Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 203

Mai 2014

Einen wirklichen Dialog zwischen Juden und Christen vor 1945 gab es nicht. Eine Binsenweisheit. Ebenso ist vor 1945 kaum ein ernsthafte, vorurteilsfreie theologische Auseinandersetzungen mit dem Judentum christlicherseits zu verzeichnen - und auch jüdischerseits gehören theologische Analysen und Auseinandersetzungen mit dem Christentum zu den wenigen Ausnahmen. Um so bemerkenswerter ist ohne Frage eine Publikation aus dem Jahre 1919 mit dem Titel "Judentum und Christentum", die aus der Feder des im selben Jahr nach Offenbach (Main) berufenen Rabbiners Dr. Max Dienemann stammt, der einem traditionsorientierten liberalen Judentum zuzurechnen ist.

Dienemanns gut 70 Seiten umfassende Schrift beschäftigt sich konzentriert mit den Unterschieden zwischen den beiden Religionen Judentum und Christentum, insbesondere im Hinblick auf das Menschenbild. Dies tat er mit einer gekonnten Mischung aus Apologetik und Differenziertheit. Apologetisch deshalb, weil sich Rabbiner Dienemann in erster Linie an Jüdinnen und Juden wandte, die sich mit der Religion der Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzten. Differenziert, weil seine Betrachtung des Christentums von großer Sachkunde und Fairneß zeugt. Da Dienemann aber nicht nur jüdische Leser im Blick hatte, beschreibt er auch die wesentlichen Merkmale des Judentums auf eine Weise, dass auch nicht-jüdische Leser einen fundierten Eindruck erhalten.

Vor dem Hintergrund des sukzessive intensivierten Dialogs zwischen Juden und Christen nach 1945 ist es bedauerlich, dass Dienemanns Werk bislang relativ wenig bekannt ist und kaum Beachtung gefunden hat. Es ist Chajm Guski zu verdanken, dass er 2009 den Text zunächst über sein Portal www.talmud.de wieder zugänglich gemacht hat. Seit kurzem nun liegt das Werk auch wieder als leicht bearbeitete, von Chajm Guski herausgegebene Druckausgabe vor. Dazu Guski: "Tausende Klicks auf den Text und zahlreiche Anfragen nach gedruckten Exemplaren bestätigten die Vermutung, dass der Text nichts an seiner Tiefe verloren hat. Dazu muss man sich zunächst  auf die präzise Sprache von Rabbiner Dienemann einlassen, denn dann hat der Text den Leser schnell für sich eingenommen und fordert vielleicht an der einen oder anderen Stelle Widerspruch. Und wenn ein Text den Leser anspricht und ihn fordert, dann hat er seinen Zweck hervorragend erfüllt."

COMPASS präsentiert Ihnen nachfolgend zwei Auszüge aus Dienemanns Buch: Die Einleitung und das Kapitel "Versöhnung und Erlösung". Wie immer finden Sie im fortlaufenden Text gleich in der ersten Anzeige weiterführende Informationen zum Buch selbst sowie die Möglichkeit, es zu erwerben, was jedem, der am christlich-jüdischen Dialog interessiert ist, wärmstens empfohlen werden kann.

COMPASS dankt dem Herausgeber Chajm Guski für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Buchauszuges an dieser Stelle!


© 2014 bei Chajm Guski
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ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 203


Judentum und Christentum  

Rabbiner Dr. MAX DIENEMANN



Einleitung

Von Unterschieden zwischen Judentum und Christentum soll auf den folgenden Blättern die Rede sein.

Zu welchem Zwecke? Nicht in der Absicht anzugreifen.

