Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 212

November 2014

Dieser Tage rückte die Atomverhandlungen mit dem Iran und damit auch erneut die Frage nach der Boykottpolitik gegenüber dem Iran wieder in den Fokus des Interesses. Im nachfolgenden Interview werden diese Aspekte zwar nur gestreift, gleichwohl vermittelt das Interview einen nicht uninteressanten Einblick in einen weniger bekannten Bereich der iranischen Innenpolitik. Ohne Frage hängt dies mit der Person des Befragten zusammen, denn Ciamak Moresadegh ist nicht nur Abgeordneter im iranischen Parlament, sondern dazu der einzige jüdische Abgeordnete.

Wahlen zum iranischen Parlament, der Madschles Schora Eslami (Islamische beratende Versammlung), finden alle vier Jahre statt, zuletzt 2012. Das Parlament hat 290 Sitze. Die Abgeordneten verteilen sich im Wesentlichen auf zwei politische Gruppierungen: eine konservativ-religiöse und eine reformorientierte bzw. moderate. Die parlamentarische Tradition des Irans reicht bis ins Jahr 1906 zurück. Die Bedeutung des Parlaments im politischen System des Irans hat in Folge der islamischen Revolution 1979 abgenommen. Kandidaten müssen, um bei der Parlamentswahl antreten zu dürfen, vorher vom Wächterrat zugelassen werden. Im nachfolgenden Gespräch erläutert Moresadegh, der im Spätsommer Berlin besuchte, nicht nur, wie es zu erklären ist, dass er als Jude einen Platz im Parlament erhalten hat, sondern spricht auch über die doch etwas irritierende Tatsache, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland jeglichen Kontakt mit ihm mied.

Das Interview wurde von Martin Jehle für die JÜDISCHE RUNDSCHAU durchgeführt und dort im Oktober veröffentlicht. Es fand in der Residenz des iranischen Botschafters in Berlin in Anwesenheit eines Diplomaten und eines Übersetzers statt. Inwieweit diese Rahmenbedingungen es dem Abgeordneten ermöglichten, in seiner Rede völlig frei zu agieren, muss natürgemäß offen bleiben.

COMPASS dankt Martin Jehle für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe des Interviews an dieser Stelle!

© 2014 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 212


„Wir werden uns daran erinnern,
wer uns während der Sanktionen beistand“


Der iranische Abgeordnete Ciamak Moresadegh über seine Rolle als jüdischer Vertreter im Parlament, die Probleme in seinem Land und die Beziehungen zu Deutschland.

Ein Interview von MARTIN JEHLE


Bei seinem Deutschlandbesuch gab der Volksvertreter Dr. Moresadegh ein Interview für die „Jüdische Zeitung“.

Das Gespräch fand in der Residenz des iranischen Botschafters in Berlin in Anwesenheit eines Diplomaten und eines Übersetzers statt.

Das Interview wurde in der Oktober-Ausgabe der Jüdischen Zeitung, Nr. 104, abgedruckt.





Herr Dr. Moresadegh, als iranischer Parlamentarier, der der jüdischen Minderheit seines Landes angehört, sind Sie eine Besonderheit. Können Sie sich kurz vorstellen?

Ich bin 48 Jahre alt, verheiratet und von Beruf Allgemeinchirurg. Derzeit arbeite ich als Direktor des Dr. Sapir Hospital and Charity Centers, des jüdischen Krankenhauses in Teheran. Des Weiteren bin ich zum zweiten Mal zum jüdischen Mitglied des iranischen Parlaments gewählt worden. Zuvor war ich drei Jahre lang Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Teherans. Für sechs Jahre war ich auch der Chefredakteur des „Jüdischen Magazins“ Teherans, das vierteljährlich erscheint.


Inwieweit bestimmt das Judentum Ihr alltägliches Leben? Halten Sie sich an jüdische Rituale?

Ich komme aus einer religiösen Familie. Mein Vater und Großvater und weitere Vorfahren waren seit dreihundert Jahren religiöse Führer. Aus diesem Grund ist meine Familie sehr bekannt in der jüdischen Gemeinschaft und hat sie religiös und kulturell geprägt. Ich halte den Schabbat ein, aber nicht jedes Detail. Ich esse, was Fleisch betrifft, koscher, bei Gemüse bin ich da aber nicht unbedingt so streng.


Sie sind das einzige jüdische Mitglied des iranischen Parlaments. Nach welchem Verfahren wurden Sie gewählt?

