ONLINE-EXTRA Nr. 22
© 2005 Copyright beim Autor
Nachfolgender Text stammt aus den bislang unveröffentlichten autobiographischen Reflexionen des Autors. Einen ersten Auszug unter dem Titel "Christen und Juden" hatte COMPASS bereits im Sommer 2005 veröffentlicht (Online-Extra Nr. 16).
COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Nachtrag, November 06:
ACHTUNG:
Im März 2007 werden die autobiographischen Reflexionen des Autors unter dem Titel "Kontinuität im Widerspruch" als Buch erscheinen.
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Online-Extra Nr. 22
Israel: Eintritt in eine neue Welt
In den Jahren 1963/64 traten Ereignisse ein, die mein Leben stark beeinflusst und, auf Dauer gesehen, tiefgreifend verändert haben. Anfang der sechziger Jahre entstand unter der Studentenschaft ein starkes Interesse an Israel. Es wurden deutsch-israelische Studiengruppen (DIS) gegründet, und auch an der Kirchlichen Hochschule bildete sich eine. Diese Gruppe plante 1963 eine Reise nach Israel; sie baten mich, ihnen ein wenig bei der Vorbereitung und Planung der Finanzierung zu helfen, und fragten schließlich, ob ich nicht mitfahren wollte. Damit ergab sich für mich die Möglichkeit, das Land der Bibel auch von der anderen Seite kennen zu lernen. Ich hatte schon 1959 beim Lehrkursus des Deutschen Palästinainstituts vom Balkon des Petra-Hotels in Jerusalem über die Sperrmauer hinweg in den israelischen Teil der Stadt hinübergeblickt und gedacht, dass man die andere Seite auch einmal kennen lernen sollte.
In Jerusalem erlebte ich eine Überraschung: Wir waren über Pesach in Jerusalem, und da wir keine Familieneinladung hatten, verbrachten wir den Vorabend, den Erev Pesach, gemeinsam in einem Restaurant. Am nächsten Tag spürte mich der Jerusalemer Bibelwissenschaftler Isac Seeligmann auf, dem ich brieflich meine geplante Reise angekündigt hatte, und sagte, er habe mich am Vortag gesucht, weil er mich zum Erev Pesach zu sich nach Hause einladen wollte. Er bedauerte sehr, dass ich diesen festlichen und für das jüdische Leben so wichtigen Abend in Jerusalem nicht in einer jüdischen Familie hatte verbringen können. Kaum in Jerusalem, hatte ich also schon die erste Einladung in ein jüdisches Haus. Noch dazu in das Haus eines Juden, der im Konzentrationslager Theresienstadt gewesen war.
Gerade dieser letzte Aspekt hat mich oft beschäftigt. Ich hatte Seeligmann bei einem Kongress kennen gelernt und war damals schon überrascht und beeindruckt von seiner Freundlichkeit mir gegenüber. Er kannte mein Alter, wusste auch, dass ich noch beim deutschen Militär gewesen war. Ich hätte also durchaus Wachmann in dem KZ sein können, in dem er als Häftling war. Aber ich habe weder von ihm noch von einem der anderen Kollegen, die ich im Lauf der Jahre kennen lernte, jemals ein Wort gehört, durch das ich als Deutscher als Angehöriger der „Tätergeneration“ angesprochen worden wäre. Dabei hatten viele meiner Gesprächspartner biographisch einen deutschen oder deutschsprachigen Hintergrund; sie waren „Jeckes“, deren erste Sprache Deutsch gewesen war. Bei manchen der älteren Generation klang auch das Hebräisch noch sehr deutsch (oder wienerisch). Sie hatten also alle auf die eine oder andere Weise die Trennung von dem Deutschland oder dem deutschen Sprachraum erlebt, in dem sie geboren waren.