Es sei uns fern, eine Kritik des Christentums zu geben, Glaubenssätzen nahe zu treten, in denen Millionen Menschen Beseligung und innere Ruhe finden. Worauf es uns ankommt, ist einzig und allein, zu zeigen, welche Lehren dem Judentum eigentümlich sind, was die Juden von altersher von dem Eintritt in das Christentum abhielt und auch in aller Zukunft abhalten muss. So wahr es ist, dass .aller Religion Höchstes und Letztes ist, die Menschen durch den gemeinsamen Besitz Gottes in einem Bruderbunde zu einigen und zu der Erkenntnis zu führen, dass echte Frömmigkeit sich in allen Religionsgemeinschaften finde, so wahr ist es auch, dass man sich in den besonderen Geist jeglicher Religion hinein fühlen, sie in ihrer Geschlossenheit begreifen und in ihrer Eigenart erleben muss, wenn jeder in seiner Religion diese letzten und höchsten gemeinsamen Endziele finden soll. Man kann nicht die seelischen Voraussetzungen, die Wurzeln einer religiösen. Anschauung als belanglos und gleichgültig beiseite schieben und sich nur an die willkommenen Früchte halten; will man die Früchte aller Religion, die Nächstenliebe und die Sittlichkeit ernten, dann muss man auch die Wurzeln jeglicher religiösen Anschauung pflegen.

Den modernen Menschen hatte bereits ein neu sich regendes Sehnen die Notwendigkeit des Besitzes religiöser Ideale gelehrt, und unsere jüngsten Erlebnisse haben dieses Sehnen vertieft und gesteigert; damit beginnt aber auch ein neuer Wettkampf der Religionen in ihrem Streben, die Welt mit ihren Gedanken zu erfüllen, und zwar nicht nur auf der Grundlage der dogmatischen Prägung, die sie in alten Zeiten erhielten, sondern auf dem Grunde der ganzen ihren Bekennern eigentümlichen Anschauung. Und eben darum ist es vonnöten, mit-, aller Entschiedenheit und Deutlichkeit die Lehren zu zeigen, die das Judentum bisher mit Zähigkeit festgehalten hat, in denen es sich von der christlichen Umwelt unterschieden fühlte, und an denen es auch weiter festhalten muss, wenn es sich erhalten will. Es handelt sich, um es mit einem Worte zu wiederholen, darum, für das Judentum das Recht auf die eigene Anschauung erneut aufzustellen und zu begründen. Diese Aufgabe wäre überflüssig, wenn man der Überzeugung sein könnte, dass die Unterschiede der religiösen Lehren allgemein bekannt wären. Das ist aber keineswegs der Fall.

Im Gegenteil, es herrscht gerade über die Punkte, in denen Judentum und Christentum am entschiedensten auseinandergehen, eine seltsame und bedauerliche Unkenntnis. Innerhalb der jüdischen Kreise hat sich infolge der vielfachen auf das Judentum gerichteten Angriffe fast alles Interesse in der Verteidigung erschöpft, so dass man nur selten Gelegenheit fand, positiv die besondere Art der jüdischen Ideenwelt hervorzuheben. Und innerhalb der nichtjüdischen Kreise ist man meistens so befangen in der Anschauung, dass das Judentum eine überwundene und abgetane Form der Religion sei, dass man es sich gar nicht vorzustellen vermag, die Juden von heute sollten sich nicht als überwunden erklären, ja hätten sogar ein deutliches Bewusstsein von ihrer religiösen Eigenart und den ausgesprochenen Willen, sie zu erhalten.

Man sieht zudem die Juden – infolge ihrer eigentümlichen politischen Stellung – so ganz und gar mit dem Kampf um die bürgerliehe Gleichberechtigung beschäftigt, dass ein Außenstehender in der Tat zu der Meinung kommen kann, dieser Kampf sei ihr einziges Interesse; und sie hielten der alten Glaubensgemeinschaft höchstens aus Gründen der Ehre oder der Pietät die Treue, aber ohne die Gewissheit eigener Ideale und. deren Lebensfähigkeit, Soweit geht schließlich die Unkenntnis der wahren Sachlage, dass man wohl. die Unterschiede zwischen orthodoxem Judentum und orthodoxem Christentum begreift; dass man aber schon fast widerspruchslos das Urteil passieren lässt, zwischen liberalem Judentum und liberalem Christentum sei ein innerer Unterschied nicht vorhanden. Da ist eine gründliche Aufklärungsarbeit nötig, die klar und entschieden zeigt, wie im Religiösen eine geschlossene jüdische einer ebenso geschlossenen christlichen Anschauung gegenübersteht.

