Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 200

März 2014

Johann Peter Hebel, geb. am 10. Mai 1760 in Basel, gestorben am 22. September 1826 in Schwetzingen, war Theologe, Pädagoge und vor allem ein ein deutscher Schriftsteller. Sein wohl bekanntestes Werk sind seine Kalendergeschichten, die u.a. von Goethe, Gottfried Keller oder Leo Tolstoi geliebt und verehrt wurden. Hermann Hesse schrieb gar: „Wir lesen, glaube ich, auch heut noch in keiner Literaturgeschichte, dass Hebel der größte deutsche Erzähler war, so groß wie nur Keller und viel sicherer und in der Wirkung reiner und mächtiger als Goethe.“ Und Elias Canetti bekannte einst:  „Kein Buch habe ich geschrieben, das ich nicht heimlich an seiner Sprache maß, und jedes schrieb ich zuerst in der Kurzschrift nieder, deren Kenntnis ich ihm allein schulde.“ Und der in unseren Zeiten als Literaturpapst betitelte, inzwischen verstorbene Marcel Reich-Ranicki schrieb über ihn: „Hebels Geschichten gehören zu den schönsten in deutscher Sprache“, weshalb er wohl auch das "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" (eine Zusammenstellung der Kalendergeschichten) in seinen Kanon der deutschen Literatur aufnahm.

Die Kalendergeschichten erschienen vor allem ab 1807 im "Rheinländischen Hausfreund", der es als Nachfolger des lutherisch-badischen Landkalender unter Hebels Leitung zu der beachtlichen Auflage von 40.000 Stück brachte, woran die äußerst populären Kalendergeschichten Hebels einen erheblichen Anteil hatten. Die wohl bekanntesten Kalendergeschichten Hebels sind "Unverhofftes Wiedersehen" und "Kannitverstan". Nach Ansicht Ernst Blochs etwa ist erstere „die schönste Geschichte der Welt“.

Interessant ist nun, dass in nicht wenigen Kalendergeschichten die Juden einen markanten Platz einnehmen. In Anbetracht der Verbreitung und Popularität der Kalendergeschichten darf man mithin zurecht annehmen, dass das Bild, welches Hebel von Juden und Judentum in seinen Geschichten zeichnet, eine beträchtliche Wirkung bei seiner Leserschaft hinterließ. Wie also sieht dieses Bild von Juden und Judentum aus, das Hebel dergestalt transportiert hat? Und wie ist dieses Bild einzuordnen in eine Epoche, die im Blick auf die Stellung der Juden in der Gesellschaft gemeinhin als das "Zeitalter der Emanzipation" bezeichnet wird? Diesen Fragen ist der im christlich-jüdischen Dialog bewanderte, evangelische Theologe Hans Maaß nachgegangen und hat seine Ergebnisse in einem umfangreichen Aufsatz niedergeschrieben, den COMPASS heute als ONLINE-EXTRA Nr. 200 präsentiert. Maaß untersucht nicht nur genauestens Inhalt und Struktur der betreffenden Kalendergeschichten, die er im Übrigen auch im Original zu Wort kommen lässt, sondern ordnet sie auch in die Strömungen der Zeit ein, wodurch sein Beitrag auch einen lebendigen Eindruck von den Urteilen und Vorurteilen vermittelt, die im Blick auf Juden und Judentum das 18. Jahrhundert prägten und die in mancherlei Hinsicht bis in das für Juden verheerende 20. Jahrhundert hineinreichten.


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Beitrags an dieser Stelle!


© 2014 Copyright beim Autor
online exklusiv für
ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 200


Die Juden in Hebels Kalendergeschichten

HANS MAASS

1. Einleitung


Schlechter Gewinn
Ein junger Kerl tat vor einem Juden gewaltig groß, was er sicheren Hieb in der Hand führe, und wie er eine Stecknadel der Länge nach spalten könne mit einem Zug. »Ja gewiss, Mauschel Abraham«, sagte er, »es soll einen Siebzehner gelten, ich haue dir in freier Luft das Schwarze vom Nagel weg auf ein Haar und ohne Blut.« Die Wette galt, denn der Jude hielt so etwas nicht für möglich, und das Geld wurde ausgesetzt auf den Tisch. Der junge Kerl zog sein Messer und hieb, und verlor‘s, denn er hieb dem armen Juden in der Ungeschicklichkeit das Schwarze vom Nagel und das Weiße vom Nagel und das vordere Gelenk mit einem Zug rein von dem Finger weg. Da tat der Jude einen lauten Schrei, nahm das Geld und sagte: »Au weih, ich hab‘s gewonnen!«
An diesen Juden soll jeder denken, wenn er versucht wird, mehr auf einen Gewinn zu wagen, als derselbe wert ist.
Wie mancher Prozesskrämer hat auch schon so sagen können! Ein General meldete einmal seinem Monarch den Sieg mit folgenden Worten: »Wenn ich noch einmal so siege, so komme ich allein heim.« Das heißt mit anderen Worten auch: O weih, ich hab‘s gewonnen!1 


1.1 Der Rheinische Hausfreund

Unterschiedliche Stoffe

Das „Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds“ enthält eine Fülle von Beiträgen unterschiedlichster literarischer Gattungen. Ein bunter Strauß, so bunt wie eben die Textbeiträge eines volkstümlichen Kalenders. Der Rheinische Hausfreund erschien ab 1807 unter Hebels redaktioneller Leitung. „Eine der wichtigsten Neuerungen des Hausfreundes war der vergrößerte Textteil, in dem »lehrreiche Nachrichten und lustige Geschichten« veröffentlicht wurden. Hebel selbst verfasste jedes Jahr etwa 30 dieser Geschichten. […] Hebels Geschichten erzählten Neuigkeiten, kleinere Geschichten, Anekdoten, Schwänke, abgewandelte Märchen und Ähnliches. Sie dienten der Unterhaltung, ließen den Leser aber auch eine Lehre aus dem Text ziehen.“ 2  Eine sehr wichtige Textsorte ist in dieser Aufzählung vergessen: naturwissenschaftliche Texte, die von allerlei Pflanzen und Tieren handeln, aber auch astronomische Kenntnisse vermitteln sowie Rechenexempel. Man erkennt sofort: hier kommt ein erfahrener Pädagoge zu Wort, der mit seinem Kalender Volksbildung betreiben möchte.

Unterschiedliche Herkunft
Eine erste Sichtung des Stoffes zeigt die unterschiedliche Herkunft der einzelnen Beiträge. Einiges beruht sicher auf verlässlichen Nachrichten, Naturwissenschaftliches entspricht dem damaligen Wissensstand, anderes beruht auf Gerede im Volksmund. Doch gesteht Hebel, der sich selbst immer als „Hausfreund“ bezeichnet, im Vorwort des „Schatzkästleins“: „Doch ließ er‘s nicht beim bloßen Abschreiben bewenden, sondern bemühte sich, diesen Kindern des Scherzes und der Laune auch ein nettes und lustiges Röcklein umzuhängen“. 3  M.a.W. die humorvollen Pointierungen stammen mitunter von J.P. Hebel selbst, nicht aus seiner Tradition.

Der darin zum Ausdruck kommende Humor ist oft recht makaber; dies gilt insbesondere für die Geschichten, in denen Juden vorkommen. Damit stellt sich die Frage: Woher hat Hebel diese Geschichten? Sind es wahre Begebenheiten? Sind es Judenwitze, die Hebel lediglich in seiner Weise als tatsächlich geschehene Vorkommnisse erzählt? Sind es womöglich in Erzählform gegossene Vorurteile gegenüber der jüdischen Bevölkerung?

Dies muss jeweils an den einzelnen Texten je gesondert untersucht werden.

1.2 Schadenfreude oder allgemein menschliche Schwächen?
Als Beispiel soll die eingangs wiedergegebene Erzählung „Schlechter Gewinn“ 4  dienen.

Der Handlungsablauf
Die Bewertung dieser Erzählung hängt von der Antwort auf die Frage ab: Ist die Erzählung auch vorstellbar, ohne dass ein Jude die eigentliche Bezugsperson ist? Dass dies so ist, legt schon der doppelte Schluss nahe, in dem Hebel


  1. eine generelle Nutzanwendung daraus ableitet (»An diesen Juden soll jeder denken, wenn er versucht wird, mehr auf einen Gewinn zu wagen, als derselbe wert ist.« und daraus die Lehre zieht: »Wie mancher Prozesskrämer hat auch schon so sagen können!«),
  2. noch eine weitere Übertragung auf ein anderes Genus vornimmt (»Ein General meldete einmal seinem Monarch den Sieg mit folgenden Worten: »Wenn ich noch einmal so siege, so komme ich allein heim.« Das heißt mit anderen Worten auch: O weih, ich hab‘s gewonnen!«)


Der Jude in der Erzählung ist also also nur ein anschauliches Beispiel für eine Lebenserfahrung, die grundsätzlich – abgesehen von Juden – gilt. Aber warum wird sie ausgerechnet an einem Juden, nicht an einem Landstreicher, einem arbeitslosen Handwerksgesellen oder sonstigen Verarmten dargestellt? Offensichtlich kennt ja Hebel solche Personen, wie an anderen Erzählungen sichtbar wird. 5

Den unbefangenen Leser beschleicht also der Verdacht, hier werde ein typisch antijüdisches Vorurteil in einen äußerst makabren Witz umgewandelt.