Für mich bedeutete diese Reise die Eröffnung ganz neuer Perspektiven, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Die unmittelbaren persönlichen Begegnungen haben sich in den folgenden Jahren ganz erheblich ausgeweitet und den Charakter meiner Besuche in Israel, vor allem in Jerusalem, wesentlich mitbestimmt. Zu meinen wichtigsten Begegnungen gehört zweifellos die mit Gershom Scholem. Bei meinem ersten Besuch in Jerusalem gab es eine Gelegenheit, bei der Seeligmann mich Scholem vorstellte als einen „deutschen Alttestamentler“, worauf Scholem nur knurrte: „Na, wenigstens kein Neutestamentler!“ Dem folgten aber im Lauf der Jahre wiederholte Einladungen in Scholems Wohnung in der Rechov Abarbanel in Rechaviah. Besonders eindrücklich ist mir eine Einladung zum Abendessen in Erinnerung, bei dem man im Esszimmer unter dem Original des ‚Angelus Novus‘ von Paul Klee saß, das von Walter Benjamin auf dem Umweg über Adorno zu Scholem gelangt war. Über diesen Engel hat Scholem ja auch einen Aufsatz geschrieben.1
Wenige Straßen weiter wohnte Ernst Simon, mit dem ich auch viele Verbindungen und lange Gespräche hatte, im politischen wie im theologischen Bereich. Er nahm mich einmal mit in einen Freitagabend-Gottesdienst einer Studentengruppe, wo ich ein höchst temperamentvolles liturgisches Geschehen erlebte. Ein ähnliches Erlebnis hatte ich später, als mich Ze’ev Falk einmal in „seine“ Synagoge mitnahm. Durch die Jahre hindurch wurde „meine“ Synagoge die der Jerusalemer Gemeinde der Reconstructionists, der Mewaksche derekh, mit deren Leiter Jacob Cohen mich auch persönlich einiges verband. Hier durfte ich sogar einmal am Sabbat einen debar tora, eine Ansprache im unmittelbaren Anschluss an den liturgischen Ablauf des Gottesdienstes, halten, und zwar auf Hebräisch.
Ich hatte mich gleich nach meinem ersten Besuch in Israel entschlossen, auch das moderne Hebräisch zu lernen. Als Alttestamentler war ich ja von Berufs wegen mit der hebräischen Sprache befasst, genauer: mit dem „Biblischen Hebräisch“. Aber die Weiterentwicklung der hebräischen Sprache in nachbiblischer Zeit gehört nicht zu den Gegenständen, mit denen man sich in der Wissenschaftstradition, in der ich stehe, üblicherweise beschäftigt. Dies gilt schon für die nachbiblische jüdische Tradition, wie sie in den umfangreichen Werken des Talmud und der jüdischen Auslegungsliteratur niedergelegt ist. Die Sprache dieser Literatur bildet aber das Bindeglied zwischen dem biblischen und dem heutigen Hebräisch, das dann noch einmal ein neues Entwicklungsstadium darstellt. Allerdings ist dabei die grammatische Grundlage des biblischen Hebräisch bewahrt worden, so dass es mir sehr zugute kam, dass ich viele Jahre lang in Heidelberg und Göttingen biblisches Hebräisch gelehrt hatte. Gleichwohl war es ein großer Schritt hin zum gesprochenen heutigen Hebräisch. Einige meiner wichtigsten Erfahrungen in Israel wären ohne die Kenntnis und relative Beherrschung der Sprache nicht möglich gewesen.