Wenn das also dargelegt werden soll, dann bedarf es nicht der lückenlosen Aufzählung aller Punkte, in denen sich Judentum und Christentum unterscheiden; von der Dreieinigkeit, dem Marienkult, der Heiligenverehrung erneut zu reden, ist unnötig. Nicht etwa deshalb, weil es auch Christen gibt, die darüber zur Tagesordnung übergegangen sind, und weil diese Lehren deshalb als von untergeordneter Bedeutung erscheinen könnten; denn das Bekenntnis der Kirche hält sie unverbrüchlich fest, und dieses Bekenntnis wird bei jedem Gottesdienst gesprochen, und jeder Übertretende hat sich darauf zu verpflichten. Ihre Bedeutung in der Reihe der Unterschiede zwischen Judentum und Christentum, ist noch immer die alte, aber sie sind so allgemein bekannt, dass sie nicht mehr besonders erwähnt zu werden brauchen. Uns muss es sich hier um den einen Punkt handeln, der hüben und drüben das Charakteristische ist, der in den alten Tagen der Ausgangspunkt aller Unterschiede war und auch heute, und heute mehr denn je, der wesentliche ist, an dem gleichsam alles andere hängt. Und dieser Punkt ist die Lehre vom Menschen, die Anschauung über Art und Wesen des Menschen. Zu schildern, wie Judentum und Christentum über den Menschen, sein Wesen und Können urteilen, wie daraus alle Unterschiede zwischen den beiden Religionen hervor wachsen, das und nur das sei die Aufgabe dieser Schrift.




Rabbiner Dr. Max Dienemann
Judentum und
Christentum


Erstausgabe: Frankfurt 1914
Diese Ausgabe basiert
auf der Auflage von 1919

Herausgegeben und bearbeitet von Chajm Guski

BoD – Books on Demand
Norderstedt 2014
76 S. * Euro 5,90 
ISBN 978-3-7357-1873-0


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INHALT

Hinweis ................................................... III
Inhalt .......................................................V
Parallelen ..................................................7
Einleitung .................................................11
Das Wesen des Menschen ...........................15
Die Gnade Gottes im Leben des Menschen ......34
Versöhnung und Erlösung ............................43
Der Messias und die messianische Zeit ...........55
Das Gesetz ...............................................60
Synagoge und Kirche ..................................70
Über Rabbiner Max Dienemann ......................75
Verzeichnis der Schriftstellen .......................76

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Versöhnung und Erlösung


In der Lehre von der Erlösung gipfelt nach dem Selbstzeugnis des Christentums seine Bedeutung für die Menschheit. Als die „Erlösungsreligion“ nennt es sich selbst die höchste Stufe aller Religion. Um diesen Anspruch zu verstehen, ist es notwendig, das Wort „Erlösung“ erst näher zu erfassen.

Judentum und Christentum erblicken beide in der Erlösung eine hohe Hoffnung, einen gewichtigen Wert, aber beide denken sich darunter ein Verschiedenes.

Was ist für den Juden „Erlösung“? Die Hoffnung auf die Erlösung ist ihm die Hoffnung auf das Zusammenbrechen aller Tyrannei und Gewaltherrschaft und darum zugleich die Hoffnung auf das Ende all des Elends, das auf ihn gehäuft ist, weil er Jude ist und bleibt. Dass Israel aus seiner Not und aus dem Druck, der auf ihm lastet, erlöst werden wird, ist der lebendige Glaube ganz Israels. In diesem Sinne betet der Jude zu Gott als seinem Erlöser; kein öffentlicher Gottesdienst geht vorüber, ohne dass der Bitte um Erlösung ein hervorragender Platz eingeräumt wird, tief in des Juden Brust ist der Glaube eingegraben: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ (Hiob 19, 25).

Das Christentum hat nun an dem Glauben an die Erlösung eine folgenschwere Umprägung vorgenommen und nennt „Erlösung“: die Befreiung des Menschen und der Menschheit von der Last der Sünde. Es behauptet, damit den entscheidenden Schritt über das Judentum hinweg getan, den wahren Fortschritt der Religion herbeigeführt zu haben in dem Wichtigsten der Menschenseele: der Sündenvergebung, der Erhebung des Menschen aus seiner Sünde zu reinerem Lehen. Was ist das nun für eine Lehre von der „Erlösung“, die das Christentum kündet?