Ein Sitz im iranischen Parlament ist für die jüdische Gemeinschaft reserviert. Das bedeutet, dieser Abgeordnete wird nur von der jüdischen Gemeinschaft gewählt. Nach der iranischen Verfassung gibt es für verschiedene Minderheiten reservierte Parlamentssitze, unter anderem für Christen und die Gemeinschaft der Zoroastrier. Nach dem Gesetz muss auf 300.000 Einwohner ein Repräsentant im Parlament entfallen. Die Anzahl der iranischen Juden liegt aber nur bei ungefähr 20.000 bis 25.000. Damit sind wir sogar überrepräsentiert. Alle religiösen Minderheiten im Iran haben jeweils weniger als 150.000 Anhänger. Das zeigt, dass es für religiöse Minderheiten eine positive Diskriminierung gibt. Als Mitglied des iranischen Parlaments vertrete ich aber nicht nur die iranischen Juden, sondern das ganze iranische Volk. Im Parlament habe ich die gleichen Rechte wie jeder andere Abgeordnete.


Und welcher Parlamentsfraktion haben Sie sich angeschlossen?

Im iranischen Parlament gibt es verschiedene Fraktionen, die abhängig von den politischen Einstellungen sind. Es gibt beispielsweise radikal-revolutionäre Kräfte im Sinne des früheren Präsidenten Achmadinedschad. Als Vertreter einer religiösen Minderheit gehöre ich aber keiner Fraktion an. Ich entscheide daher nicht anhand der Fraktionsmitgliedschaft, sondern nach meiner Interessenlage. Das hat auch mit der Wahl in der jüdischen Gemeinschaft zu tun. Die wird nämlich nicht durch Parteien bestimmt.


Aber von der Interessenslage der Jüdischen Gemeinde. In welche politische Richtung gehen dort die Einstellungen?

Ich habe eine recht unabhängige Stellung im Parlament. In der jüdischen Gemeinschaft Irans gibt es, innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens der Islamischen Republik, ein breites Spektrum an politischen Einstellungen, von ganz rechts bis ganz links. Wenn ich auf eine Richtung festgelegt wäre, könnte ich die jüdische Gemeinschaft nicht angemessen vertreten.




JÜDISCHE RUNDSCHAU




Im Verlagshaus J.B.O. Jewish Berlin Online erscheinen ab Ende Juni 2014 zwei neue jüdische Monatszeitschriften, deren Titel zugleich Programm ist: An russischsprachige Leser wendet sich „Evrejskaja Panorama“ („Jüdische Panorama“), deutschsprachige Leser wird die „Jüdische Rundschau“ erreichen.

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„Evrejskaja Panorama“ und „Jüdische Rundschau“ werden zugleich für jüdische wie nichtjüdische Leser gemacht. Über Politik und Kultur wird ebenso berichtet wie über Religion, jüdisches Gemeindeleben, Israel und die Diaspora.

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Sie haben betont, dass Sie sich als Vertreter der gesamten iranischen Gesellschaft im Parlament sehen. In welchen Bereichen sehen Sie im Iran den größten Reform- oder Verbesserungsbedarf?

Wir müssen weiter an der Unabhängigkeit des Irans arbeiten. Nach der Revolution brauchte der Iran ausländische Unterstützung. Unsere ganze Industrie hing von westlichen Ländern ab. Damals produzierte man weniger als 20 Prozent unseres Bedarfs an Medikamenten im Iran. Heute sind es 90 Prozent. Einen solchen Zustand müssen wir für unsere ganze Industrie herstellen.
Ein weiterer Bereich: Die Situation der jungen Leute im Iran muss verbessert werden. Wir haben einen riesigen jungen Bevölkerungsanteil im Iran. Die Jugend will Arbeit, gute Wohnverhältnisse et cetera. Die hohe Arbeitslosigkeit ist besonders für die jungen Iraner ein Problem. Bei den wesentlichen Problemen im Iran gibt es übrigens keinen Unterschied zwischen Juden und Moslems.
Schließlich unsere Stabilität und Sicherheit: Wir befinden uns in einer Region der Welt mit vielen Kriegen und Unruheherden. Der Iran ist da eine Insel der Ruhe. Nach der Revolution im Iran, in Zeiten innerer Instabilität, sah der Irak unter Saddam Hussein die Chance, unser Land zu besetzen. Ich war selbst als Freiwilliger 18 Monate im Krieg. Ich habe in der Infanterie gekämpft und als Erste-Hilfe-Sanitäter gearbeitet. Wir hatten damals auch einen jüdischen General in der iranischen Armee, General Homayoun Mohaber. Ein Allgemeinchirurg, der im Krieg mindestens 1.000 Leben gerettet hat. Heute arbeitet er im Jüdischen Krankenhaus in Teheran.


Werden die Juden auch im alltäglichen Leben im Iran integriert oder sehen sie sich Diskriminierung ausgesetzt?

Als religiöse Minderheit in einem religiösen Land haben wir natürlich gewisse Probleme. Aber das Wichtigste vorab: Unsere Situation verbessert sich kontinuierlich. Heutzutage geht es uns als religiöse Minderheit viel besser als in den ersten Jahren nach der Islamischen Revolution 1978/79. Beispielsweise brauchte es erst eine Fatwa, mit der klargestellt wurde, dass das sogenannte Blutgeld für Juden genauso hoch zu sein hat, wie das für Muslime. Die Arbeitslosigkeit ist zwar grundsätzlich im Iran ein großes Problem, aber für Juden besonders. Im öffentlichen Dienst ist es für Juden schwierig, eine Anstellung zu bekommen. Umso mehr man nach oben schaut, umso mehr Verständnis gibt es in der iranischen Gesellschaft für Juden. Im Alltag gibt es gute Beziehungen zwischen Juden und Muslimen. Das »Dr. Sapir Hospital and Charity Center« zum Beispiel – das jüdische Krankenhaus in Teheran – steht natürlich allen Menschen offen, unabhängig von ihrer Religion. Die meisten unserer Patienten sind Muslime. Mehr als 5.000 werden jedes Jahr bei uns behandelt.


Auch in Berlin gibt es eine Jüdische Gemeinde. Sind Sie dort als Iraner willkommen?

Seit Jahren versuche ich, mit dem Zentralrat der Juden Kontakt aufzunehmen. Über die iranische Botschaft in Berlin habe ich drei Mal um eine Besuchsgelegenheit gebeten. Einmal kam eine ablehnende Antwort, die anderen Male überhaupt keine Reaktion. Ich würde etwa gerne die Jüdische Gemeinde Berlin besuchen, um bei einigen Problemen der Juden im Iran um Hilfe zu bitten. Wir brauchen einige rituelle Gegenstände für unsere Gottesdienste, für die wir natürlich bezahlen wollen. Übrigens, vor vielen Jahren benötigte die Jüdische Gemeinde Berlins eine Tora und hat sie aus dem Iran geliehen. Iranische Juden haben sie mit der Erlaubnis des iranischen Kulturministeriums gebracht. Sie wurde dann für zwei Jahre genutzt, bevor sie in den Iran zurückging.


Was könnte, nach ihrer Wahrnehmung, der Iran von Deutschland lernen?

Disziplin ist sicher eine Eigenschaft in Deutschland, von der wir im Iran lernen könnten. Der Aufstieg der Deutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ist auch beispielhaft. Aber man muss natürlich im Betracht ziehen, dass die Umstände und Voraussetzungen für jedes Land unterschiedlich sind. Das Lernen und Aufnehmen von anderen muss immer zu unserer Kultur passen. Dieser Kontext muss berücksichtigt werden. In der Industrie gibt es eine lang zurückreichende Verbindung zwischen Deutschland und dem Iran …


… die von den internationalen Sanktionen gegen den Iran betroffen ist.

Ja, denn zurzeit opfert Deutschland seine Interessen, weil es der gegen den Iran gerichteten Sanktionspolitik der USA folgt. Iran ist ein großer Markt. Durch die Sanktionen haben wir natürlich Probleme, unser Öl zu verkaufen. Aber die Welt ist groß und es gibt andere Länder, mit denen wir handeln können. Daran gewöhnen wir uns, zum Beispiel mit den Chinesen. Wenn die Sanktionen einmal aufgehoben sind, werden wir Iraner uns daran erinnern, wer uns während der Sanktionen beistand und wer nicht.


Herr Dr. Moresadegh, vielen Dank für das Gespräch.




DER INTERVIEWER

MARTIN JEHLE

Martin Jehle, geb. 1982 in Berlin, Rechtsanwalt, gelegentliche journalistische Tätigkeit.

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Der Interviewer freut sich über
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Kontakt zu Martin Jehle und/oder COMPASS:

redaktion@compass-infodienst.de


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