Dies gilt allerdings für die persönlichen Begegnungen nur in eingeschränktem Maße, weil meine Gesprächspartner überwiegend aus dem deutschen Sprachraum stammten. Besonders wichtig waren die Begegnungen und langjährigen Beziehungen zu den bibelwissenschaftlichen Fachkollegen. Neben Isac Seeligmann war es vor allem Shemaryahu Talmon. Von ihm bekam ich wichtige Anstöße für meine eigene exegetische Arbeit. Wir saßen oft, manchmal bis tief in die Nacht hinein, in seinem Studierzimmer über Texten der Hebräischen Bibel, an denen wir über exegetische Fragen, vor allem über Strukturen und Kompositionen von Texten und Textzusammenhängen, sprachen. Später kam dann die Beziehung zu Moshe Greenberg hinzu, der aus Philadelphia nach Jerusalem gekommen war. Er war kein „Jecke“, so sprachen wir Englisch oder Hebräisch miteinander. Wenige Straßen entfernt, auch in Rechaviah, wohnt Abraham Malamat, der mir zuliebe sein lange nicht benutztes, wienerisch klingendes Deutsch reaktivierte. Bei ihm zu Hause sprachen wir oft Hebräisch, ebenso bei Menachem Haran, der gleich um die Ecke wohnt. Er stammt aus Russland, ist also auch kein „Jecke“. Ein paar Minuten weiter wohnte Moshe Goshen-Gottstein, dessen Deutsch einen – von ihm geradezu zelebrierten – Berliner Klang bewahrt hatte. Inzwischen hat sich dort, gleich um die Ecke, Jacob Milgrom angesiedelt, der nach seiner Emeritierung in Berkeley ganz nach Jerusalem übergesiedelt ist – wie Moshe Greenberg ein amerikanischer Jude, für den Jerusalem schon immer ein wesentlicher Bestandteil seines Lebens war. In einem anderen Teil Jerusalems wohnt der Religionswissenschaftler Zwi Werblowsky, mit dem mich über viele Jahre hin freundschaftliche Beziehungen verbanden, und in dessen Haus ich auch am jüdischen Leben teilnahm wie schon bei den meisten der zuvor Genannten; allerdings nicht bei allen, weil bei einigen von ihnen die traditionellen Formen jüdischen Lebens nicht mehr praktiziert wurden. Ein besonders wichtiges Element war für mich die Teilnahme am „Schiur“, dem regelmäßig am Schabbat Vormittag nach dem Synagogengottesdienst in der Wohnung von Moshe Greenberg stattfindenden Studienkreis mit Mischna-Lektüre. Jedes Mal wenn ich in Jerusalem war, habe ich daran teilgenommen und bin dadurch ein kleines Stück weit in die Welt der jüdischen Bibelauslegung eingedrungen.
Es war eine ganze jüdische Welt, in die ich dort eingetaucht bin und in die ich bei meinen häufigen Besuchen in Jerusalem, kürzeren und längeren, allein oder mit Gruppen von Pfarrern oder Studenten, immer wieder zurückkehrte. Da ich in Jerusalem kein Auto hatte, und da die Entfernungen ohnehin nicht sehr groß sind, habe ich all diese Straßen in Rechaviah und der engeren und weiteren Umgebung oft und oft zu Fuß durchquert. Ich fühlte mich dort in einem gewissen Sinne zugehörig und wurde auch von vielen, die mich kannten, so betrachtet. Einer meiner Bekannten hat einmal gesagt: „Rendtorff ist in Jerusalem kol scheni wachamischi, jeden Montag und Donnerstag“; das ist eine Redensart, die sich auf die alten Markttage bezieht, an denen die Tora gelesen wird.
Einen Höhepunkt dieser Begegnungen bildete die Einladung zu einer Gastprofessur an der Hebräischen Universität, an der ich ein Semester lang Vorlesungen und Seminare in hebräischer Sprache gehalten habe. Diese Einladung hätte ich übrigens ohne meine Hebräischkenntnisse nicht erhalten. Ein deutscher Professor als offizieller Gast war damals noch kaum vorstellbar. Aber ein deutscher Alttestamentler, der auf Hebräisch Vorlesungen hielt, ließ sich in den zuständigen Gremien vermitteln. Das Wintersemester 1973/74, in dem diese Einladung realisiert werden sollte, konnte zunächst nicht beginnen, denn es war Krieg – der „Jom-Kippur-Krieg“. Die El Al beförderte zunächst nur Israelis, die aus dem Ausland zurückkamen, um als Reservisten ihren Dienst bei der Armee anzutreten. Die Lufthansa flog damals noch nicht nach Israel. Als ich schließlich meinen Flug antreten konnte und nach Jerusalem kam, waren dort nur wenige Studenten. Und auch in den folgenden Wochen meldeten sich immer wieder einige zu kurzzeitigem Reservedienst ab. Aber es wurde sehr konzentriert gearbeitet, und vor allem hatte sich eine Arbeitsgemeinschaft von Assistenten und Doktoranden gebildet, mit denen ich in wöchentlichen Zusammenkünften einen intensiven Gedanken- und Meinungsaustausch hatte, der meiner eigenen Arbeit sehr zugute gekommen ist.