Auch hier nimmt alles seinen Ausgang von der uns bereits bekannten Auffassung über das Wesen des Menschen. Da im christlichen Bewusstsein die Sünde etwas mit dem Menschen von Natur Verknüpftes ist, menschliche Kraft allein von der Sünde nicht frei machen, kann, so muss der Mensch durch die Macht eines Höheren von diesem Übel befreit, erlöst werden. Aus des Menschen sittlicher Hilflosigkeit folgt nach christlicher Anschauung seine Erlösungsbedürftigkeit. Um nun dem Menschen Erlösung zu bringen, sei Gott zur Erde hinabgestiegen, habe in Christus Menschengestalt angenommen und sich selbst für die Sünde der ganzen Menschheit geopfert, für die Sünde, die vor ihm war, und für die zukünftige. Durch Christus gewinne nun jeder Sünder Vergebung, vorausgesetzt, dass er an die erlösende Macht Christi glaubt. Ohne den Glauben daran sei alle Reue und Busse nur eitel Stückwerk, gebe es keine Vergebung, keine Möglichkeit, zu wirklich frommer Tat zu schreiten, keine Erneuerung des Menschen, weil eben der Mensch auch nach der Reue aus eigener Kraft sich nicht bessern kann. In der katholischen Kirche spielen allerdings neben dem Glauben an Christi Erlösungstat auch die gutenWerke des Menschen eine Rolle: sie erwerben dem bereits Getauften die ewige Seligkeit, sie bedeuten die Mitwirkung des Menschen selbst, sich der Gnade würdig zu machen. Allerdings immer nur diejenigen guten Werke, die aus dem Glauben an Christus und seine erlösende Macht hervor gewachsen sind.

Im protestantischen Bewusstsein gilt als wirksam nur die feste Zuversicht, dass um der Verdienste Christi willen die Sünde vergehen sei. Wenn man katholische und protestantische Anschauung vom Standpunkte des Judentums aus betrachtet, so kommt man zu dem von der landläufigen Meinung abweichenden Urteil, dass an dieser Stelle die katholische Lehre der jüdischen näher steht als die protestantische. Denn die katholische Lehre erkennt den Wert guter Werke an und weist ihnen einen Platz an in der Überwindung der Hemmnisse, die in der Menschenbrust der sittlichen Läuterung sich entgegenstellen. Sie geht hier ein Stück Weges mit der jüdischen Anschauung, weicht von ihr allerdings wieder ab, indem sie unter guten Werken nicht bloß sittliche Handlungen sondern auch kirchliche Handlungen wie Fasten und Beten begreift und stark betont, während im Judentum nach dem Willen, seiner Lehrer die zeremoniellen Handlungen stets hinter die ethischen Forderungen rücken. Die protestantische Anschauung hingegen leugnet den Wert guter Werke, auch der sittlichen, für die Versöhnung mit Gott und gründet die Erlösung von der Sünde ausschließlich auf den Glauben.

Gemeinsam ist also allen christlichen Bekenntnissen die Anschauung, dass Reue und Busse allein nicht genügen, wenn sie auch selbstverständlich immer gefordert werden. Zu ihnen müsse noch der Glaube an die erlösende Kraft von Christi Leben und Tod hinzukommen. Und diese Erlösung ist und bleibt ein Geschenk der göttlichen Liebe, sie ist von der Tat des Menschen, auch von seiner zukünftigen, unabhängig, sie begründet auch keine neue sittliche Haltung des Menschen. Es wird selbstredend gefordert, dass als Wirkung der Erlösung die Heiligung des Menschen sich zeigen müsse, d. h. die bessere Tat, der Aufstieg zum Guten; insbesondere in der modernen christlichen Bewegung wird die sittliche Tat als Frucht der Erlösung noch über die Erlösung gestellt. Aber diese sittliche Tat wird nicht gedacht als die völlig eigene Arbeit des Menschen, der um seine sittliche Läuterung ringt, sondern sie ist selbst wieder ein Geschenk Gottes. Dass der erlöste Mensch zur besseren Tat schreitet, ist nicht sein Werk, sondern das Werk der Gnade, die über ihn gekommen ist. An dem Glauben an die Erlösung von der Sünde ändert sich auch nicht viel bei denjenigen, denen das Dogma vom Opfertode Christi und seiner Gottheit ein überwundener Standpunkt ist. Es ist dann eben der Mensch Christus, der durch sein Beispiel die Sünde überwinden lehrt, es ist dann nicht mehr sein Tod, sondern sein ganzes Leben, das als einzigartige Erscheinung gefasst wird, aber es bleibt der Wille, das Christentum auszubauen als die Religion der Erlösung von der Macht der Sünde.