Hannelore Schlaffer, die Herausgeberin der kommentierten Ausgabe von 1980, stellt das Wirken Hebels in den Zusammenhang der 64-jährigen Regentschaft des badischen Markgrafen und späteren Großherzogs Karl Friedrich. In seine Regierungszeit fällt sowohl die generelle Aufhebung der Leibeigenschaft als auch die Judenemanzipation. Dieser aufgeklärte Geist spiegelt sich auch in Hebels Kalendergeschichten wider. Dennoch meine ich, es lasse sich auch etwas von den allgemeinen gesellschaftlichen Vorbehalten gegen das seit der bürgerlichen Gleichstellung aufstrebende jüdische Bürgertum in Hebels Kalendergeschichten entdecken.



THEMENHEFT 2014

Freiheit - Vielfalt - Europa


Das neue "Themenheft 2014" des Deutschen Koordinierungsrates, das wie stest dem aktuellen Jahresthema der über 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gewidmet ist, liegt seit wenigen Tagen zum Verkauf vor.


Es enthält hoch interessante Beiträge namhafter Autoren, die sich mit den theologischen, politischen, kulturellen und pädagogischen Aspekten des Jahresthemas auseinandersetzen.


Zu den Autoren gehören diesmal unter anderem Julius H. Schoeps, Rabbiner Walter Homolka, Julia Kristeva, Navid Kermani, Christian Schmidt-Häuer, Klaus-Michael Bogdal, Moshe Zimmermann, Avraham Burg sowie ein Interview mit dem diesjährigen Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille, dem Schrifsteller György Konrád.

Das diesmal von Schülern des Regionalen Berufsbildungszentrums Wirtschaft der Landeshauptstadt Kiel mit Bildern ansprechend versehene "Themenheft 2014" kann auf der Homepage des Deutschen Koordinierungsrates für Euro 5,- zzgl. Porto/Versand bestellt werden:
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2. Exkurs: Die Situation der Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts

2.1 Verschiedene Ansätze zur Judenemanzipation

Freiherr von Dohms Auffassung: Emanzipation behebt Abrglauben
Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts (1781) hatte der preußische Geheimrat Christian Wilhelm von Dohm eine Schrift verfasst: „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“. 6  Darin ging es im Geist der aufkommenden philosophischen Aufklärung um die Frage der Gleichberechtigung der Juden.

Christian Wilhelm von Dohms Begründung für eine Gleichberechtigung der Juden lautet dabei:


 „Drückung und Verfolgung sind der fruchtbarste und nährendste Boden des Aberglaubens und und geheiligter Vorurtheile. Ohne sie würde von manchen Secten kaum noch der Name übrig seyn, und gewiß auch der jüdische Glaube sich längst schon mit anderen verschmolzen oder wenigstens [...] seine schneidenden Ecken abgeschliffen“ haben. 7


Er will demnach die Unterdrückung der Juden abschaffen, weil er darin die Wurzel jedes Aberglaubens sieht, wozu er offensichtlich auch das Judentum zählt. Seiner Erwartung ist zu entnehmen, ohne Unterdrückung hätte sich das Judentum längst in der Einheitsgesellschaft aufgelöst. Es geht ihm also gar nicht um die Befreiung der Juden als Juden, sondern um ihre Integration in die allgemeine Gesellschaft durch Assimilation.

Badische Position: Karl Friedrich und Hofrat Philipp Holzmann
Noch vor Preußen (1812) gewährte das neugegründete Großherzogtum Baden am 13. Januar 1809 in seinem 9. Konstitutionsedikt den Juden die langersehnte „Rechtsgleichheit“. Diese neue Rechtsstellung kam nicht unvorbereitet. Noch vor Schaffung des Großherzogtums ließ Markgraf Karl Friedrich von Baden, der spätere Großherzog, durch seinen Hofrat Philipp Holzmann prüfen, ob die österreichische Verordnung Kaiser Josephs des II. 8  auch auf seine Markgrafschaft übertragen werden könne. In einem „Bericht über die bürgerliche Verbesserung der Juden in den Fürstlich Badenschen Landen“ kam auch Holzmann zu der Ansicht von Dohms, die Juden seien erst durch die ihnen bisher widerfahrene Behandlung zu dem geworden, was sie sind. 9

Daraus wird deutlich: man sah mit einer gewissen Verachtung auf die Juden herab, auch wenn man für ihr negatives Image nicht – wie später der Nationalsozialismus – angeborene Wesenseigenschaften, sondern die sozialen und rechtlichen Verhältnisse verantwortlich machte.

Umgekehrt waren daher mit der Judenemanzipation entsprechende Erwartungen verbunden. „Diese Rechtsgleichheit [von Christen und Juden] kann jedoch nur alsdann in ihre volle Wirkung treten, wenn sie [die Juden], in politischer und sittlicher Bildung ihnen [den Christen] gleichzukommen bemüht sind“. 10 _ Diese Einschätzung scheint die offizielle Linie des badischen Hofs gewesen zu sein; denn noch 1821 konnte der Staatsminister von Sensburg die Überzeugung vertreten: „Die natürliche Bedingung der bürgerlichen Verbesserung der Juden ist: dass sie sich vorerst physisch, politisch, und moralisch verbessern“ 11.

Moralische Verbesserung
Was war mit moralischer Verbesserung gemeint? Wenige Jahre nach Erlass des Judenedikts äußerte der Heidelberger Physik- und Philosophie-Professor Jakob Friedrich Fries: „Wenn unsere Juden nicht dem Greuel des Ceremonialgesetzes und Rabbinismus gänzlich entsagen und in Lehre und Leben so weit zur Vernunft und Recht übergehen wollen, dass sie sich mit den Christen zu einem bürgerlichen Verein verschmelzen können, so sollten sie bey uns aller Bürgerrechte verlustig erklärt werden, und man sollte [...] sie zum Lande hinaus weisen“. 12

Dies waren scharfe Töne, die aber deutlich machen, welche Erwartungen, ja Forderungen man zu Beginn des 19. Jh. an die Juden richtete. Im Grunde ging es bei dieser Argumentation nicht um die Anerkennung des Judentums, sondern um seine Auslöschung.

2.2 Johann Peter Hebel versus Johann Ludwig Ewald

Hebels Bild der Juden, das er in seinen Kalendergeschichten entwirft, ist auf diesem Hintergrund zu sehen. Dass es auch ganz anders gehen konnte, beweist sein reformierter Kollege im Oberkirchenrat, Johann Ludwig Ewald. Auf seine Einstellung zu den Juden können wir hier nicht näher eingehen. Dazu kann hier nur auf J.A. Steigers Darstellung verwiesen werden.

Johann Ludwig Ewald
Ewald setzte in dieser Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Stellung der Juden insofern neue Akzente, als er sich nicht auf die Diskussion der allgemeinen Menschenrechtsfrage beschränkte. Er argumentierte heilsgeschichtlich-theolo_gisch, und zwar nicht nur im Blick auf das Judentum selbst, sondern auch bezüglich seiner Bedeutung für die christliche Religion und Zivilisation.

„Von dieser Nation gieng bekanntlich, alle Religiosität aus, die diesen Namen verdient, weil in ihr die Lehre von einem einzigen Gott erhalten und auf andere Nationen verbreitet wurde, ohne die kein Zutrauen zur Gottheit, keine Dankbarkeit [...] gegen Gott, möglich ist“ 13.

Auf einem solchen Hintergrund kann weder Judenfeindlichkeit noch eine kultursoziologische christliche Überheblichkeit gegenüber Juden entstehen, sondern Christen werden zu dankbar Lernenden. Dass Ewald eben kein lutherischer, sondern reformierter Theologe war, der in Calvins theologischer Tradition stand, sei dabei nur am Rande vermerkt. Seine theologische Überzeugung konnte sich aber leider nicht durchsetzen.

2.3 Hebels „Sendschreiben“ an die „Theologische Gesellschaft zu Lörrach“

Hebels Lörracher Proteuser
1809, also im Jahr der Judenemanzipation, sandte Hebel an seine Lörracher theologischen Freunde eine Abhandlung, die er als „Sendschreiben“ bezeichnet und offensichtlich als Diskussionsbeitrag zur gesellschaftlichen Beurteilung der Juden verstanden wissen will.

Hebels zeitgeschichtliche Relativierung des Judentums
Hebel wendet sich darin gegen eine Bewertung der Juden nach mitteleuropäi-schen Maßstäben, wie sie etwa sein geistiger Widerpart „Ritter Michaelis“ 14  vertrat. Statt dessen fordert er in dieser Abhandlung, 


„vor allen Dingen den Juden und seinen Blutsvetter, den Araber, auf dem | heimischen Boden desto näher zu betrachten und das charakteristische Gepräge zu studieren, welches das Klima des Landes, wo die Bibel geschrieben wurde, seinen Kindern aufdrückt; da nicht zu leugnen steht, dass man vor allen Dingen diejenigen, an welche geschrieben ist, bass kennen muss, wenn man das, was geschrieben ist, um einen halben Erdgürtel nördlicher und um ein paar Jahrtausende später ausdeuten und dem heiligen freien Geist, der heimisch unter den orientalischen Palmen hauset, unter den nordischen Eichen bannen will.“ 15


Hebels „völkische“ Klassifizierung der Juden und Vorwurf: Festhalten am Alten
Dies scheint zunächst ein judenfreundliches Plädoyer für eine objektive Bewertung und Behandlung der Juden aufgrund ihrer geografisch-klimatischen Lebensbedingungen in ihrem biblischen Herkunftsland zu sein. Unter der Hand spricht daraus allerdings eine recht verächtliche Einstellung – nicht nur gegenüber den Juden. Einige Argumente könnte man sogar als ausgesprochen rassistisch bezeichnen:


„Ich rechtfertige mein Vorhaben und meinen Wunsch mit der Behauptung, dass das jüdische Volk, wie alle asiatischen und alle unterdrückten Völker, sehr an-hängig an sein Altes sei und den physischen, psychologischen und moralischen Charakter seiner Väter in Palästina noch nicht verändert habe.“ 16


Hebels rassistische Charakterisierung der Juden
Auch Hebel greift, wie wir dies bereits bei Fries und von Sensburg gesehen haben, das Festhalten der Juden an ihrer religiös-kulturellen Tradition auf. Er bleibt jedoch nicht dabei stehen, sondern führt auch körperliche Merkmale wie die Physiognomie ins Feld, wenn er „zum Beispiel die Ähnlichkeit der Gesichtszüge und den Bart“ als besondere jüdische Merkmale erwähnt und diese folgendermaßen erklärt:


„Erstere erklärt man richtig daher, dass die Juden selten fremdes Blut durch Heirat in das ihrige gemischt haben, und ich setze nicht unwahrscheinlich hinzu, dass, wenn jemand alle Judengesichter, die jetzt existieren, kennte und imstande wäre, das Gemeinschaftliche und Charakteristische aus allen herauszuheben und vorerst in ein Gesicht zusammenzufassen, dann in diesem die männlichen und weiblichen Züge zu scheiden und in zwei Gesichter zu zerlegen, so würde er mit dieser Operation die Originalporträts des Abraham und der Sara richtig gefunden und dargestellt haben.“ 17


Dies entspricht nicht nur einer erbbiologichen Rassenideologie, sondern unter-streicht diese noch durch die fixe Idee, ein typisches jüdisches „Urgesicht“, und sei es auch nur hypothetisch, rekonstruieren zu können. Auf diese Züge in Hebels „Sendschreiben“ geht Steiger nicht ein. Deshalb kann er diese Schrift auch als Hebels „ausführlichste philosemitische Äußerung“ 18  bezeichnen, obwohl Hebel auf Schritt und Tritt das Fremdländische betont.

Hebels karikierende Verachtung des „Morgenländischen“
Er geht dann allerdings nicht näher auf die jüdische Physiognomie ein, sondern nimmt sich die jüdische Kleidung vor, die er samt und sonders für „morgenländisch“ erklärt, auch wenn er weiß, dass die Kleidung europäischer Juden anders aussieht als die typisch orientalische Kleidung seiner Zeit. Darin erkennt er darin „morgenländische“ Züge:


 „Der Jude isst, trinkt, betet und grüßt seine Landsleute mit bedecktem Haupt. Warum? Der Hut ist ein Turban. Kein Morgenländer zieht den Turban. Er ist wesentlich zur anständigen Erscheinung vor anderen. –  […]  Die Pantoffeln, die er den Schuhen vorzieht und wie den Schlafrock zum Gegenstand des Luxus macht, sind seine Sandalen. […] So setzt er sich, ohne es zu wissen und zu wollen, mitten in Deutschland aus europäischen Kleidungsstücken das Kostüm des Orient nachäffend, zusammen und gefällt sich darin, und wenn alsdann am heißesten Sabbat des ?Jahrs? noch? an? einem Fleck ?die  Sonne?scheint, so wird er nicht in den Schatten stehen. Denn er ist ein Orientale.“ 19


Das jüdische Outfit wird mit dieser Beschreibung gewissermaßen zur Karikatur.

Hebels Auslassungen über den Namen Moses
In Hebels Geschichten heißen Juden oft „Mauschel“; dies begründet Hebel in seinem „Sendschreiben“ mit einer Schreibweise des Namens „Mose“ in der Septuaginta (Môyses). Diese Namensschreibung kommentiert er:


 „Es beweist nichts weniger, als dass der Gesetzgeber der Juden nicht Moses, sondern immer Mauses geheißen habe, und also das Mauses unserer Juden nicht vernachlässigte Pöbelsprache, sondern reine Haltung des orientalischen Wohlklangs mitten unter allen abendländischen Dissonanzen sei, wie auch das Arabische beweist.“ 20


Dass das Johannesevangelium Môses schreibt, erklärt er damit, dass die Griechen das Omega wie „au“ aussprachen.

Hebels Vorurteil: typisch jüdische Spottlust
Dass auch die mit Jesus hingerichteten Banditen Jesus verspotteten, erklärt er mit einer jüdischen Charaktereigenschaft:


„Aber das Ideal der tiefsten Verwerflichkeit realisiert auf der andern Seite ein dritter, der mit Nägeln in den eigenen Händen und mit dem Tod auf eigener Zunge der nämlichen Leiden eines Unschuldigen neben sich noch spotten kann und damit einen Charakter|zug seiner Nation belegt. Denn betrachtet den Juden, wo ihr wollt, Spottsucht und Schadenfreude hat er mit seinesgleichen unter allen Nationen gemein; aber das hohe Talent, im neckenden Spott über fremde Leiden den Schmerz der eigenen zu kühlen, ist ihm eigen.“ 21


Hebels Vorurteil: typisch jüdische Arbeitsscheu und Schächten als deren Beweis.

Schließlich übernimmt er die Vorurteile jüdischer Arbeitsscheu und Brunnenvergiftung. 22  Dass Steiger dies nicht nur als zeitkritische Bemerkungen gegenüber  „nordische[r] Arbeitsseligkeit, Gelehrsamkeit und Schreib- sowie Leselust“ 23  ansieht, sondern als Ausdruck ihres Bewusstseins das Gottesvolk zu sein, ist nur möglich, weil er den ironischen Unterton der Hebelschen Ausführungen überhört. Übertroffen wird diese Charakterisierung der jüdischen Einstellung zu körperlicher Arbeit nur noch durch seine Erklärung der jüdischen Vorschriften des rituellen Schlachtens, obwohl er dies als Bibeltheologe besser wissen müsste. Dass diese Bemerkung eigentlich nicht in seinen Gedankenfortgang passt, zeigt auch die Art, wie er diesen einführt und mit entsprechender Ironie würzt:


„Zum Anhang dieser Nummer und Eintrag ins Ganze gehört übrigens noch die Bemerkung, dass der Jude ein einziges Metier der Europäer con amore treibt, das Fleischerhandwerk. Weil er koscher essen müsse, meint man. Allein da ließe sich helfen, und lässt sich, wo er nicht schlachten kann. Nein, sondern bis ihm sein Gott ?wieder ?einen ?Altar ?und ?einen ?Tempel ?baut, ?treibt ?er die? freie ?Kunst des Schlachtens, die ihm von dorther angestammt ist, an der Fleischbank fort, Blut muss fließen, am Altar oder in der Metzig!“ 24


Solche Vorurteile sind langlebig. Die angeblich jüdische Blutrünstigkeit fand auch in die Nazi-Kinderliteratur Eingang im Vorurteil vom jüdischen Arzt. 25 

Einzige positive Eigenschaft: kein Alkoholmissbrauch
Nur eines merkt Hebel positiv an, „dass der Jude von keinem europäischen Laster so frei ist als von der Trunkenheit.“ 26  Diese hält er für ein typisch nordisches Laster, das zunimmt, je weiter man nach Norden kommt. Dass sich hier lebende Juden davon nicht anstecken lassen, ist das Morgenländische an ihnen. 27

Hebels Veranlassung des „Sendschreibens“
Auch wenn sich dieses Sendschreiben als Widerlegung der Gedanken des „Ritter Michaelis“ und dessen Voraussetzung gibt, nach der „Wahrheiten, die in der heiligen Schrift gelehrt werden“ als „schon aus der Vernunft bekannt, oder derselben gänzlich verborgen“ seien, bleibt die Frage, was ihn zu dieser Schrift veranlasst hat. Waren es Befürchtungen, die sich mit der Judenemanzipation in der Bevölkerung einstellten? War sie als „Aufklärungsschrift“ gemeint, die Verständnis für jüdische Besonderheiten wecken wollte, indem diese als morgenländisch-traditionell erklärt werden?



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3. Niederschlag der Hebelschen Sicht der Juden in seinen Kalendergeschichten.

3.1 Jüdische Geschäftemacher

a. Gewinn um jeden Preis?


Als fünfte Besonderheit des jüdischen Charakters nennt Hebel in seinem „Sendschreiben“ die Geschäftemacherei:


„Der Jude weicht dem Ackerbau und jedem Beruf, der anhaltend und mühsam beschäftigt, aus und nährt sich, sei es auch kümmerlich, von allerlei Handel, treibt Gaukelei, legt Rattengift oder kultiviert irgendeinen Nebenzweig einer nützlichen Kunst im kleinen, zum Beispiel die Operation der Hühneraugen. Man sagt daher sie seien Tagdiebe, und das ist einseitig und ungerecht. Man sollte sagen: Sie sind Morgenländer.“ 28


Dies ist nicht nur eine Beleidigung für Juden, sondern für alle Orientalen, die er damit als „Tagdiebe“ charakterisiert.

Bereits die Eingangserzählung „Schlechter Gewinn“ stellt diesen Charakterzug deutlich heraus. Man muss jedoch schon sehr „kümmerlich“ leben, um sich auf solche „Spielchen“ einzulassen, und andererseits finanziellen Gewinn höher achten als körperliche Unversehrtheit.

Bestrafte Geschäftemacherei
Ähnlich wird ein Jude in der Erzählung beschrieben: „Wie einmal ein schönes Ross um fünf Prügel feil gewesen ist“. 29  Noch mehr als beim „schlechten Gewinn“ hat man den Eindruck, dass sich der Erzähler in sadistischer Freude an der masochistischen Gewinnsucht des jüdischen Protagonisten genüsslich weidet; denn er versteht es, die Erzählung durchaus spannend darzubieten, so dass man einerseits mit dem misshandelten Juden leidet, anderseits aber auch auf den guten Ausgang hofft, der dann aber ausbleibt:


Wenn nicht in Salzwedel, doch anderswo hat sich folgende wahrhafte Geschichte zugetragen, und der Hausfreund hats schriftlich.
Ein Kavallerieoffizier, ein Rittmeister, kam in ein Wirtshaus. Einer, der schon drin war und ihn hatte vom Pferd absteigen gesehn, ein Hebräer, sagte: „Dass das gar ein schöner Fuchs ist, wo Ihro Gnaden drauf hergeritten sind.“
„Gefällt er Euch, Sohn Jakobs?“ fragte der Offizier.
„Dass ich hundert Stockprügel aushielte, wenn er mein wäre“, erwiderte der Hebräer.
Der Offizier wedelte mit der Reitpeitsche an den Stiefeln. „Was brauchts hundert“, sagte er, „Ihr könnt ihn um fünfzig haben.“
Der Hebräer sagte: „Tuns fünfundzwanzig nicht auch?“ – „Auch fünfundzwanzig“, erwiderte der Rittmeister – „auch fünfzehn, auch fünf, wenn Ihr daran genug habt.“
Niemand wusste, ob es Spaß oder Ernst ist. Als aber der Offizier sagte: „Meinetwegen auch fünf“, dachte der Hebräer: ›Hab ich nicht schon zehn Normalprügel vor dem Amtshaus in Günzburg ausgehalten und bin doch noch ko-scher?‹ – „Herr“, sagte er, „Sie sind ein Offizier. Offiziersparole?“ Der Rittmeister sprach: „Traut Ihr meinen Worten nicht? Wollt Ihrs schriftlich?“
„Lieber wärs mir“, sagte der Hebräer.
Also beschied der Offizier einen Notarius und ließ durch ihn dem Hebräer folgende authentische Ausfertigung zustellen: „Wenn der Inhaber dieses von gegenwärtigem Herrn Offizier fünf Prügel mit einem tüchtigen Stocke ruhig ausgehalten und empfangen hat, so wird ihm der Offizier seinen bei sich habenden Reitgaul, den Fuchs, ohne weitere Lasten und Nachforderung alsogleich als Eigentum zustellen. So geschehen da und da, den und den.“  
Als der Hebräer die Ausfertigung in der Tasche hatte, legte er sich über einen Sessel, und der Offizier hieb ihm mit einem hispanischen Rohr mitten auf das Hinterteil dergestalt, dass der Hebräer bei sich selbst dachte: ›Der kanns noch besser als der Gerichtsdiener in Günzburg‹, und lautauf au weih! schrie, so sehr er sich vorgenommen hatte, es zu verbeißen.
Der Offizier aber setzte sich und trank ruhig ein Schöpplein. „Wie tuts, Sohn Jakobs?“ Der Hebräer sagte: „Na, wie tuts, gebt mir die andern auch, so bin ich absolviert.“
„Das kann geschehen“, sprach der Offizier und setzte ihm den zweiten auf, dergestalt, dass der erste nur eine Lockspeise dagegen zu sein schien; darauf setzte er sich wieder und trank noch ein Schöpplein.
Also tat er beim dritten Streich, also beim vierten. Nach dem vierten sagte der Hebräer. „Ich weiß nicht, soll ichs Euer Gnaden Dank wissen oder nicht, dass Sie mich einen nach dem andern genießen lassen. Geben Sie mir nach vierten den fünften gleich, so bin ich des Genusses los, und der Fuchs weiß, an wen er sich zu halten hat.“
Da sagte der Offizier: „Sohn Jakobs, auf den fünften könnt Ihr lange warten“, und stellte das hispanische Rohr ganz ruhig an den Ort, wo er es genommen hatte, und alles Bitten und Betteln um den fünften Prügel war vergebens.
Da lachten alle Anwesenden, dass man fast das Haus unterstützen musste, der Hebräer aber wendete sich an den Notarius, er solle ihm zum fünften Prügel verhelfen, und hielt ihm die Verschreibung vor. Der Notarius aber sagte: „Jekeffen, was tu ich damit? Wenns der Herr Baron nicht freiwillig tut, in der Verschreibung steht nichts davon, dass er muss.“ Kurz, der Hebräer wartet noch auf den fünften und auf den Fuchs.
Der Hausfreund aber wollt diesen Mutwillen nicht loben, wenn der Hebräer sich nicht angeboten hätte.
Merke: Wer sich zu fünf Schlägen hergibt um Gewinns willen, der verdient, dass er vier  bekommt ohne Gewinn. Man muss sich nie ums Gewinns willen freiwillig misshandeln lassen.


Die Schlusssentenz zielt in dieselbe Richtung wie beim „schlechten Gewinn“.

Hebels Erzähltechnik
Hinzu kommt aber noch eine ganze Reihe anderer Auffälligkeiten. Hebel kleidet die Erzählung in das Gewand einer wahren Begebenheit, obwohl die Ortsangabe, „Salzwedel“ oder „anderswo“ trotz der Versicherung, „der Hausfreund hats schriftlich“, an der Echtheit zweifeln lässt. M.a.W.: Dies könnte sich überall zugetragen haben. Eine solche Verallgemeinerung will den Eindruck erwecken: So sind alle Juden, dies hätte überall passieren können.

Hinzu kommen die wechselnden Bezeichnungen für diesen Juden: Hebräer, Sohn Jakobs, Jekeffen, offensichtlich eine Verballhornung von Jaakov.

Und welche Erniedrigung bedeutet es, dass dieser Jude nicht nur das zunächst sicher als Scherz gemeinte Angebot von hundert Stockprügeln macht, sondern am Ende sogar um den fünften Schlag bettelt, ja, den Notar als Beistand anruft!

Dass Hebel die anfängliche Verhandlung um den Preis für das Reitpferd analog zu Abrahams Verhandlung mit Gott um die Verschonung Sodoms schildert, gibt dem Ganzen noch eine besondere Note!

Schlechte Charaktereigenschaften als typisch jüdisches Merkmal
Was ist das Judenfeindliche an dieser Erzählung?
Ihre Zuspitzung auf einen Juden! Grundsätzlich hätte man eine solche Begebenheit auch von einem nichtjüdischen geldgierigen Geschäftemacher erzählen können; aber dann hätte sie wohl niemand interessant gefunden, vielleicht nicht einmal geglaubt, sondern für eine Erfindung gehalten, die zur Illustration der moralischen Schlussmahnung aus dieser herausgesponnen wurde. Bei einem Juden glaubt man sie, sagt womöglich noch bestätigend: So sind sie!

b. Geprellte Betrüger.
Erstes Beispiel: Unterschlagene Edelsteine


Eine ganz gewöhnliche Gaunerei
Eine Erzählung, die zunächst anscheinend nichts mit Juden zu tun hat, also auch ohne Juden funktionieren könnte, ist die Geschichte „List gegen List“. 30  Erst als sie schon zur Hälfte erzählt ist, stellt sich heraus, wer die beiden „vornehm gekleideten Personen“ sind, von denen zu Beginn die Rede ist:


Einem namhaften Goldschmied hatten zwei vornehm gekleidete Personen für dreitausend Taler kostbare Kleinode abgekauft für auf die Krönung in Ungarn. Hernach bezahlten sie ihm tausend Taler bar, legten alles, was sie ausgesucht hatten, in ein Schächtelein zusammen, siegelten das als Unterpfand für die noch fehlende Summe wieder in Verwahrung; wenigstens kam es dem Goldschmied so vor, als wenn es das nämliche wäre. „In vierzehn Tagen“, sagten sie, „bringen wir Euch die fehlende Summe und nehmen alsdann das Schächtelein in Empfang.“ Alles wurde schriftlich gemacht. Allein es vergehen drei Wochen, niemand meldet sich. Der Krönungstag geht vorüber, es gehen noch vier Wochen vorüber. Niemand will mehr nach dem Schächtelein fragen. Endlich dachte der Goldschmied: ›Was soll ich Euch Euer Eigentum hüten auf meine Gefahr und mein Kapital tot drinnen liegen haben?‹ Also wollte er das Schächtelein in Beisein einer obrigkeitlichen Person eröffnen und die bereits empfangenen tausend Taler hinterlegen. Als es aber geöffnet ward, „lieber, guter Goldschmied“, sagte der Aktuarius, „wie seid Ihr von den zwei Spitzbuben angeschmiert.“ Nämlich in dem Schächtelein lagen statt Edelgestein Kieselstein und Fensterblei statt Goldes. Die zwei Kaufleute waren spitzbübische Taschenspieler, böhmische Juden, brachten das wahre Schächtelein unvermerkt auf die Seite und gaben dem Goldschmied ein anderes zurück, welches ebenso aussah. „Goldschmied“, sagte der Aktuarius, hier ist guter Rat teuer. Ihr seid ein unglücklicher Mann.“ Indem trat wohlgekleidet und ehrbar ein Fremder zu Türe herein und wollte dem Goldschmied allerlei krummgebogenes Silbergeschirr und einsechtige (einzelne) Schnallen verkaufen und sah den Spektakel. „Goldschmied“, sagte er, als der Aktuarius fort war, „Euer lebelang müsst Ihr Euch nicht mit den Schreibern einlassen. Haltet Euch an praktische Männer. Habt Ihr das Herz, an eine Speckseite zu setzen, Euch ist zu helfen. Wenn Euer Schächtelein oder der Wert dafür noch in der Welt ist: ich schaff Euch die Spitzbuben wieder ins Haus.“ – „Wer seid Ihr, um Vergebung?“ fragte der Goldschmied. – „Ich bin der Zundelfrieder“, erwiderte der Fremde mit Vertrauen und mit einem recht liebenswürdig freundlichen Spitzbubengesicht. Wer den Frieder nicht persönlich kennt, wie der Hausfreund, der kann sich keine Vorstellung davon machen, wie ehrlich und gutmütig er sich anstellen und dem vorsichtigsten Menschen so unwiderstehlich das Herz und das Vertrauen abstehlen kann wie das Geld. Auch ist er in der Tat so schlimm nicht, als man ihn zwischen Bühl und Achern dafür hält. Ob nun der Goldschmied noch überdies an das Sprichwort dachte, dass, wer das Ross geholt hat, der hole auch den Zaum, kurz, der Goldschmied vertraut sich dem Frieder an. „Aber ich bitte Euch“, sagte er, „betrügt mich nicht.“ – „Verlasst Euch auf mich“, sagte der Frieder, „und erschreckt nicht allzusehr, wenn ihr morgen früh wieder etwas klüger geworden seid!“ Vielleicht ist der Frieder auf einer Spur? Nein, er ist noch auf keiner.  Aber wer in selbiger Nacht dem  Goldschmied auch noch vier Dutzend silberne Löffel, sechs silberne Salzbüchslein, sechs goldene Ringe mit kostbaren Steinen holte, das war der Frieder. Manch geneigter Leser, der auf ihn nicht viel halten will, wird denken: ›Das geschah dir recht.‹ Desto besser. Denn dem Goldschmied war es auch recht. Nämlich auf dem Tisch fand er von dem Zundelfrieder einen eigenhändigen Empfangschein, dass er obige Artikel richtig erhalten habe, und ein Schreiben, wie sich der Goldschmied nun weiter zu verhalten habe. Nämlich er zeigt jetzt nach des Frieders Anleitung den Diebstahl beim Amt an und bat um einen Augenschein. Hernach bat er den Amtmann, die verlorenen Artikel in allen Zeitungen bekanntzumachen. Hernach bat er, auch das versiegelte Schächtelein mit seiner ganzen Beschreibung mit in das Verzeichnis zu setzen, um etwas. Der Amtmann sah ins Klare und verwilligte ihm den Wunsch. ›Einem honetten Goldschmide‹, dachte er, ›kann ein Mann, der eine Haushaltung führt, etwas zum Gefallen tun.‹ Also verlauft es sich in alle Zeitungen, dem Goldschmied  sei gestohlen worden das und das, unter andern ein Schächtelein so und so mit vielen kostbaren Edelge-steinen, die alle benannt wurden. Die Nachricht kam bis nach Augsburg. „Löb“, schmunzelte dort ein böhmischer Jud dem andern zu, „der Goldschmied wird nie erfahren, was in dem Schächtelein war. Weißt du, dass es ihm gestohlen ist?“ – Desto besser, sagte der Löb, „so muss er uns auch unser Geld zurückgeben und hat gar nichts.“ Kurz, die Betrüger gehn dem Frieder in die Falle und kommen wieder zu dem Goldschmied. „Seid so gut und gebt uns itzt das Schächtelein! Nicht wahr, wir haben Euch ein wenig lange warten lassen?“ – „Liebe Herren“, erwiderte der Goldschmied, „euch ist unterdessen ein großes Unglück geschehen, das Schächtelein ist euch gestohlen. Habt ihrs noch in keiner Zeitung gelesen?“ Der Löb erwiderte mit ruhiger Stimme: „Das wäre uns leid, aber das Unglück wird wohl auf Eurer Seite sein. Ihr liefert uns das Schächtelein ab, wie wirs Euch in die Hände gegeben haben, oder Ihr gebt uns unser vorausbezahltes Geld zurück. Die Krönung ist ohnehin vorüber.“ – Man sprach hin, man sprach her, „und das Unglück wird eben doch auf eurer Seite sein“, nahm wieder der Goldschmied das Wort. Denn im nämlichen Augenblick traten jetzt mit seiner Frau vier Hatschiere in die Stube, handfeste Männer, wie sie sind, und fassten die Spitzbuben. Das Schächtelein war nimmer aufzutreiben, aber das Zuchthaus und soviel Geld und Geldwert, als nötig war, den Goldschmied zu bezahlen. Aus Dankbarkeit zerriss der Goldschmied hernach den Empfangschein des Frieders. Aber der Frieder brachte ihm alles wieder und verlangte nichts für seinen guten Rat. „Wenn ich einmal etwa von Euerer Ware benötigt bin“, sagte er, „so weiß ich ja jetzt den Weg in Euren Laden und zu Euerm Kästlein. Wenn ich nur alle Spitzbuben zugrunde richten könnte“, sagte er, „dass ich der einzige wäre.“ Denn eifersüchtig ist er.


Spannende Erzählkunst nach gängigem Muster
Dass diese Erzählung spannend aufgebaut ist, muss nicht besonders betont werden. Eine besondere Note erhält sie jedoch dadurch, dass ausgerechnet einer der größten Gangster jener Zeit, der berüchtigte Zundelfrieder, dem Gold-schmied gewissermaßen als deutscher Robin Hood zu seinem Recht verhilft.

Ansonsten verläuft die Geschichte nach dem Muster des betrogenen Betrügers; denn die beiden Gauner werden ihrer gerechten Bestrafung zugeführt.

Zweites Beispiel:Variation eines Themas
Auch wenn bestimmte Motive immer wiederkehren, variiert „der Hausfreund“, hinter dem sich Hebel verschanzt, die Abläufe. Dass der „Gläserne Jude“ 31  ein Betrüger ist, wird erst im Verlauf der Erzählung klar. Oder sollte das Stichwort „ein polnischer Jude“ für Hebels Leserschaft dies von vornherein nahegelegt haben? In jedem Fall bedient diese Geschichte das Vorurteil des betrügerischen Juden, der im Ernstfall für den Gewinn auch körperliche Züchtigung hinzunehmen bereit ist. Soziologisch gesehen ist dies typisches Unterschichtverhalten. Dies zeigt die gesellschaftliche Einordnung der Juden in jener Zeit, auch wenn es  aufgrund der ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Rolle, die ihnen sowohl die Ausübung von Zunftberufen als auch Landwirtschaft verbot bereits damals durchaus reiche Juden gab, die vom Handel lebten.

Dass Juden mit Geldverkehr zu tun hatten und deshalb von vornherein als Wucherer und Betrüger galten, geht u.a. aus mittelalterlichen Darstellungen hervor.

Ein beliebter und bekannter Bildtypus
• So zeigt ein Holzschnitt von Erhard Reuwich aus dem Jahr 1486 einen Mann (wohl einenen Pilger), der an einen in Jerusalem wohnenden Juden seinen Mantelumhang verkauft oder verpfändet. 32
• Eine Lithographie aus dem Jahr 1869 zeigt eine sog. Ständetreppe. 33  Man muss das Bild in seinem Aufbau genau betrachten: die untere Bildmitte zeigt eine friedliche ländliche Szene. Diese wird von insgesamt sieben verschiedenen Ständen umringt. Auf der linken Seite sind in aufsteigender Linie diejenigen zu sehen, die dem einfachen Bürger Geld abverlangen, rechts (absteigend) diejenigen, die entweder nichts haben oder sogar Geld geben. Gekrönt wird diese Pyramide von einem Juden mit einem dicken Geldsack. Der Herausgeber kommentiert dieses Bild:
„Die Darstellung hat keine auffällig antisemitische Tendenz. Der Handelsjude ist sozusagen ein zum Ganzen dazugehörender Teil der Gesellschaft.“

Zwar trifft die Behauptung zu: „Der Handelsjude ist sozusagen ein zum Ganzen dazugehörender Teil der Gesellschaft.“ Ich kann mich jedoch dieser scheinbar neutralen bzw. positiven Deutung trotzdem nicht anschließen; es ist doch zu fragen, warum ausgerechnet der Jude und nicht der Kaiser an oberster Stelle steht. Ein Blick auf die Postamente, auf denen die einzelnen Personen stehen, kann bei der Beantwortung dieser Frage weiter helfen: Der Kaiser fordert den ihm zustehenden Tribut, der Edelmann beruft sich auf seinen abgabenfreien Besitz, der Pfarrer kassiert die Stolgebühren für die Amtshandlungen, der Soldat gibt nichts, der Bettler hat nichts, der Bauer muss alle anderen ernähren. Nur der Jude auf der obersten Stufe stellt fest: „Ich muss von dem Profite leben“. M.a.W. er nutzt alle anderen aus. Dies entspricht der Einschätzung der Juden im 19. Jh.

Verdiente Strafe oder kalkulierter Kaufpreis?
Der „gläserne Jude“ ist eine Verkörperung dieses betrügerischen und deshalb ständig auf der Flucht befindlichen Typs:


Im letzten Krieg floh ein polnischer Jude vor einem Husaren, der ihn zusammenhauen wollte, in das Haus seines Schwagers. Der Schwager, der sonst sein Freund nicht war, steckte ihn gleichwohl in einen Kornsack und legte ihn auf den Boden. „Nausel, rühr dich nicht, sonst sind wir beide kapores.“ – „Doved ich rühr mich nicht.“ Kommt auf einmal der Husar mit zornigem Säbel zur Tür herein und: „Wo ist der Spitzbub?“ schrie er mit grimmiger Gebärde; der Schwager erwiderte: „Na, gestrenger Herr Unteroffizier! Dass mein Haus keine Spitzbubenherberg ist. Bin ich nicht ein ehrlicher Jüd?“ Der Husar erwiderte: „Wo der Spitzbub ist, will ich wissen, der mich um vier Taler betrogen hat“, und visitierte in allen Winkeln herum. „Was habt Ihr in dem Sacke da“, fuhr er den Schwager an und hielt ihm den blanken Säbel über den Kopf. „Grausamer Herr Unteroffizier, was werd ich haben in dem Sack do? Glas.“ Da hieb im Zorn der Husar mit flachem Säbel, hernach mit dem Rücken des Säbels aus Leibeskräften auf den Sack. Soviel Hiebe, soviel Schwielen. Der Jude aber, der darin steckte, dachte: „Ich will meinen Schwager nicht stecken lassen, mich noch weniger“, und machte unaufhörlich mit reiner Stimme kling, kling, dass der Husar meinen sollte, er höre Glas klingeln. Item, es half etwas.  Denn der Einfall kam dem Husaren selbst so lächerlich  |  vor,  dass  schon sein halber Zorn gebrochen war. Also schlug er auch noch die andere Hälfte desselben an dem Sack heraus, und der Jud inwendig immer schneller kling, kling, kling. Als aber der Husar fort war, und der Jude blutrünstig aus dem Sack schlüpfte und sich beschaute: „Gottes Wunder“, sagte er, „mein Leben lang will ich um vier Taler kein Glas mehr werden.“


Mit den Augen eines Bürgers des 19. Jh. gelesen
Wie liest dies ein Bürger, der sich in der gesellschaftlichen Stufenleiter einordnet, diese Erzählung? Bewundert er den geprügelten Betrüger wegen seines listigen Einfalls? Empfindet er gar Respekt, weil dieser seinen Schwager nicht hängen lassen will, oder wird dieser durch die Bemerkung „mich noch weniger“ wieder reduziert? Oder kommt Schadenfreude auf? Und wäre sie dieselbe, wenn es sich bei dem so Bestraften nicht um einen Juden handelte, sondern um einen armen Schlucker, etwa um den Bettler auf der „Ständetreppe“?

Übertrieben oder real?
So skurril und brutal, ja, geradezu sadistisch die Geschichte ist, bewegt sie sich damit wohl dennoch im Bereich der Realität, da sie zeigt, wie man mit Juden umging oder meinte umgehen zu können. Den Eindruck realitätsgetreuer Erzählung verstärkt Hebel auch dadurch, dass er in dieser Erzählung noch stärker als sonst die Juden eine ans Jiddische anklingende Sprache sprechen lässt.

c. Der überlistete Jude


Mit Juden kann man‘s ja machen!
Wie man meinte, vielleicht auch nur wünschte, mit Juden umgehen zu können, zeigt die Erzählung „Der falsche Edelstein“. 34  Man kann darüber streiten, ob der Jude in dieser Geschichte lediglich überlistet oder regelrecht betrogen wurde, da beide Elemente die Handlung bestimmen: Der Reiche behauptet ja von Anfang an, der Stein sei falsch; andererseits zeigt er ihm einen Ring mit einem tatsächlich echten Stein, den dieser sogar begutachten lässt.


In einem schönen Garten von Straßburg vor dem Metzgertor, wo jedermann für sein Geld hineingehen und lustig und honett sein darf, da saß ein wohlgekleideter Mann, der auch sein Schöpplein trank, und hatte einen Ring am Finger mit einem kostbaren Edelstein und spiegelte den Ring. So kommt ein Jude und sagt: „Herr Ihr habt einen schönen Edelstein in Eurem Fingerring, dem wär ich auch nicht feind. Glitzert er nicht wie das Urim und Thummim in dem Brustschildlein des Aharons?“ Der wohlgekleidete Fremde sagte kurz und trocken: „Der Stein ist falsch; wenn er gut wäre, steckte er wohl an einem andern Finger als an dem meinigen.“ Der Jud bat den Fremden, ihm den Ring in die Hand zu geben. Er wendet ihn hin, er wendet ihn her, dreht den Kopf rechts, dreht den Kopf links. ›Soll dieser Stein nicht echt sein?‹ dachte er und bot dem Fremden für den Ring zwei neue Dublonen. Der Fremde sagte ganz unwillig: „Was soll ich Euch betrügen? Ihr habt es schon gehört, der Stein ist falsch.“ Der Jude bittet um Erlaubnis, ihn einem Kenner zu zeigen, und einer, der dabei saß, sagte: „Ich stehe gut für den Israeliten, der Stein mag wert sein, was er will.“ Der Fremde sagte: „Ich brauche keinen Bürgen, der Stein ist nicht echt.“ |
In dem nämlichen Garten saß damals an einem andern Tisch auch der Hausfreund mit seinen Gevatterleuten, und waren auch lustig und honett für ihr Geld, nämlich für das Geld der Gevatterleute, und einer davon ist ein Goldschmied, ders versteht. Einem Soldaten, der in der Schlacht bei Austerlitz die Nase verloren hatte, hat er eine silberne angesetzt und mit Fleischfarbe angestrichen, und die Nase war gut. Nur einblasen einen lebendigen Odem in die Nase, das konnte er nicht. Zu dem Gevattermann kommt der Jude. „Herr“, sagte er, „soll dieses kein echter Edelstein sein? Kann der König Salomon einen schönern in der Krone getragen haben?“ Der Gevattermann, der auch ein halber Sternseher ist, sagte: „Er glänzt wie am Himmel der Aldebaran. Ich verschaffe Euch neunzig Dublonen für den Ring. Was Ihr ihn wohlfeiler bekommt, ist Euer Schmus.“ Der Jud kehrt zu dem Fremden zurück. „Echt oder unecht, ich gebe Euch sechs Dublonen“, und zählte sie auf den Tisch, funkelnagelneu. Der Fremde steckte den Ring wieder an den Finger und sagte jetzt: „Er ist mir gar nicht feil. Ist der falsche Edelstein so gut nachgemacht,dass Ihr ihn für einen rechten haltet, so ist er mir auch so gut“, und steckte die Hand in die Tasche, dass der lüsterne Israelit den Stein gar nicht mehr sehen sollte. – „Acht Dublonen.“ – „Nein.“ – „Zehn Dublonen.“ – „Nein.“ – „Zwölf – vierzehn – fünfzehn Dublonen.“ – „Meinetwegen“, sagte endlich der Fremde, „wenn Ihr mir keine Ruhe lassen und mit Gewalt wollt betrogen sein. Aber ich sage es Euch vor allen diesen Herren da, der Stein ist falsch, und ich gebe Euch kein gut Wort mehr dafür. Denn ich will keinen Verdruss haben. Der Ring ist Euer.“ Jetzt brachte der Jud voll Freude dem Gevattermann den Ring. „Morgen komm ich zu Euch und hole das Geld.“ Aber der Gevattermann, den noch niemand angeführt hat, machte ein paar große Augen. „Guter Freund das ist nicht mehr der nämliche Ring, den Ihr mir vor zwei Minuten gezeigt habt. Dieser Stein ist zwanzig Kreuzer | wert zwischen Brüdern. So macht man sie bei Sankt Blasien im Eieli in der Glashütte.“ Denn der fremde hatte wirklich einen falschen Ring in der Tasche, der völlig wie der gute aussah, den er zuerst am Finger spiegelte, und während der Jud mit ihm handelte und er die Hand in der Tasche hatte, streifte er mit dem Daumen den echten Ring vom Finger ab und steckte den Finger in den falschen, und den bekam der Jud. Da fuhr der Betrogene, als wenn er auf einer brennenden Rakete geritten wäre, zu dem Fremden zurück: „Au weih, au weih! Ich bin ein betrogener Mann, ein unglücklicher Mann, der Stein ist falsch.“ Aber der Fremde sagte ganz kaltblütig und gelassen: „Ich hab ihn Euch für falsch verkauft. Diese Herren hier sind Zeugen. Der Ring ist Euer. Hab ich Euch ihn angeschwätzt, oder habt Ihr ihn mir abgeschwätzt?“ Alle Anwesenden mussten gestehen: „Ja, er hat den Stein  für falsch verkauft und gesagt: der Ring ist Euer.“ Also musste der Jud den Ring behalten und die Sache wurde nachher vertuscht.


Zeugen eines bewussten Betrugs
Auch hier wird der Anschein der Augenzeugenschaft erweckt, denn „in dem nämlichen Garten saß damals an einem andern Tisch auch der Hausfreund mit seinen Gevatterleuten“. Der heutige Leser fragt sich allerdings: Warum ist der „Hausfreund“ nicht eingeschritten? Hielt er den Vorfall für rechtens? Zwar hatte der Besitzer nie behauptet, der Stein sei echt. Da er aber einen echten Stein gezeigt hatte und begutachten ließ, den er dann heimlich vertauschte, handelte es sich um einen offenkundigen Betrug, den der „Hausfreund“ beoachtete, ohne einzuschreiten, und damit billigend in Kauf nahm. Genau genommen hatte jener Betrüger nicht einmal eine günstige Gelegenheit beim Schopf gepackt, sondern diesen Betrug von vornherein geplant, sonst hätte er nicht einen vom Aussehen her nicht zu unterscheidenden zweiten Ring in der Tasche gehabt!

Schadenfreude über Unrecht
Hebel erzählt den Vorfall noch nicht einmal im Sinne eines Berichts über ein Unrecht, sondern bringt mit der abschließenden Bemerkung, „die Sache wurde nachher vertuscht“, entweder zum Ausdruck, dass es sich doch um eine erfundene Erzählung handelt, oder dass der Jude sich zum Verschweigen genötigt fühlte gemäß dem Sprichwort: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“. So oder so: die Erzählung wird mit dem Unterton erzählt und gehört: Das geschieht dem Juden gerade recht.

Offensichtlich entspricht dies der allgemeinen Meinung über Juden. Vor allem Juden, die als Viehhändler durchs Land zogen, standen in den Ruf, Betrüger zu sein.



Fortsetzung ... weiter zum zweiten Teil



ANMERKUNGEN



1 [Hrsg.] Hannelore Schlaffer, Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes, Ein Werk in seiner Zeit, Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen 1980 (SK), S. 98,
 [Hrsg.] Eberhard Meckel, Johann Peter Hebel, Gesammelte Schriften, Aufbau-Verlag, Berlin 1958, (GS) I, S. 416.
2 http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Peter_Hebel
3 SK, S. 13
4 GS I, S. 416; SK, S. 98
5 Die „Sonderbare Wirtszeche“ (S. 99) erzählt von zwei Studenten, die sich mit der Behauptung, alles wiederhole sich alle 6000 Jahre wieder, um die Zeche drücken wollen, werden dann aber von der schlauen Wirtin zur Begleichung der Zeche von 6000 Jahren zuvor aufgefordert und müssen, da sie kein Geld haben, ihre Jacken verpfänden.
 Der verarmte Zirkelschmied (S. 184), lässt sich zwar ohrfeigen, bekommt aber dafür sein Essen umsonst und noch eine Abfindung dazu. Die Ohrfeigen stehen aber in keinem Verhältnis zu dem verstümmelten Finger; außerdem ist sein Gewinn ungleich größer als der des Juden (5 Gulden im Vergleich zu 17 Kreuzern)
 Johann Anselm Steiger, Hebel und die Juden, in: ders. Unverhofftes Wiedersehen mit Johann Peter Hebel, Palatina Verlag Julian Paulus, Heidelberg 1998, S. 84, weist sogar darauf hin: „Auffällig ist, dass Hebel ein starkes Interesse daran hat, gesellschaftliche Randgruppen und outcasts als dra-matis personae zu wählen.“ (Ähnlich formuliert in: [ders.] „Wie man lernt, den Fremden von nebenan zu achten. Johann Peter Hebels beispielhafter Beitrag zur Emanzipation der Juden.“ Dabei handelt es sich um den gleichen Aufsatz, leicht gekürzt und redaktionell überarbeitet in: [Hrsg.] Siegfried von Kortzfleisch u.a., Wende-Zeit im Verhältnis von Juden und Christen, EBVerlag, Berlin 2009, S. 142 ff:
6 Christian Wilhelm von Dohm, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, 2 Bände, Berlin/Stettin 1781/83
7 Dohm, a.a.O., Bd 2, S. 173; zitiert nach Johann Anselm Steiger, Johann Ludwig Ewald (1748- 1822), Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden, Bd. 52, Göttingen/Karlsruhe 1996, S. 346
8 Kaiser Joseph von Österreich hatte 1781 ein Edikt erlassen, in dem die Rechtsstellung der Juden neu geregelt wurde.
9 Vgl. zum Ganzen: Jael Paulus, Geschichte der Juden Badens - ein Überlick; in: [Hrsg.] Oberrat der Israeliten Badens, Juden in Baden, 1809-1984, Karlsruhe 1984, S. 28.
 Steiger, Hebel (1998), S. 68 zitiert aus dem 6. Konstitutionsedikt vom 14. 6. 1808: „Zwar sollen sie [scil. die Juden; A.S.] noch zur Zeit, und so lange sie nicht eine, zu gleicher NahrungsArt und Arbeitsfähigkeit mit den christlichen Einwohnern hinreichende Bildung im allgemeinen angenom-men haben, und solange nicht daraufhin etwas Anderes durch die Staats-Gesetze verordnet verordnet wird, an keinem Ort zur Wohnung zugelassen werden, wo bis hieher noch keine waren, ohne Einwilligung der Ortsgemeinde und besondere Erlaubnis der Regenten, auch wo sie bisher waren, sollen sie im allgemeinen noch nicht als Gemeindebürger, sondern nur gleich anderen, zum Ortsbürgerrecht nicht geeigneten Christen, als Schutzbürger anerkannt werden, jedoch bleibt Uns vorbehalten, jeden, welcher wegen den BürgerrechtsErfordernißen überhaupt und insbesondere wegen einer mit den Christen Christen gleichförmigen NahrungsArt, sich ausweist, gleich jetzo allda mit dem OrtsBürgerrecht zu begnadigen.“ Ein Hauptkriterium stellten also die Speisegebote, insbesondere das Schächten dar.
10 Nach Paulus, a.a.O., S. 29 f.
11 Ernst Philipp von Sensburg, Welche Hindernisse stehen der bürgerlichen Verbesserung der Juden in den deutschen Bundesstaaten entgegen? und wie sind sie zu heben, damit der Art 16 der deutschen Bundes-Acte in Erfüllung kommen kann?, Karlsuhe 1821, S. 6; in: Steiger, J. L. Ewald, a.a.O., S. 343
12 Jakob Friedrich Fries, Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden. Eine aus den Heidelberger Jahrbüchern der Litteratur besonders abgedruckte Recension der Schrift des Professors Rühs in Berlin: „Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht. Zweyter verbesserter Abdruck etc.“, Heidelberg 1816, S. 23; zitiert nach Steiger, J. L. Ewald, a.a.O., S. 325 f.
13 Johann Ludwig Ewald, Ideen, über die nöthige Organisation der Israeliten in Christlichen Staaten, Karlsruhe 1816, S. 6f.; zitiert nach Steiger, J. L. Ewald, a.a.O., S. 327
14 Steiger, Hebel (1998), a.a.O., S. 75 f.: „Hebel nennt den »seligen Ritter Michaelis« und hat damit den berühmten Göttinger Alttestamentler und Orientalisten Johann David Michaelis im Blick. Dieser hatte einer Gruppe von Wissenschaftlern, die, vom dänischen König beauftragt und gefördert, in den Orient reisen sollte, einen Fragekatalog mit auf die Reise gegeben. Der Titel dieser 1762 im Druck erschienenen Schrift, die übrigens auch im Nachlassverzeichnis Hebels verzeichnet ist, lautet: »Fragen an die Gesellschaft Gelehrter Männer, die auf Befehl Ihro Majestät des Königs von Dänemark nach Arabien reisen.«
15 [Hrsg.] Eberhard Meckel, Johann Peter Hebel, Gesammelte Schriften, Zweiter Band, Aufbau-Verlag, Berlin 1958, (GS II), S. 281 f. – Dies sind bereits Ansätze historisch-kritischen Denkens.
16 ebd., S. 283
17 ebd.
18 Steiger, Hebel (1998), S. 74
19 GS II, S. 283 f.
 Steiger, Hebel (1998), S. 78 sieht darin einen Versuch Hebels, „bei seinen Lesern ein kulturhistorisch fundiertes Verständnis als Voraussetzung für Toleranz den Juden gegenüber zu wecken“. Da sich die Karlsruher Juden, wenn man zeitgenössischen Abbildungen vertraut, in der Kleidung nicht von anderen Bürgern unterschieden, kann man sich dieser Bewertung nicht anschließen, sondern muss Hebels Ausführungen eher für eine verhöhnende Karikatur halten.
20 GS II, S. 284
21 GS II, S. 285 f.
22 Steiger, Hebel (1998), a.a.O., S. 79, sieht in Hebels Charakterisierung der Juden „gerade die Stärke der Hebelschen Sichtweise der Juden, die anders als Lessings ›Nathan‹ nicht Gefahr läuft, das aufgeklärte Salonjudentum zu idealisieren, um dieses Idealbild dann zum Anlass zu nehmen, um das realexistierende Judentum antijudaistisch zu perhorreszieren.“ Entsprechend scheint Steiger auch Hebels Adressatenkreis aus dem Auge verloren zu haben; denn er bedenkt nicht, dass dieses „Sendschreiben“ keine Volksaufklärungsschrift war, sondern sich an seinen elitären Kreis der Proteuser richtete. So überhört er auch den ironischen Unterton der Gleichsetzung Tagdiebe = Mor-genländer, wenn meint: „Hebel entdeckt somit das Beneidenswerte an den südländischen »Nationen, die von unserer nordischen Arbeitsseligkeit keine Begriffe haben«.“
 Hebel erinnert seine Lörracher theologischen Freunde daran, „dass es große Erdstriche gibt, wo die Natur viel gewährt und der Mensch wenig bedarf“ (GS II, S. 286). Darin sieht er den Grund für Jesu Lebenseinstellung. „In einem solchen Lande konnte der Aufruf geschehen: »Sorget nicht für den anderen Morgen«, und ist noch bis Italien verständlich, wo ein Lazzaroni, der einem Fremden zwei Kisten für acht Soldi wegtragen sollte, eine für vier Soldi wegtrug und die andere stehen ließ, weil das Bedürfnis des heutigen Tages damit gedeckt ward und er für eine andere Kiste des folgenden Tages schon sicher sein konnte. Aus einem solchen Lande kamen die Juden nach Europa, und was wollen wir dazu sagen, dass die der Weihe ihrer Heimat so treu blieben und mehr Charakter und Kraft haben als wir? Wollen wir sie verdammen? Das sei ferne. Sie konnten aus ihrer Heimat vertrieben werden, das war Gottes Gewalt. Aber ihre Heimat und die Würde und Freiheit des Volkes Gottes an einem Sägbock oder hinter einem Schubkarren verleugnen, das können sie nicht“ (GS II, S. 289 f.).
 Steiger, Hebel (1998), a.a.O., S. 80, zitiert diesen letzten Satz als Zeichen, dass die Juden in der Diaspora „nicht gewillt sind, die Fremde als ihre Heimat anzuerkennen, weil eine solche Aner-kennung die Verleugnung ihrer wahren Heimat und damit auch der Freiheit des Gottesvolkes nach sich zöge.“ Ich halte dies für eine Überinterpretation; denn Hebel argumentiert in diesem Zusammenhang nicht heilsgeschichtlich, sondern geografisch, klimatologisch und anthropologisch. In der europäi-schen „Arbeitssucht“ sieht er eine Herabwürdigung des Menschen. „Der Spanier steht im ganzen Norden in dem Ruf, dass er träg lebe, da er doch nur klimatisch lebt, wie wir, wenn wir klug wären, auch tun würden, wenn wir in einem Lande lebten, wo der Wirt den Gästen, die noch ihre Speise selber mitbringen, für das geringe Koch- und Schlafgeld den Wein, soviel sie trinken mögen, gratis eingibt, wo man die jungen Esel mit Feigen auffüttert, und wo auf den unfruchtbarsten Äckern noch ein vermaledeites Unkraut wuchert, das ihr zum Staat in Scherben zieht und im Keller überwintert, der Rosmarin und Lavendel. Selbst in den nördlichen Gegenden, wenn wir wenigstens auf das Beispiel der ältesten und meisten Völker sehen, scheint es, der Mensch soll sich durch die Not nicht zum Lasttiere herabwürdigen lassen, sondern mit dem wenigen, das die Natur ihm dort geben kann,zufrieden sein oder auswandern“ (GS II, S. 287).
 Dass es Hebel dabei nicht um eine Eigenschaft des „Gottesvolkes“ geht, das damit seiner „Erwählung“ gerecht wird, sondern um ein kulrurelles und sozilpolitisches Argument, zeigt die unmittel-bare Fortsetzung dieses Zitats, „und wenn irgendwo Arbeit von einer Betglocke bis zur andern, falls man leben will, Bedingung ist, so sind daran nur fehlerhafte Staatsverfassungen und Staatsver-waltungen, eine daher rührende verhältnislose Verteilung dessen, was die Natur hinreichend für alle gab und erkünstelte Bedürfnisse Schuld, die die Natur zu befriedigen nicht schuldig ist; und die wunderliche Grille kann nur in den Predigten und Katechismen des Nordens einfließen, das[s] auch noch in dem ewigen Leben keine Ruhe sei, vielmehr die Kräfte an höheren Gegenständen in weiteren Wirkungskreisen fortgeübt werden sollen. Die Paradiese der Morgenländer haben nichts davon, und einer, der besser als wir wissen muss, wie es dort aussieht, setzt die Seligen nicht abermal zum Beispiel an einen Webstuhl, sondern mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische.“
 Die müßige Lebensart ist für Hebel ein Zeichen des „Morgenländers“, nicht des Gottesvolkes; der von Steiger (Hebel 1998, a.a.O., S. 81) zitierte Satz, „Was aber den Jesaias betrifft, so behaupte ich nur so viel, dass, wer ihn vom vierzigsten Kapitel an lesen kann und nie die Anwandlung des Wun-sches fühlte, ein Jude zu sein, sei es auch mit der Einquartierung alles europäischen Ungeziefers ein Betteljude, der versteht ihn nicht, und solange der Mond noch an einen Israeliten scheint, der diese Kapitel liest, so lange stirbt auch der Glaube an den Messias nicht aus“ (GS II, S. 289), bezieht sich ausschließlich auf den Messiasglauben, nicht darauf, dass das Judentum „in Hebels Augen lebender Repräsentant der Heiligen Schrift Alten Testaments“ oder „Volk der Verheißung“ (Steiger, Hebel 1998, S. 81.82) ist. Dies halte ich für eine wohlwollende Überinterpretation.
 Dass die Juden nicht „ihr edles Blut, einst in den Adern der Väter an einer bessern Sonne gebraut, in knechtischer Arbeit verdampfen“, sondern eine „lebendige Exegese“ des jesuanischen „Sorget nicht für den anderen Morgen“ sind, begründet Hebel folgendermaßen: „Nicht weil der es sagte, der es sagte, sondern weil sie dort daheim sind, wo ers sagte“ (GS II, S. 290).
 Hebel hat offensichtlich unter dem Druck seiner Amtspflichten solche Gedanken entwickelt, wie aus einem von Steiger (Hebel 1998, S. 83) angeführten Briefzitat hervorgeht: „Es ist gar herrlich, so etwas vagabundisches in das Leben zu mischen.[…] man fühlt doch auch wieder einmal, dass man der Erde nicht angehört, und dass m[an] ein freier Mensch ist, wenn man wie der Spatz alle Abende auf einem andern Ast sitzen kann. Das ist es, was den Betler groß und stolz macht […] Ich habe diese Glücklichen schon oft beneidet, und gebe gerne denen, die es aus Grundsatz sind.“
23 Steiger, Hebel (1998), S. 80
24 GS II, S. 291
25 Vgl. Hans Maaß, Verführung der Unschuldigen - Beispiele judenfeindlicher Kinderliteratur im 3. Reich - Themen und Texte, eine Schriftenreihe 3, Karlsruhe 1990
26 GS II, S. 291
27 Steiger, Hebel (1998), S. 81, hebt hervor, dass Hebel in diesem Sendschreiben im Blick auf Deuterojesaja äußert, man müsse „die Anwandlung des Wunsches“ fühlen, ein Jude zu sein. Er übersieht allerdings, dass sich dies nur auf die jüdische eschatologische Hoffnung bezieht.
28 GS II, S. 286
29 GS I, S. 411 ff.
30 GS I, S. 451 ff.
31 GS I, S. 417 f.
32 Vgl. Heinz Schreckenberg, Die Juden in der Kunst Europas, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht/Herder, Göttingen/Freiburg i. Br. 1996, S. 312
33 ebd., S. 313
34 GS I, S. 406 ff., SK, S. 196


Der Autor

HANS MAASS

Dr. h.c.; Kirchenrat i.R. der evangelischen Landeskirche in Baden. Er ist evangelischer Theologe und Mitglied im Vorstand des Deutschen Koordinerungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR) sowie Mitglied im Redaktionsteam des vom DKR herausgegebenen "Themenheft".

Der Autor steht für Vorträge gerne zur Verfügung!



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