In diesen Monaten wurde ich auch eingeladen, im Haus des Staatspräsidenten einen Vortrag zu halten. Dort fanden regelmäßig Vorträge und Diskussionen über biblische Themen statt, eine Tradition, die von Zalman Shazar begründet worden war und von den nachfolgenden Staatspräsidenten fortgeführt wurde. Es war durchaus ein politisch-gesellschaftliches Ereignis, und ich konnte den Vortrag und die Diskussion auf Hebräisch gut bewältigen. Ich sage das im Rückblick mit einem gewissen Bedauern, denn die Beherrschung der Sprache geht leider ein Stück weit verloren, wenn man sie nicht regelmäßig praktiziert.
Dieser Bericht wäre unvollständig, ohne zu erwähnen, dass ich auf die eine oder andere Weise dabei mitwirken konnte, dass mehrere der hier genannten Jerusalemer Kollegen nach Deutschland kamen. So konnte ich dazu beitragen, dass zu verschiedenen Zeiten Gershom Scholem, Ernst Simon, Zwi Werblowsky und Shemaryahu Talmon zu Vorträgen nach Heidelberg eingeladen wurden. (Gershom Scholem war später als eines der ersten Mitglieder des Berliner Wissenschaftskollegs auf einer ganz anderen Ebene prominent.) Ich war auch daran beteiligt, dass Shemaryahu Talmon für einige Jahre die Leitung der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg übernahm, was leider nicht zu einer längerfristigen Lösung geführt hat; aber das wäre ein Thema für sich.
ROLF RENDTORFF
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Schon früh war er sich bewusst, in der Opposition zu stehen und gleichwohl dazu zu gehören. Akut geworden ist dies bei seinen Begegnungen mit Israel und dem Judentum und bei seinem hochschulpolitischen Engagement, insbesondere in der Zeit als Rektor in Heidelberg.
Rolf Rendtorff wurde am 10. Mai 1925 in Preetz/Holstein geboren. Der Professor für Altes Testament und Schüler von Gerhard von Rad war seit 1958 Ordinarius für Alttestamentliche Theologie an der Kirchlichen Hochschule Berlin und von 1963 bis 1990 an der Universität Heidelberg. Rendtorff gehörte 1965 zu den Mitbegründern der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und war seit 1977 langjähriger Vorsitzender des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten. 2002 erhielt er in Würdigung seines Beitrags im christlich-jüdischen und deutsch-israelischen Dialog die Buber-Rosenzweig-Medaille des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit.
Meine erste Israelreise 1963 eröffnete zugleich einen ganz anderen Bereich. In jenen Monaten geriet das Problem der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel in den Mittelpunkt des Interesses. Die Bundesrepublik hatte damals keine diplomatischen Beziehungen zu Israel. Zunächst hatte Israel die Beziehungen nicht gewünscht aus begreiflichen historischen Vorbehalten gegenüber Deutschland; aber das war längst vorbei und inzwischen war dieser Schritt eigentlich überfällig. Doch die Adenauer-Regierung traute sich nicht, ihn zu vollziehen aus Angst vor dem angedrohten Wirtschaftsboykott der Staaten der arabischen Liga. Im Frühjahr1963 kam es zu einer Krise, als bekannt wurde, dass in Ägypten deutsche Raketenfachleute aus der alten Tradition der nationalsozialistischen Raketenproduktion arbeiteten. Es war klar, dass ägyptische Raketen nur gegen Israel gerichtet sein konnten. Das war in der israelischen Presse hochgekommen und führte zu einer ungeheuren politischen Empörung und zugleich zum erneuten Aufwerfen der Frage: „Warum habt ihr keine diplomatischen Beziehungen mit uns?“ Die Studenten der Gruppe, mit der ich nach Israel gekommen war, hatten vor unserer gemeinsamen Rundreise einige Wochen in einem Kibbuz gelebt und gearbeitet und waren dort mit diesen Problemen konfrontiert worden. Sie überfielen mich geradezu mit ihren Erfahrungen und Fragen. In den drei Wochen unserer Reise diskutierten wir diese Probleme immer wieder, und die Studenten forderten, dass wir nach unserer Rückkehr irgend etwas tun müssten.