Wie stellt sich nun das Judentum dazu?

In ihm ist für das Bedürfnis nach Erlösung im christlichen Sinne des Wortes kein Raum, weil ihm die Sünde ein Vorübergehendes ist, und es ein Reich der Sünde nicht anerkennt. Wohl fühlt der Jude, dass er ohne Gottes Gnade und Erbarmen nicht bestehen könnte, dass jeder Sünder Gottes Verzeihung bedarf, dass kein Mensch so schlecht werden kann, dass ihm nicht Gottes Liebe immer wieder zuteil werden könnte. Die Bibel verkündet die Botschaft von dem grenzenlosen Erbarmen Gottes so oft, dass es überflüssig ist, Verse dafür aus der Bibel zu zitieren. Aber der Jude weiß auch: wie der Mensch durch seine Schuld von Gott sich getrennt hat, so muss er sich ihm wieder durch seine sittliche Tat nähern. Und wenn die Seele noch so sehr mit Sünde belastet ist, es bleibt ihr die volle Freiheit und Fähigkeit zu besserem Tun. Die sittliche Erneuerung muss aus eigener Kraft erwachsen, die Heiligung des Menschen ist sein eigenes Werk, er selbst muss sich den Frieden mit sich selbst, die Harmonie des Seelenlebens erringen, die den Frieden mit Gott, die Versöhnung verbürgt. Von dieser Anschauung geleitet feiert der Jude seinen Versöhnungstag, immer getragen von dem Gedanken, dass der erbarmende Gott jedem reuigen Sünder sich zuneigt, dass aber der Mensch die Quellen der sittlichen Erneuerung in sich selbst trage. Er glaubt nicht, dass ein Versöhnungstag oder irgendeine andere Gabe der Religion ihn auch nur für einen Augenblick ans volle Ziel bringen kann, sondern er weiß, dass jeder Versöhnungstag nur dazu da ist, ihn zu weiterem eigenen Streben zu ermutigen und zu ermahnen. Das ist die einfache jüdische Lehre von der Versöhnung. Da ist nichts von Erlösung von der Sündenmacht, da steht kein Wunder im Mittelpunkt, da ist Gottes und des Menschen Anteil an der Versöhnung gewahrt.

Was ist also in kurzem der Unterschied zwischen der „Versöhnung“ im Judentum und der „Erlösung“ im Christentum? Bei der Versöhnung wirken beide; Gott und Mensch mit, denn die Versöhnung fordert beide Parteien (wie Hermann Cohen es treffend ausgedrückt), aber im Vordergrunde steht die aus der Kraft geleistete Arbeit des Menschen, wie sie sich ausprägt in der Reue, der neuen Tat, der Heiligung. Bei der Erlösung ist alles Gottes Werk allein, auch das neue Leben des Menschen und seine Heiligung.

Mit der christlichen Lehre von der Erlösung sind noch mancherlei Gedanken verbunden, zu denen das Judentum in Widerspruch steht. Da ist vor allem die Vorstellung vom „Glauben“. Der „Glaube“ ist auch im Judentum die selbstverständliche Voraussetzung der Frömmigkeit, aber nie selbst Frömmigkeit. Im Christentum aber gewinnt der Glaube einen selbständigen Wert, er ist eine Tat, die für sich schon die Erlösung von der Sünde bewirkt. Selbst da, wo die guten Werke gefordert werden, treten sie in ihrer Bedeutung „hinter den Glauben“ zurück, der Glaube an Christus und seine Erlösertat ist das allein Entscheidende, ohne ihn gibt es keine wirklich fromme Handlung; keine Gemeinschaft mit Gott. In diesem Sinne wurde das Wort vom allein seligmachenden Glauben geprägt. „Wer da glaubt …, wird selig werden, wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden“ heißt es im Evgl. Markus 16, 16.

