfassungen – der preussische Staatskanzler Karl August von Hardenberg, der die Juden qua Edikt zu gleichberechtigten „Einländern und preussischen Staatsbürgern“ machte – aber damit den Gegensturm der vom Wiener Kongress ausgehenden Restauration nicht aufhalten konnte, zumal sich zu den politischen Reaktionären eine mittelalterselige Riege romantischer Dichter gesellte, für die Clemens von Brentano verkündete, dass die Juden nurmehr die von den ägyptischen Plagen übriggebliebenen Fliegen wären. Die von den Romantikern beförderte Antikapitalismus-Stimmung, der von dem Berliner Hofprediger Adolf Stöcker wiederbelebte antisemitische Affekt Luthers und das Hasswort des Doyens der nationalistischen Historiker Heinrich von Treitschke „Die Juden sind unser Unglück!“ rissen Deutschland zurück ins Mittelalter. Die Beschlussfassung des Reichstages des Nordeutschen Bundes von 1869, mit der „alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte“ aufgehoben wur den, war das eine; das andere war die Realität eines in weiten Kreisen der Gesellschaft sozial akzeptierten Antisemitismus.
Es war überall in Europa ein harter Kampf um die Gleichberechtigung. Jeder Aufstieg wurde von Misstrauen und Hass begleitet. Das traf Luigi Luzzatti, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert italienischer Schatzund schliesslich Premierminister wurde, nur mässig – gemessen an den Attacken gegen Leon Blum, nach 1930 Regierungschef in Frankreich, und vor allem im Vergleich zu den hasserfüllten Angriffen auf den liberalen Aussenminister der Weimarer Republik Walther Rathenau, der den Rechten als Inbegriff der „Judenrepublik“ galt und 1922 ermordet wurde. Je öfter es jüdischen Bürgern gelang, im beruflichen Leben als Banker, Wissenschaftler, Juristen, Journalisten, Politiker Karriere zu machen, desto mehr trat die religiöse Motivation des Antisemitismus gegenüber der rassischen in den Hintergrund. Es war nicht mehr die altabendländische Auseinandersetzung zwischen auftrumpfender Ecclesia und widerspenstiger Synagoga, es war Neid und Missgunst gegen die Konkurrenz erfolgreicher Aufsteiger, deren andersartige Riten nur noch ein nützlicher Nebeneffekt waren, mit dem sich der stets im Untergrund pulsierende Hass auf das Fremde mobilisieren liess.
Bereicherungsstreben und Mordlust waren in allen Jahrhunderten das leitende Motiv für die Judenpogrome, das religiöse nur ein praktikabler Vorwand, der die Untat unter dem Gewand der Gottgefälligkeit verbergen wollte. Dass der Antisemitismus der Neuzeit auf diese religiöse Verbrämung vollends verzichtete, führte dazu, dass anders als in der frühen Zeit des Abendlandes auch die religiöse Assimilation durch die Taufe nicht mehr vor Verfolgung bewahrte. Die Moderne kannte nur noch die Mordlust, nicht die Mission. Die „Deutschen Christen“, die vor und während der Nazizeit eine Abkoppelung ihrer Lehre vom Alten Testament statuierten, hielten den Religionsgründer Jesus für einen über Palästina abgeworfenen arischen Alien; und Reichspropagandaminister Goebbels gab bei seiner täglichen Ausgabe der Presseparolen 1938 die Anweisung, dass die Frage, „ob Christus Jude war oder nicht“ in der gesamten deutschen Presse nicht mehr zu behandeln sei. Seine zynische Begründung: „Das Problem ist nach 2.000 Jahren nicht mehr zu entscheiden.“6
„Heute gibt es einen christlich-jüdischen Dialog“, der in der Geschichte des Abendlandes, abgesehen von kurzen Episoden wie der zwischen Lessing und Mendelssohn, neu und einmalig sowohl in seiner gesellschaftlichen Akzeptanz wie in seiner theologischen Tiefe ist. „Aber wir wollen uns doch ganz deutlich klar machen, dieser Dialog ist erkauft mit dem Blut von sechs Millionen jüdischer Opfer, unter ihnen eine Million jüdischer Kinder“, mahnt uns Shalom Ben-Chorin.7 Aus dem Schmerz über den Holocaust geboren gehen Christen und Juden zweitausend Jahre zurück, als der Wanderrabbi Jesus aus Nazareth seine Lehre verkündete, und suchen erst einmal nach dem Gemeinsamen, nicht nach dem Trennenden: Juden und Christen beten den gleichen Gott an, sie stützen sich auf die Autorität ein und desselben Buches – die Bibel, sie anerkennen beide die moralischen Prinzipien der Tora, sie setzen sich gemeinsam gegen Unmoral und Götzendienst ein, sie respektieren gegenseitig die Offenbarung der Religion der anderen und setzen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden ein.8 Diese im September 2000 veröffentlichte Stellungnahme von Rabbinern und jüdischen Gelehrten ist neben anderen Dokumenten, die der christlich-jüdische Dialog hervorgebracht hat, eine Wegweisung heraus aus den Irrungen und dem lange obwaltenden Unverständnis samt seinen mörderischen Folgen, die das von Juden und Christen bewohnte und von beiden geprägte Abendland erlebt und durchlitten hat.
ANMERKUNGEN
1 A.S. Bruckstein Coruh: Die jüdisch-christliche Tradition ist eine Erfindung. In: Der Tagesspiegel. 12.10.2010
2 Zitiert nach Wikipedia: Rüdiger Huzmann
3 Zitiert nach Shalom Ben-Chorin: Von Angesicht zu Angesicht. Weimar 2000. S. 29
4 ebenda
5 Zitiert nach Geschichten einer Ausstellung. Zwei Jahrtausende deutsch-jüdische Geschichte. Hrsg. Jüdisches Museum Berlin 2001. S. 70
6 Joseph Wulf: Presse und Funk im Dritten Reich. Hamburg 1966. S. 103
7 Shalom Ben-Chorin, S. 35
8 Stephan Reimers: Ein Gott für jeden oder keinen. Berlin 2013. S. 107 ff.
Der Autor
Kontakt zum Autor und/oder COMPASS:
Jhg. 1941, Journalist und Hochschullehrer. Studierte Germanistik, Theaterwissenschaften, Politik und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Arbeitete bereits während des Studiums bei RIAS Berlin und war freier Mitarbeiter für Die Zeit. 1969 Redakteur beim Spiegel. 1974 Wechsel zum ZDF, wo er im Studio Berlin bei der Berichterstattung aus Ost- und West-Berlin und der DDR tätig war und Kennzeichen D moderierte. 1983–1985 stellvertretender Leiter und Moderator des „heute-journals“. 1985 wurde er Chefredakteur Fernsehen des Süddeutschen Rundfunks. Von 1994–2009 Intendant von Deutschlandradio mit seinen beiden Hörfunkprogrammen Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk. Seit dem 5. Oktober 2005 ist er Honorarprofessor der Freien Universität Berlin, Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, Institut für Kultur- und Medienmanagement, und seit November 2006 Direktor an der BerlinMediaProfessionalSchool an der Freien Universität Berlin. Elitz gehört dem Hochschulrat der Hochschule der Medien Stuttgart an und ist Vorsitzender des Kunstbeirats der Landesregierung Baden-Württemberg. Er ist Mitglied der Kuratorien der Stiftung Deutsche Welthungerhilfe (Deutsche Welthungerhilfe e.V.), des PEN-Zentrums Deutschland und der Buber-Rosenzweig-Stiftung.
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