Deutschland und Israel
Deshalb habe ich nach meiner Rückkehr angefangen, mit vielen Leuten zu reden, zu fragen, was man tun kann. Schließlich bin ich dann mit Unterstützung des damaligen Präses (späteren Bischofs) Kurt Scharf, zusammen mit einem jungen Berliner Pastor, der auch in dieser Frage engagiert war, mehrfach nach Bonn gefahren und habe eine Reihe von Bundestagsabgeordneten verschiedener Parteien aufgesucht. Ich war auch bei Eugen Gerstenmaier, dem damaligen Bundestagspräsidenten, der sich schon öffentlich in dieser Frage engagiert hatte, aber auf Grund der negativen Reaktionen nichts weiter tun wollte. Anders war es bei Carlo Schmid, dem damaligen Vizepräsidenten des Bundestages, der durchaus daran interessiert war, diese Frage weiter zu verfolgen, und mich dafür mit Gerhard Jahn in Verbindung brachte, mit dem ich dann sehr fruchtbar und erfolgreich zusammen gearbeitet habe.
Durch meine Überwechselung nach Heidelberg ergaben sich auch in diesem Bereich ganz neue Wirkungsmöglichkeiten. Ich hatte inzwischen damit begonnen, mich an konkreten Bestrebungen zur Gründung einer Deutsch-Israelischen Gesellschaft zu beteiligen, die sich zunächst vor allem den Bemühungen um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik zum Staat Israel widmen sollte. Gegen Ende meines ersten Heidelberger Semesters, des Wintersemesters 1963/64, hielt ich in der Universität einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel „Deutschland und Israel. Zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen“. Dies war mein erster öffentlicher Aufritt mit einem politischen Thema.
Das hatte noch eine weitere, von mir selbst keineswegs vorausgesehene Folge. Ein juristischer Kollege, Konrad Duden, damals Honorarprofessor in der Heidelberger Juristischen Fakultät (später Mitbegründer der Juristischen Fakultät der Universität Mannheim) lud mich zu einem Vortrag vor einem Arbeitskreis sozialdemokratischer Juristen zu diesem Thema ein. Hinterher sagte er zu mir: „Wenn Sie politisch irgendetwas erreichen wollen, müssen Sie Mitglied einer der großen Parteien sein.“ Das leuchtete mir ein, und die Wahl war für mich nicht schwer. Meine Berliner „Politisierung“, vor allem der starke persönliche Eindruck von Willy Brandt, aber auch eine politische Rede von Carlo Schmid während eines Wahlkampfes, ließen mich nicht lange zögern, meine ererbte national-protestantische Tradition endgültig hinter mir zu lassen und in die SPD einzutreten. Ich war damals übrigens der einzige ordentliche Professor der Universität, der Mitglied der SPD war; bei der ersten Mitgliederversammlung, an der ich teilnahm, wurde ich dementsprechend mit großem Beifall begrüßt.
Es hat sich dann sehr schnell bewahrheitet, dass mein Israel-Engagement dadurch sehr unterstützt wurde. Denn nun fand ich ganz andere Gesprächspartner, mit denen gemeinsam ich an dem Ziel der Gründung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft arbeiten konnte.. Allerdings kamen uns die politischen Ereignisse zuvor. Anfang 1965 besuchte Walter Ulbricht Ägypten auf Grund einer Einladung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abd el Nasser. Darin sah die Bundesregierung einen unfreundlichen Akt und beschloss nach kontroversen Diskussionen schließlich, die diplomatischen Beziehungen zu Ägypten zwar nicht abzubrechen, jedoch diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen. Wir hatten auf Bitten unserer israelischen Gesprächspartner während dieser Auseinandersetzungen unsere Bemühungen um die Gründung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ruhen lassen. Nachdem dann Rolf Pauls als erster deutscher Botschafter in Israel sein Amt angetreten hatte, nahmen wir unsere Bemühungen wieder auf und gründeten schließlich 1965/66 die Gesellschaft. Ich war darin von Anfang an als Vizepräsident aktiv tätig, was zu verstärkten Beziehungen zu Israel und zu häufigen Reisen dorthin führte.