Das Judentum hingegen lehnt es ab, im Glauben ein Kennzeichen der Frömmigkeit zu erblicken. Noch dazu, da es sich nicht etwa nur um den Glauben an Gott, sondern um den Glauben an das ganze Heilswerk Christi handelt. Und wenn nun jemand daran nicht zu glauben vermag? Das Christentum hat für ihn keinen Trost, es kann ihm keine Versöhnung zusprechen, er bleibt unerlöst von der Macht der Sünde. Erlösung ist das aus Liebe fliessende Gnadengeschenk Gottes an die unter der Sünde erliegende Menschheit, indem sie als das Höchste gepriesen wird, wächst in der christlichen Lehre die Liebe über die Gerechtigkeit empor. Verzeiht Gott nicht um der Reue und Busse des Menschen. willen, die seine sittliche Besserung nach sich ziehen, sondern nur aus Liebe auf Grund des Glaubens an die Erlösung durch Christi Tod, dann muss auch für das sittliche Leben des Menschen und seine Nachfolge Gottes die Liebe höher stehen als die Gerechtigkeit und auch im sozialen Leben die Liebe wertvoller sein als die Gerechtigkeit.


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Anders im Judentum.

Unendlich hoch steht auch ihm die Liebe Gottes, aber wie sich ihm in seinem Bilde von Gott Liebe und Gerechtigkeit vermählen, der gerechte Gott zieht den Menschen, der von seiner Willensfreiheit einen schlechten Gebrauch macht, zur Verantwortung, und dieser selbe gerechte Gott ist zugleich voll Liebe und Erbarmen mit dem reuigen Sünder, so werden auch in des Menschen sittlicher Nachfolge Gottes Liebe und Gerechtigkeit in gleichem Wert gefordert. Der Mensch bekennt seinen Gott, indem er an den Geschöpfen Gottes Liebe übt; und wer die Rechtsordnung zerstört hat, muss aus seinem Teil zu ihrer Wiederherstellung beitragen, seine Reue und seine Busse müssen aus ihm fließen, damit erfüllt der sündige Mensch Gott gegenüber die Forderung der Gerechtigkeit. So werden im Judentum Liebe und Gerechtigkeit gleichwertig und gleichnotwendig; sosehr, dass in dem Worte „zedakah“, das zugleich Gerechtigkeit und Liebestat bedeutet, beides unauflöslich miteinander verbunden ist. Das Judentum lässt sich dabei von dem Gedanken leiten, dass man nicht ein Ideal aufstellen dürfe unbekümmert um die Natur des menschlichen Gemeinschaftslebens. Die menschliche Gesellschaft kann sich auf Liebe allein nicht gründen, sie fordert beides, Liebe und Gerechtigkeit in gleicher Weise. In steigendem Masse gehen ja auch alle modernen Staaten dazu über, die sozialen Pflichten nicht bloß als Bekundungen der Liebe zum Nächsten zu fassen, sondern als Forderung der Gerechtigkeit durch Gesetz festzustellen, und bekennen sich so praktisch zu der vom Judentum von jeher vertretenen Verbindung von Liebe und Gerechtigkeit. Aber nur wenn die religiöse Forderung dieselbe ist als die, die im Staats-und Gesellschaftsleben als die selbstverständliche gilt, ist die Religion das, was sie sein soll, die Herrin über das gesamte Leben.

Die jüdische Lehre von dem gleichen Wert und der gleichen Notwendigkeit von Liebe und Gerechtigkeit sichert der Religion die ihr gebührende Stelle im Leben. „Erlösung“ bedeutet die Alleinherrschaft der Liebe, „Versöhnung“ die Verbindung von Liebe und Gerechtigkeit.

Es ist bedeutsam, dass man in den christlichen Kreisen, in denen man über das Dogma von der Erlösung durch den Tod Christi hinaus strebt, dennoch den Kern der alten Erlösungslehre dadurch festzuhalten bemüht ist, dass man zum Gipfelpunkt der Sittlichkeit die Liebe erhebt, die an Wert weit über Gerechtigkeit hinausragen soll. Die christliche Erlösungslehre gipfelt darin, dass Gott in den Dienst der Menschheit gestellt wird, die jüdische Versöhnungslehre in dem Bewusstsein, dass es das Wichtigere ist, den Menschen in den Dienst Gottes zu stellen. Dadurch, dass das Christentum mit seiner Erlösungslehre Gott in den Dienst der Menschheit stellt, hat es das Opfer verewigt.

Es ist richtig, es hat auf das tatsächlich zu vollziehende blutige Opfer verzichtet, aber nur, weil es durch ein stellvertretendes göttliches ersetzt wurde, das sich immer aufs Neue wiederholt. Nach der Lehre der katholischen Kirche erneuert sich in jedem Hochamt die Opferung Christi, und für beide, Katholiken und Protestanten, ist das Abendmahl die nie erlöschende Erinnerung an die Selbstopferung Christi. Das Opfer behielt so seine entscheidende Stellung in der Religion. Diese Stellung hat es im Judentum nicht. Schon zu den Zeiten, da der Tempel noch stand, war das Bewusstsein lebendig, dass Gott nicht um des Opfers willen versöhnt, sondern einzig wegen der Reue des Menschen, von diesem Gesichtspunkt aus führten die Propheten ihren Kampf gegen eine allzu große Schätzung des Opfers im Volksbewusstsein.

Ausdrücklich heisst es dann in einem halachischen Midrasch, „auch ohne Opfer vollziehe Gott am Versöhnungstage das Werk der Versöhnung“ (Sifra Acharej Mot 8).

Es muss dem Juden als die Rechtfertigung seines von jeher vertretenen Standpunktes erscheinen, wenn manche Kreise des heutigen Christentums die Opferung Christi rein sittlich als die Hingabe an die gestellte Aufgabe fassen, die im Menschen die gleiche Hingabe in der Liebe zu den Mitmenschen erwecken soll. Auf diesem Wege ist bereits vor mehr als 1800 Jahren Rabban Jochanan ben Sakkai gegangen, als er die um den Tempel Trauernden mit der Mahnung tröstete, dass nun an die Stelle des Opfers die Liebestat im Dienste des Nächsten trete.

Die allerwichtigste Folge aber des Glaubens an die Erlösung von der Sünde durch den Tod Christi ist die, dass dadurch in den Mittelpunkt des Christentums eine Persönlichkeit rückte: die Person Christi.

Er steht als der Mittler zwischen Gott und Mensch. Selbst in den christlichen Kreisen, in denen man über alle Dogmen hinweggeschritten ist, bleibt unerschütterlich Christus im Mittelpunkt alles religiösen Denkens. Er gilt dann mittelbar als der Erlöser, weil er das Menschengeschlecht aufs Wirksamste zur sittlichen Besse­rung angeregt haben soll.

Er gilt als das unüberbietbare Beispiel völliger selbstloser Hingabe an die Menschheit, dem niemand diesen Platz in der Geschichte bestreiten könne. Auch da, wo auf dem äußersten Flügel des kirchlichen Liberalismus alles geschwunden ist, was an das alte christliche Dogma erinnert, wird doch wieder alles auf Christus aufgebaut, ganz wie bei dem orthodoxesten Christen. Ja, je mehr in diesen Kreisen Christus entgöttlicht und nur als vorbildlicher Mensch angesehen wird, umso mehr wird seine Persönlichkeit betont als die allein wirksame in der ganzen Menschheitsgeschichte. So sagt z. B. Bousset, nachdem er dem Gedanken Ausdruck gegeben, dass die notwendige Fortentwicklung der christlichen Religion alle Dogmen in ihren Strom hineinreißt: „Was bleibt uns noch? Ängstliche könnten meinen, ein Trümmerhaufen … Was uns bleibt ist das einfache Evangelium Jesu. Selbst da; wo wir uns von Luther und Paulus hier und da lösen, ketten wir uns umso fester an die Person und das Evangelium Jesu.“ Und an, anderer Stelle: „Wir sagen, dass seine Gestalt das Höchste und Vollendetste ist, was der Menschheit auf ihrem langen Wege von unten nach oben geschenkt wurde, die Krone unseres Daseins, der Führer unseres Lebens, dem kein anderer Führer zur Seite steht … Alles schießt zusammen und kristallisiert sich in vollendeter Klarheit in der Person unseres Herrn, Jesu, Und wir sprechen zu ihm: Du bist unser Führer! Es hat unendlich viele Führer des, menschlichen Lebens gegeben auf diesen und jenen Gebieten. Sei Du unser Führer, dem kein anderer gleicht, der Führer im, Höchsten, der Leiter unserer Seele zu Gott, der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Also selbst bei dem freiesten Christen, selbst bei dem, der, das Sittliche über den Glauben stellt, bleibt, der Wille, Christus als die religiöse Persönlichkeit schlechthin anzuerkennen, als den allein möglichen Führer auf dem Wege zur Frömmigkeit. Auch dort bleiben in voller Geltung die Worte Christi im Evangelium:

„Wer nun mich bekennet vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater“ (Matthäus 10, 32-33).

Es ist der tiefe Unterschied zwischen dem christlichen Erlösungs- und dem jüdischen Versöhnungsgedanken: Bei der Versöhnung stehen nur Gott und Mensch einander gegenüber, Erlösung aber muss durch jemandes Werk kommen. Da muss eine unerreicht als einzigartig dastehende Persönlichkeit zum Muster aller Frömmigkeit werden. Das eben ist ein Gedanke, den das Judentum ablehnt. Nach seiner Anschauung ist in jeglichem Geschlecht die Höhe des religiösen Standes zu erzielen.

„Es gibt kein Geschlecht, in dem nicht Männer emporwachsen wie Abraham, wie Isak und Jakob, wie Mose, wie Samuel“ (Bereschit rabbah 56,7).

Der Protestantismus nimmt für sich in Anspruch, dass er dem Bewusstsein, jeder müsse sein eigener Priester sein, zum Siege verholfen habe, indem er den Priester als überflüssig zur Vermittlung der Erlösung erklärte. Aber geblieben ist auch im Protestantismus Christus als der Mittler zwischen Mensch und Gott, geblieben ist auch im freiesten Christentum das Gebundensein an die Persönlichkeit Christi. Der kirchliche Liberalismus mag sich noch so sehr der jüdischen Versöhnungslehre nähern, an einem Punkte muss er halt machen, um sich noch als Christentum zu bekunden: er muss alle fromme und sittliche Tat des Menschen auf Christus beziehen, muss bezeugen, dass für den Christen das Heil nur in seiner persönlichen Beziehung zu Christus liegt. An dieser Stelle steht wiederum ein geschlossenes jüdisches einem geschlossenen christlichen Bewusstsein gegenüber. Das Christentum glaubt nur an einen Sittenhelden an Christus und hat ihn zum Mittler gewählt zwischen Mensch und Gott für alle Ewigkeit.

Das Judentum glaubt, dass der Menschheit immer neue Größen erstehen, die fähig sind, sie der Gottheit näher zu bringen, und dass jeder zu Gott Emporstrebende in sich die Kraft habe, sich durch sich selbst zu Gott zu erheben.



Der Autor und der Herausgeber

MAX DIENEMANN
und
CHAJM GUSKI

Rabbiner Dr. Max Dienemann kam am 27. September 1875 in Krotoschin, in der Provinz Posen zur Welt, studierte in Breslau, promovierte 1898 und gehörte bereits vor seiner Berufung zum Gemeinderabbiner in Offenbach zu den Vertretern eines traditionsorientierten liberalen Judentums, insbesondere vor dem Hintergrund der Assimilation.

1919, im Jahr seiner Berufung nach Offenbach, erschien seine Schrift »Judentum und Christentum «, die nicht nur die Unterschiede zwischen den Religionen hervorarbeitet, sondern auch einen Einblick in seine Auffassung vom Judentum gibt.

1933 wurde er ins KZ Osthofen verschleppt, im November 1938 nach Buchenwald. Aus Buchenwald kam er frei, musste jedoch das Land verlassen und so reiste er über London nach Palästina aus. Im März 1939 erreichte Rabbiner Dienemann Tel Aviv und verstarb dort schon am 10. April.

Chajm Guski (geb. 1978) ist ein deutscher Publizist, Autor und Blogger. Als Kind des Ruhrgebiets studierte er dort Sprachwissenschaften und ist hauptberuflich im Marketing tätig.
Als freier Mitarbeiter schreibt und publiziert er über die verschiedensten jüdischen Themen für jüdische Medien in Deutschland (u. a. mit Beiträgen in der Jüdischen Allgemeinen) und ist u. a. Betreiber von talmud.de (seit 1998) und Mitorganisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet, einer Initiative, die jüdisches Wissen im Ruhrgebiet fördern will. Chajm Guski lebt in Gelsenkirchen.


Internet:
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Chajms Sicht (Blog)


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