Allerdings war die Arbeit dieser Gesellschaft keineswegs unproblematisch. Das betrifft einmal das Verhältnis zwischen den beiden Staaten, zum andern aber auch die unterschiedlichen Vorstellungen und Erwartungen, die mit einer solchen Gesellschaft verbunden wurden. Der Plan zur Gründung der DIG war noch vor der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen entstanden. Dabei war ein nicht unwesentlicher Aspekt, die Bundesregierung dazu zu bewegen, endlich diesen längst überfälligen Schritt zu tun. Als es dann schließlich 1966 zu ihrer Gründung kam, bestanden bereits die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten, und die DIG musste sich in diesen Rahmen einfügen.
Das Interesse der politischen Instanzen an dieser Gesellschaft war auf beiden Seiten minimal. Die deutsche Seite war uns gegenüber eher misstrauisch, weil wir einen großen Informationsvorsprung vor der deutschen Botschaft hatten und viele Leute kannten. Gelegentlich wurde das aber auch ausgenutzt, so z.B. indem man mich bat, für den ersten deutschen Botschafter Rolf Pauls ein Gespräch mit Gershom Scholem zu vermitteln, weil man sich keine Absage einhandeln wollte. Auf israelischer Seite hat es Jahre gedauert, bis sich Leute fanden, die an der Gründung einer entsprechenden Gesellschaft in Israel Interesse hatten. Seitdem konnte es jedenfalls wechselseitige Besuche geben.
In der DIG selbst sammelten sich überwiegend Leute, die im Grunde nur die offiziellen Beziehungen auf der lokalen Ebene im Rahmen einer „Freundschafts-Liga“ fortsetzen wollten. Manche örtlichen Gesellschaften konzentrierten ihr Interesse auf eine jährliche festliche Veranstaltung mit prominenten Teilnehmern anlässlich des israelischen Unabhängigkeitstages. Daneben gab es dann aber politische Diskussionen, in denen in den Jahren nach dem Junikrieg von 1967 natürlich auch die dadurch entstandenen Probleme im Verhältnis Israels zu den besetzten Gebieten und zu den sich damals konstituierenden Palästinensern zur Sprache kamen. Dadurch entstand innerhalb der DIG eine Debatte über die Frage, ob und wieweit unsere Solidarität mit Israel es zuließ, dass wir uns auch öffentlich mit diesen Fragen auseinander setzten. Dabei wurde der Begriff einer „kritischen Solidarität" verwendet. Dieser Ausdruck bewirkte aber wegen seiner Mehrdeutigkeit das Gegenteil von dem, wozu er eigentlich bestimmt war. Besonders für israelische Ohren rückte das Wort „kritisch“ in den Vordergrund, während es von denen, die innerhalb der DIG diesen Begriff benutzten, als ein näherbestimmendes Adjektiv zu dem weiterhin eindeutig dominierenden Begriff der Solidarität gemeint war.
Hier entwickelte sich über Jahre hinweg ein Konflikt. Er verschärfte sich ganz wesentlich, als Ende 1974 Yohanan Meroz israelischer Botschafter in der Bundesrepublik wurde. Er machte besonders Reiner Bernstein, den damaligen Geschäftsführer der DIG, und mich als Vizepräsidenten für die Entwicklung in der DIG verantwortlich. Er schreibt dazu im Rückblick: „Gelegentlich hatte man den Eindruck, dass ihr Denken und Wirken nicht in erster Linie der Pflege der Freundschaft zu Israel galt, sondern der Förderung des >Palästina-Syndroms< in der bundesdeutschen Öffentlichkeit.“2 Das Präsidium der DIG bemühte sich in endlosen Sitzungen, eine Gesprächsbasis mit Meroz zu finden – vergeblich. Die Konsequenz für mich war, dass ich mit einigen anderen im Frühjahr 1977 aus der DIG austrat und einige Monate später den „Deutsch-Israelischen Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten" (DIAK) gründete.
Diese Diskussion hatte auch Auswirkungen auf das Verhältnis zu meinen israelischen Freunden. Im November 1977 saßen wir in Jerusalem in einem sehr ernsten Gespräch zusammen, in dessen Verlauf einer meiner Freunde sagte, dass sie, die Israelis, ihren Freunden draußen im Grunde etwas sehr Unfaires zumuten müssten, nämlich in der Öffentlichkeit außerhalb Israels nicht „an den innerzionistischen und innerisraelischen Auseinandersetzungen über den Weg des Staates Israel zum Frieden mit den Arabern mitdenkend teilzunehmen“, wie Gollwitzer es formuliert hatte. Die Mehrheit der anwesenden Israelis schien diese Auffassung grundsätzlich zu teilen. Wie stark dies nachgewirkt hat, zeigt sich in einem Brief des eben zitierten Freundes Zwi Werblowsky zu meinem 65.Geburtstag im Jahre 1990: „Es gab auch Momente schwerer Spannung... Momente, wo wir Israelis, und gerade die oppositionellen unter ihnen, von dem Ton, von der Art, und von dem nicht überhörbaren >Unterschwelligen< an der geäußerten Kritik so bestürzt waren, dass wir vor der Versuchung standen, Beziehungen abzubrechen und uns reflexartig in unsere Muschelschale zurückzuziehen. Du (und einige andere) hatten es nicht leicht, uns zu überzeugen, dass in der kritischen Solidarität die Kritik ernst war, doch die Solidarität entscheidend.“ Wichtig ist mir dabei vor allem noch ein anderer Satz dieses Briefes, in dem es heißt: „Dass wir diese Spannung durchhielten, spricht...für das Grundlegende, welches unsere Beziehung trug, und das Übergreifende, welches sie zusammenhielt.“ So habe ich es immer wieder empfunden und erfahren: dass diese Beziehungen zu meinen israelischen Freunden stärker waren als solche Belastungen, und dass immer die Möglichkeit zum klärenden und weiterführenden Gespräch offen stand.
Noch einmal zurück zu den Anfängen meines Engagements in der Frage der deutsch-israelischen Beziehungen: Zunächst bestand eine fast selbstverständliche Übereinstimmung mit der Haltung der Deutsch-Israelischen Studiengruppen (DIS), die seit Ende der fünfziger Jahre, ausgehend von der Freien Universität Berlin, Israel „entdeckt“ hatten und ihre Israelkontakte im größeren Zusammenhang ihrer Kritik an der Adenauer-Ära, der „braunen Universität“ usw. verstanden. Für sie war das Engagement für Israel Teil ihrer innenpolitischen Oppositionsrolle. Als nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel im Jahr 1965 die Beschäftigung mit Israel Bestandteil der offiziellen Politik der Bundesrepublik wurde, hatte sie für diese Gruppen ihre ursprüngliche Funktion verloren. Viele von ihnen fanden sich deshalb schon in den Tagen des Nahostkrieges vom Juni 1967 im anti-israelischen Lager. Auch Teile der Evangelischen Studentengemeinden, insbesondere ihre Leitung auf Bundesebene, schlossen sich diesem Kurs an und vertraten eine sehr aggressive anti-israelische Position, was Anfang der siebziger Jahre für mich und einige andere zu einem langen, quälenden Konflikt mit diesen Gruppen führte.
Dabei war eine neue Erfahrung, „abgestempelt“ zu werden. Zunächst galt ich wegen meines Israel-Engagements als "links", weil diese politische Entscheidung der herrschenden Politik der Adenauer-Ära zuwiderlief; dann, als viele Linke ihr Engagement für Israel verloren hatten, galt ich in ihren Augen als "rechts". Dies war keineswegs nur mein persönliches Problem, sondern betraf auch Leute wie z.B. Helmut Gollwitzer, der für mich in dieser Hinsicht immer eine Leitfigur war.3 Nach der Gründung des DIAK ergab sich für mich eine neue Variante dieser Problematik. In der DIG war ich sozusagen als "Linker" schließlich ausgeschieden, als einer, der kritisiert und Opposition betreibt, als "Störenfried", wie Meroz mich nennt. Im DIAK sammelten sich nun Leute, von denen viele "links" von mir standen, was die kritische Haltung zur gegenwärtigen israelischen Politik betraf. Dabei kamen die kritischsten Stimmen oft von Israelis, die jetzt (wieder) in Deutschland leben. Immer wieder gab es heftige Diskussionen, z.B. um die Formulierung der Aufgaben und Ziele des Arbeitskreises in den Leitsätzen und um seinen Namen, etwa um die Frage, ob neben dem Wort "Israel" oder "israelisch" auch "Palästina" oder "palästinensisch" im Namen vorkommen sollte. Allerdings gab und gibt es zwar einige israelische Mitglieder, aber keine palästinensischen, so dass diese Frage eher abstrakt erschien. Meistens endeten solche Diskussionen ohne Ergebnis, d.h. ohne Änderung des Namens oder einschneidende Änderungen der Leitsätze oder der Satzung.
Im übrigen zeigte sich hier auch eine Generationenfrage, da die große Mehrheit der DIAK-Mitglieder einer sehr viel jüngeren Generation angehört als ich. Auch biographische Erfahrungen spielten eine Rolle, da viele der Mitglieder mit "Aktion Sühnezeichen" oder mit "Studium in Israel" einige Zeit in Israel verbracht hatten und Israel ganz anders erlebt hatten als ich. So hielt ich denn im Herbst 1986 die Zeit für gekommen, mich nach mehr als zwanzig Jahren aus der aktiven Mitarbeit in deutsch-israelischen Organisationen zurückzuziehen und die Arbeit Jüngeren zu überlassen.
ANMERKUNGEN
1 Gershom Scholem, Walter Benjamin und sein Engel, in: Siegfried Unseld (Hrg.), Zur Aktualität Walter Benjamins, Suhrkamp Taschenbuch 150, 1972, 87-138.
2 Y. Meroz, In schwieriger Mission. Als Botschafter Israels in Bonn, 1986, 165.
3 Ich habe das in meinem Beitrag zur Festschrift zum 70.Geburtstag von Helmut Gollwitzer beschrieben: Hat sich unser Israel-Engagement gewandelt? in: Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens (hrsg. von A. Baudis u.a.), 1978, 155-166.
Der Autor
Prof. Dr., wurde am 10. Mai 1925 in Preetz/Holst. geboren. 1945-1950 Studium der evang. Theologie in Kiel, Göttingen und Heidelberg. Promotion 1950 (bei Gerhard vom Rad), Habilitation 1953 in Göttingen für Altes Testament. Von 1958 bis 1963 Professor an der Kirchlichen Hochschule Berlin, anschließend bis 1990 Professor für Alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. Gastprofessuren in Jerusalem, Pretoria, Chicago und Rom.
Rendtorff setzte sich seit seiner ersten Israelreise im Jahre 1963 intensiv mit dem Judentum und dem Staat Israel auseinander. 1965 gehörte er zu den Mitbegründern der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, deren langjähriger Vizepräsident er war. 1977 Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten.
Seit Jahrzehnten ist er Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen des Deutschen Evangelischen Kirchentages und hat in dieser Funktion bei vielen Kirchentagen mitgewirkt. Darüber hinaus engagierte er sich viele Jahre als Vorsitzender der Studienkommission Kirche und Judentum der EKD und gehört zu den verantwortlichen Mitherausgebern der Studien "Christen und Juden" I (1975) und II (1991).
Im Jahre 2002 erhielt er in Würdigung seines Beitrags im christlich-jüdischen und deutsch-israelischen Dialog die Buber-Rosenzweig-Medaille des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR).