Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 224

Juni 2015

Erst kürzlich sorgten sie erneut für kirchliche Schlagzeilen, als ihre offzielle Teilnahme am gerade in Stuttgart laufenden evangelischen Kirchentag unterbunden wurde: Die sogenannten "messianischen Juden", die ihren Glauben an Jesus als dem Messias mit dem Judentum für vereinbar halten. Ihre Stellung ist höchst umstritten: bei den offiziellen christlichen Kirchen finden sie keine Anerkennung, jüdischerseits ebenso wenig und im Kontext des christlich-jüdischen Dialogs stoßen sie auch deshalb häufig auf Kritik, weil ihnen eine teils verdeckte, teils offene Judenmission nachgesagt wird. Einzig in evangelikalen Kreisen finden die "messianischen Juden" eine christliche Heimat und Unterstützung.

Was genau aber macht sie - aus theologischer Sicht - so umstritten? Wie also lässt sich das Phänomen theologisch fassen? Ist die christliche und jüdische Skepsis gegenüber messianischen Juden gerechtfertigt? Welche theologischen und historischen Gründe können für eine Beurteilung dieses Phänomens herangezogen werden? Und welche Konsequenzen drängen sich auf? Sind sie mithin mehr Brücke oder eher Hindernis im christlich-jüdischen Dialog?

Diesen Fragen widmete sich der österreichische Generalsekretär des Koordnierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Österreich und katholische Theologe Markus Himmelbauer in einem Vortrag auf der Jahrestagung des Martin-Luther-Bundes im vergangenen Jahr. Himmelbauers Reflexionen zeichnen sich durch eine betont nüchterne und argumentative Note aus, um sich dem mitunter emotionsgeladenen Problem theologisch seriös zu nähern.

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur nachfolgenden Wiedergabe seines Vortrags!

© 2015 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 224


Jude und zugleich Christ sein - geht das?


MARKUS HIMMELBAUER


Vorbemerkung

Seit Conchita Wurst ist man als Österreicher vielleicht ein Spezialist in Fragen transkategorialer Identitäten geworden. Da gibt es zwei Geschlechter, Frau und Mann, und jede Person ist dem einen oder anderen zuzuordnen. Was einmal als klar, sicher und unveränderlich galt, ist nun aber in Bewegung und scheint heute in seinem Bestand gefährdet. (Vielleicht aber war das ohnehin niemals so eindeutig, sondern wurde einfach nicht differenzierter wahrgenommen.)

Auch beim Phänomen „Messianische Juden“ sind traditionelle Identitäten aufgelöst: Eine Gruppe, die zwischen Juden und Christen steht, keins von beiden ist – oder beides. Die Fragestellung wird, soweit ich den Überblick habe, zumeist nur allgemein gestellt. Es wird allgemein von Messianischem Judentum gesprochen und dieses irgendwo zwischen Synagoge und Kirche verortet. Doch wie sieht die Beziehung zu den beiden Bezugspunkten – Judentum und Christentum – konkret aus? Ich werde mich hier also auf die Frage konzentrieren: Jude und zugleich Christ sein – geht das? Kurz auch mit der Gegenfrage: Kann ein Christ zugleich Jude sein? Die Kapitel sind assoziativ gewählt, sie folgen keiner Systematik und haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sind von mir frei gewählte Punkte, von denen ich meine, Ihnen dazu etwas Substanzielles sagen zu können.

Bei meinen Überlegungen werden Sie merken, dass ich meine katholische Herkunft nicht verleugnen kann. Ich freue mich, ergänzende Dimensionen zum Thema aus der Perspektive Ihrer Kirchen später mit Ihnen in der Diskussion zu erörtern. Ich danke für die Einladung hierher, die mir Gelegenheit gab, mich mit diesem Thema, das in unseren Gemeinden und in der christlich-jüdischen Zusammenarbeit stark präsent ist, vertieft auseinanderzusetzen.


Einleitung

Messianischen Juden sind Jüdinnen und Juden, die sich zum Glauben an Jesus Christus bekennen. Dieses messianische Bekenntnis und eine jüdische Glaubenspraxis schließen einander traditionell aus. Wie es die frühere Präsidentin des Internationalen Rats der Christen und Juden, Deborah Weissman formuliert:

I can’t believe that Jesus was more or less than any other human being who ever lived, created in God’s image. Nor can I believe that he was the saviour, redeemer, or Messiah. For Jews, the Messiah has not yet come.1


Das Messiasbekenntnis scheint mir aus jüdischer Sicht aber nicht unbedingt das Problem zu sein – denken Sie an die Erwartung der Wiederkunft des Rabbi Schneerson in Teilen der Chabad-Bewegung –, die Gottessohnschaft Jesu und das trinitarische Gottesbild des Christentums jedoch schon. Auch wenn Daniel Boyarin2  ausgehend vom alttestamentlichen Buch Daniel aufgezeigt hat, dass es um die Zeitenwende im vielgestaltigen Judentum auch denkmöglich war, eine zweite Person neben Gott-Vater zu denken und auch, dass eine messianische Gestalt leiden konnte, so will ich an dieser Stelle diesen Problemkreis nicht behandeln. Ich stelle einfach fest: Es gibt Jüdinnen und Juden, die an Jesus als Christus glauben. Die großen Kirchen tragen heute weitgehend den Konsens, keine Judenmission zu betreiben, doch als individuelle Entscheidung, in die Nachfolge Jesu aus Nazareth zu treten, ist dieser Schritt einzelner Jüdinnen und Juden zu respektieren.

So breit wie das gelebte Judentum und so unterschiedlich wie die christlichen Konfessionen, so vielfältig wird auch dieses Bekenntnis zu Jesus als Messias gelebt. Manche verstehen sich als katholische, anglikanische oder evangelische Christinnen und Christen mit jüdischem Hintergrund; eine andere Richtung ist das Messianische Judentum, das bewusst seine jüdische Herkunft betont. Hier gehen manche in Richtung einer evangelikalen Gemeinde, orientieren sich also an der Christenheit und feiern einen christlichen Gottesdienst mit mehr oder weniger explizit jüdischen Elementen. 3  Verbunden mit diesem doppelten Erwählungsgedanken – als Mitglied des Volkes Israel und als Anhängerin oder Anhänger Jesu – ist eine starke missionarische Aktivität, andere Jüdinnen und Juden zum Glauben an Jesus Christus zu gewinnen. 4  Mit anderen Worten, aber der Sache nach identisch, nennt Pfister es so:

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung haben gezeigt, dass messianische Juden in Deutschland keineswegs aggressiv missionieren, sondern dass sie das für sie befreiende Erlebnis ihrer Konversion mit anderen, meist befreundeten Juden, teilen möchten5.

Messianische Juden werden „aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung den für sie typischen Missionsauftrag nicht ablegen“. 6

Nun gibt es aber eine Gruppe, die nach ihrem Messiasbekenntnis nicht in eine Kirche eintreten will, bzw. die nicht eine Kirche werden wollen.7  Sie lassen sich nicht taufen, da sie schon im Bund Gottes stehen, und bleiben auch mit dem Glauben an Christus ihrem halachischen jüdischen Leben treu. Dieser Gruppe widme ich meine Aufmerksamkeit bei meinen Überlegungen „Kann man als Jude zugleich Christ sein?


Kann ein Christ zugleich Jude sein?

Doch zunächst zur Frage: Kann ein Christ zugleich Jude sein?

Christentum ist ein Bekenntnis, ein Glauben. Wie diese Konsequenzen aus dem Glauben an Jesus Christus aussehen, das ist offen und kann in einer sehr großen Bandbreite gelebt werden. In den protestantischen Traditionen, die um das Wort und das persönliche Bekenntnis kreisen, ist das rationaler und nüchterner gefasst als in der orthodoxen oder katholischen Welt, die eine Vielfalt von Riten und Symbolen kennt. Ich habe erlebt, dass strenge Waldenserinnen schon das Anzünden einer Kerze als Abfall vom Glauben werteten. Eine Kniebeuge machen, ein Kreuzzeichen, Weihwasser und Weihrauch, das kann auch christlich sein, aber noch mehr: Wir stellen einen Tannenbaum zu Weihnachten auf, ziehen mit Ratschen am Karfreitag knatternd durch den Ort, suchen Eier zu Ostern, machen ein Lagerfeuer am Johannestag und weihen Kräuter zu Maria Himmelfahrt. Das ist nicht direkt mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus verbunden und gehört dennoch zum christlichen Brauch. Römische oder keltische Heiligtümer werden zu katholischen Kirchen, wir kennen wundertätige Quellen und pilgern zu besonderen Orten. Gar nicht zu sprechen von Bräuchen aus anderen Weltgegenden und Kontinenten in einer weltumspannenden Gemeinschaft sowie zeitgenössischen Einflüssen aus der Esoterik bis weit in den kirchlichen Bereich hinein.

In diesem Umfeld kann man natürlich als Jude und Jüdin auch weiterhin den Geboten der Tora folgen, gleichsam als religiöse Folklore. Vielleicht weniger im protestantischen Umfeld, denn dort ist die traditionelle Gegenüberstellung von Gesetz und Gnade stark verankert (doch das Thema findet dann wohl unter der Überschrift „Biblisch leben“ Eingang in die christliche Praxis). Aber als Katholik sehe ich dabei keine Hindernisse.

Daniel Rufeisen, zum Katholizismus konvertierter Jude und Karmelitermönch – ich werde später noch genauer auf ihn zu sprechen kommen – sieht in seiner Hebräisch sprechenden Gemeinde in Haifa noch einen tieferen Grund, auch als Christin und Christ jüdische Traditionen zu pflegen:

Ich sage zwar „neue Kirche“, aber ist das die uralte Kirche, denn sie ist die Mutter aller Kirchen. Das Christentum hat ja in der hebräischen Sprache angefangen. Die ersten Christen waren selbstverständlich noch weiter Juden. Es war einfach nicht so, wie man es oft hörte, dass die Juden Jesus getötet und die Christen ihn dann angenommen hätten, sondern die ersten, die ihn angenommen haben, waren immerhin Juden.8

Ruth Steiner, Katholikin, Autorin und ein Brennpunkt für die christlich-jüdische Zusammenarbeit in Österreich, wurde 1944 als Jüdin im Exil auf den Philippinen geboren. Ihr Großvater war Großrabbiner von Bielitz (Polen). 1963 wurde sie in Wien katholisch getauft. Ihr Vater hatte zuvor angeregt, zur Klärung ihrer Identität eine Zeitlang in Israel zu verbringen. Steiner erzählt:

Ich ging tatsächlich einige Sommer lang zum Arbeiten in einen Kibbuz nach Israel. Dort wurde mir klar, dass ich wirklich Jüdin bin, mit einem starken Bewusstsein meiner jüdischen Wurzeln. Doch meine Religion ist das Christentum. Für mich war der Messias schon da. Das soll auf keinen Fall eine Abwertung der jüdischen Religion sein, die ja noch auf den Messias wartet. Es ist vielmehr eine ganz persönliche Aussage, keine theologische!9

Ruth Steiner und Daniel Rufeisen, ebenso wie Jean-Marie Lustiger und Johannes Oesterreicher haben sich selbst wohl nie als messianische Juden verstanden. Das ist meiner Meinung nach aber nicht nur ein Generationenproblem, weil Messianisches Judentum erst eine Entwicklung gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist. 10  Als Katholikin und Katholiken kamen sie aus dem Judentum und waren sich ihrer Herkunft bewusst, aber sie waren Christen. Wie es der in Wien wirkende Rechtsanwalt und evangelische Pfarrer Felix Propper im Jahr 1959 formulierte:

Wir sind Christen jüdischer Abstammung, die ihre Herkunft weder verachten noch verleugnen, sondern sich freudig zu ihr bekennen, die sich als Glieder ihres jüdischen Volkes betrachten und mit ganzer Kraft für seinen Staat Israel eintreten. … Wir sind – von der Daseinsberechtigung und Sendung des jüdischen Volkes überzeugt – auch als Christen entschlossen, unsere besondere Eigenart als Juden zu erhalten und auch bei unseren Familienangehörigen, Kindern und Kindeskindern für die gleiche Haltung einzutreten.11

Mir scheint, die zitierten Persönlichkeiten sehen ihren Weg zum Christentum als persönliche Entscheidung, nicht als Vorgabe für das gesamte jüdische Volk. Die bleibende Bindung zum jüdischen Volk bleibt für Johannes Oesterreicher etwa auch als Christ weiterhin erhalten. Für ihn ist das Judentum keineswegs eine heilsgeschichtlich defizitäre Größe:

Other peoples came into being as the result of biological, geographical, political, and cultural factors. Though these factors were not absent, the Jews, if we follow Scripture, owe their origin to none of them but to a word of God. They were conceived, as it were, when God commanded Abraham to go forth from his father's house and abandon himself to the adventure of faith. Their birth, too, was due to a divine initiative. … His love, which gives no reason because it is its own reason. No earthly measures could have recommended them for their role. They were small in numbers, they were politically insignificant, but God bound them to Himself in an unique covenant.12

Wenn er weiter über die Stellung von Konvertiten spricht, zeigt Oesterreicher durchaus Verständnis für die ablehnende Position des Judentums:

Though the general climate has thus changed and bitter words have become fewer, the Synagogue continues to consider the convert an apostate, even a traitor. This cannot be otherwise, for Judaism cannot be indifferent to the belief in Jesus as the Lord. On the other hand, a conversion lacks in depth, if the convert is oblivious of his bond with the Jewish people of all times. Far from being an enemy, he loves them as his own flesh and blood but a thousand times more as the flesh and blood of Christ.13

Es gibt eine Initiative „Toward Jerusalem Council II“14  – Auf dem Weg zu einem zweiten Konzil von Jerusalem. Es ist eine Gruppe von Christen verschiedener Konfessionen und Messianischen Juden (ich verwende keine geschlechtergerechte Formulierung, im zwölfköpfigen weltweiten Leitungsteam sind nur Männer). Diese Bewegung will die traditionelle Spaltung zwischen der Kirche aus der Beschneidung und der Kirche aus den Völkern überwinden und beide Teile wieder miteinander versöhnen. So wie beim Apostelkonzil in Jerusalem sich die judenchristliche Gemeinde für die Völker geöffnet habe, ohne ihnen die Tora aufzuerlegen, so sollten in einem neuen, zweiten Jerusalemer Konzil sich die Kirchen wieder den Gläubigen aus dem Judentum öffnen, ohne dass sie das Gesetz ablegen müssten. Oder wie es bei einer anderen Initiative innerhalb der Presbyterian Church of the USA heißt: “The church today has a chance to get right what the early church got wrong.”15

Meiner Meinung nach ist dies in dieser Form überflüssig. Dass Konzil von Laodicea (363/ 364) wandte sich zwar gegen die Judaisierer, und auch Conversos bzw. Marranen nach der Recoquista in Spanien mussten die Ernsthaftigkeit ihres Übertritts zum Katholizismus durch den öffentlichen Genuss von Schweinefleisch bekräftigen, doch heute muss kein Christ und keine Christin mehr der Tora abschwören. Im Gegenteil, oft erlebe ich bei meinen Vorträgen in den Gemeinden, dass gerade diese Christen jüdischer Herkunft oder sog. Messianische Juden besonders willkommen geheißen werden: Sie sind „einer von uns“ und auf sie wird das Ursprüngliche, die Wurzel des Christentums, auch das Exotische projiziert. Der freikirchliche Bereich lässt darüber hinaus schon jetzt viel Raum, eigene Gottesdienstformen zu entwickeln, die jüdische Traditionen bewusst aufgreifen und in ein christliches Umfeld integrieren.

Aber auch aus dieser Initiative „Toward Jerusalem Council II“ wird klar: Man kann Christ, Christin und zugleich Jude, Jüdin sein. Toward Jerusalem Council II versteht sich klar auf der christlichen Seite, indem sie ihr Vorhaben mit dem kirchlich konnotierten Wort „Konzil“ bezeichnet. Ein „nachmissionarisches messianisches Judentum“ habe durchaus ekklesiologisches Potenzial für die Zukunft, wie es Hans Hermann Henrix mit Verweis auf Mark S. Kinzer beschreibt. 16  Die positive Hereinnahme jüdischer Quellen ist eine Aufgabe, derer sich die Kirchen heute generell stellen müssen, verbunden mit einer Schuldeinsicht, das Jüdische in ihren Reihen lange Zeit verachtet und verdrängt und vernichtet zu haben. Ich werde später noch darauf zurückkommen, welche Gefahr ich damit verbunden sehe, wenn der Focus so stark auf die Wiederherstellung eines neutestamentlichen Zustands gerichtet ist. Die Frage ist nämlich, ob das wirklich „nachmissionarisch“ ist.

Es ist bislang aber nichts darüber ausgesagt, wie dies von jüdischer Seite zu bewerten ist. Ich schlage vor, beide Seiten jedenfalls auch sprachlich auseinander zu halten und im christlichen Bereich die Bezeichnung Messianisches Judentum nicht mehr zu verwenden: Wir dürfen uns keine christliche Definitionsmacht über das Judentum anmaßen.





hinweis

Der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit wurde 1956 auf Veranlassung von Kardinal Franz König als Referat der katholischen Friedensbewegung “Pax Christi“ durch Prof. Kurt Schubert gegründet. 1965 konstituierte er sich als Verein in interkonfessioneller Trägerschaft.

In ihm haben sich Christinnen und Christen verschiedener Konfession, sowie Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden zusammen geschlossen. Der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit ist in Österreich die einzige Organisation im Bereich der Kirchen, die sich ausschließlich dem Dialog zwischen Christinnen, Christen und Jüdinnen und Juden widmet. Lokale Komitees arbeiten in Innsbruck, Salzburg, Linz, Eisenstadt und Graz.

Homepage:
http://www.christenundjuden.org/



Selbstzuschreibung

Jeder und jede hat die Möglichkeit, die eigene Identität zu definieren und nach außen hin darzustellen, wie er oder sie sich fühlt. Conchita Wurst macht das jenseits traditioneller Rollenzuschreibungen von Mann und Frau. Oder der Kirchenkritiker und österreichische Nationalratsabgeordnete Niko Alm, der sich als Anhänger der Religion des Fliegenden Spaghetti Monsters deklarierte und so erreichte, dass auf seinem amtlichen Passbild für den Führerschein er aus religiösen Gründen mit einem Nudelsieb auf dem Kopf abgebildet wurde.

Die Soziologie benennt im religiösen Bereich Patchwork-Identitäten, die traditionelle Grenzen religiöser Gemeinschaften und Konfessionen überschreiten und dennoch vom Einzelnen nicht als Gegensätze erlebt werden. Evelyne Goodman-Thau versteht sich als orthodoxe Rabbinerin. Und eine Gruppe Frauen empfing vor einigen Jahren auf einem Schiff in der Donau die Weihe zur katholischen Priesterin.

Conchita Wurst und Niko Alm definieren ihre Identität selbstständig in eigenen Kategorien, bzw. in Kategorien, in denen niemand von außen Definitionsmacht beansprucht. Bei der orthodoxen Rabbinerin und den katholischen Priesterinnen ist das anders: Sie beziehen sich auf traditionell definierte Strukturen und Identitäten, die auch durch eine Selbstzuschreibung nur bedingt zu unterlaufen sind.

Wobei noch einmal zu unterscheiden ist: Die römisch katholische Kirche hat eine starke hierarchische organisatorische Struktur, die auch Definitionsmacht besitzt bzw. zumindest beansprucht, wer zu ihr gehört und wer nicht. Das ist im Judentum nicht der Fall. Mag im orthodoxen Judentum die Selbstbezeichnung von Rabbinerin Goodman-Thau auch nicht akzeptiert werden, so gibt es dennoch niemand, der es ihr verwehren könnte, sich so zu bezeichnen, geschweige aus ihrer Religionsgemeinschaft auszuschließen.

So auch bei Messianischen Juden. Sie sehen sich selbst als Teil der jüdischen Welt. Auch wenn die Mehrheit im Judentum das nicht akzeptieren kann, eine Macht zu Sanktionen hat diese nicht.

Fazit 1: Es ist durchaus möglich, dass jemand im Judentum sich als jesusgläubig bezeichnet und sich weiterhin als Jude versteht. Für die Frage dieses Aufsatzes gibt das einen Punkt zugunsten von „Ja“.


Biblische Annäherung

In diesem Abschnitt geht es nicht darum, mit neutestamentlichen Zitaten zu beweisen, wie jüdisch die frühen Gemeinschaften der Anhängerschaft Jesu waren. Vielmehr müssen wir uns die grundsätzlichen hermeneutischen Fragen stellen: Was beweist ein Bibelvers? Warum wähle ich heute diesen Vers aus, nicht einen anderen? Was ist meine Absicht, diesen so oder so zu verstehen? Warum halte ich gerade diese Aussage für normativ?

Wie jüdisch Jesus war und wie jüdisch die frühen Gemeinden, wird durchaus diskutiert. Während etwa Daniel Boyarin uns zeigen will, dass nicht nur der irdische Jesus, sondern auch der erhöhte Christus ganz aus dem jüdischen Umfeld seiner Epoche zu verstehen sei17 , meint Jacob Neusner, der Jude Jesus gehe in seiner Verkündigung über das hinaus, was im Rahmen des Judentums denkbar wäre und Joseph Ratzinger geht darin im ersten Band seiner Jesus-Trilogie mit ihm konform. 18

Christoph Schönborn hat 2008 in der englischen katholischen Wochenzeitung The Tablet einen Beitrag veröffentlicht: „Judaism’s Way to Salvation“ – Der Weg der Juden zum Heil.19  Darin versucht er, „ganz schlicht, das neutestamentliche Zeugnis zu befragen“ und stellt dabei fest:

Angesichts der verschiedenen Formen des religiösen Zwangs, denen die Juden im Verlauf der Geschichte der Christenheit ausgesetzt waren und für die die Kirche um Vergebung gebeten hat, bedeutet dies, dass die Christen in unwiderruflicher Weise auf alle Formen des Proselytismus gegenüber den Juden verzichten. 20

Dennoch kommt Schönborn zum Schluss:

Mit dem Gebet, der Hingabe des Lebens, der absichtslosen Nächstenliebe und vor allem mit der Anerkennung der religiösen Identität der Juden müssen die Jünger Jesu die „Liebe des Volkes“ (Apostelgeschichte 2,47) erwerben, damit ihr von Respekt und Demut getragenes Glaubenszeugnis für Christus von den Juden als Vollendung und nicht als Verneinung der Verheißung angenommen werden kann, deren Träger sie sind.

Auch Klaus Berger kommt bei seiner biblischen Beurteilung des Messianischen Judentums zum Ergebnis:

Deshalb kommt die Heilsgeschichte aus meiner Sicht nur durch messianische Juden wirklich voran. Sie können dieses Grunderfordernis vorbereiten, dass sich Juden zu Christus bekennen und bekehren. 21

Das ist aus meiner Sicht die Gefahr, wenn wir das neutestamentliche Zeugnis befragen: Einerseits finden wir historisch eine Anhängerschaft Jesu, die jüdisch war und jüdisch lebte (teilweise ja sogar bis ins vierte Jahrhundert), andererseits ist dieser Befund immer auch mit einem Missionsauftrag unter Jüdinnen und Juden verbunden – wo denn sonst, wenn wir in die Evangelien schauen? Hier müssen wir fragen: Lässt sich das Eine vom Anderen trennen, Jesusgläubige mit jüdischer Identität von einer aktiven Mission unter Jüdinnen und Juden? „Toward Jerusalem Council II“ sagt nichts zu diesem zweiten Aspekt, andere Gemeinden Messianischer Juden suchen diesen sogar bewusst. 22 

Zwischen Judentum und Christentum heute stehen 1900 Jahre Geschichte. Judentum und Christentum sind unterschiedliche Identitäten geworden und insbesondere die schändliche Geschichte des Christentums gegenüber dem Judentum verbietet es, dass die Kirchen sich als bessere religiöse Alternative zur Synagoge präsentieren. Nicht nur, dass Judentum und Christenheit sich auseinander entwickelt haben, auch in sich selbst sind sie je anders als zur Zeitenwende geworden. Es dürfen heute nicht nur mehr galiläische Fischer das Leitungsamt in Rom ausüben, Vorsteher dürfen auch weite Gewänder anhaben, sich mit Vater anreden lassen und man darf Geld besitzen und schwören. Die Kirchen haben ihre jüdische Seite verloren. War das nur ein Schaden, oder nicht auch ein Zeichen der Zeit? Die Kirchen sind nun dabei, diesen Anteil wieder neu für sich zu entdecken. Muss das aber in der Restaurierung eines vermeintlichen Urzustands geschehen?

Das Neue Testament ist Quelle und Leitlinie für unsere Nachfolge Christi. Aber sein Zeugnis braucht die Übersetzung in die Zeit. Die Entwicklungen der Zeit sind gestaltbar und veränderbar, doch stehen wir inmitten der historischen Traditionen und können sie nicht ohneweiters überwinden. Wenn auch Judentum und Christentum einander im Messianismus von Chabad sehr nahe kommen, so stellt Deborah Weissman fest, man könne das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen:

But many centuries later, the two groups have developed their own distinct religious cultures, and I would say that the mainstream Jewish position is that one cannot be both a Jew and a Christian. I think that there really isn’t much of a theological difference. It’s mainly a difference of about 1900 years of history.

Und auch für Folker Siegert ist das geschichtlich Gewordene, der Ritus, das eigentlich Trennende:

Wo immer Juden- und Christentum sich trennten und auch heute trennen, liegt es weniger an der Lehre (welche stets auch Brücken bauen konnte), als vielmehr an der Unterschiedlichkeit der Riten. 23

Als Katholik kommt mir das Lehramt meiner Kirche hier entgegen, denn Schriftauslegung geschieht in der katholischen Tradition immer im Zusammenhang mit der „Heiligen Überlieferung“ 24 , also in Verbindung mit dem konkreten geschichtlichen Ort. Im Verhältnis zum Judentum ist diese Überlieferung leider bisweilen eine unheilige gewesen. Die Beschäftigung mit der Geschichte, auch mit der Wirkungsgeschichte von Theologie, hilft, heutige Interpretationen nicht in einem wörtlichen vermeintlich überzeitlichen Fundamentalismus enden zu lassen. „Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt“, sind die Konzilsväter optimistisch und offen für neue Entwicklungen und tiefere Einsichten „im Gang der Jahrhunderte“. 25  Die Kirche schöpft ihre „Gewissheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein“. 26

Das biblische neutestamentliche Zeugnis ist immer eine Quelle, heutige Gewohnheiten und Sichtweisen zu hinterfragen, ob sie noch dem Zeugnis der Verkündigung Jesu entsprechen. Mit Blick auf das Vorbild der frühen Kirche können wir heute durchaus argumentieren, dass Jude sein und Anhängerschaft Jesu vereinbar sein könnten. Zu bedenken ist dabei jedoch, dass die neutestamentlichen Schriften zwar jüdische Verfasser haben, aber heute Bücher der Kirchen sind. Wenn wir dieses Fazit für Christinnen und Christen jüdischer Herkunft treffen, ist das korrekt. Wenn wir aber aus dem Neuen Testament eine normative Aussage für das Judentum heute machen, geht das nicht.

Fazit 2: Für die Fragestellung dieses Aufsatzes würde ich ein Unentschieden geben: Es kommt darauf an, wie wir es interpretieren und wer es interpretiert.


Exkurs über „die Brücke“ oder: Zurück nach Gondwana?

Gestatten Sie mich an dieser Stelle einen Exkurs über ein gern verwendetes Bild: Messianische Juden seien eine Brücke von der Zeit Jesu zum Heute, vom Judentum zum Christentum. Das Bild ist schön, jede und jeder kann sich leicht etwas darunter vorstellen. Aber ist das Bild auch angemessen?

Eine Brücke verbindet unterschiedliche Ufer. Das wird von jüdischen Stimmen verneint. Etwa von Carol Harris-Shapiro: „Both ends of the supposed bridge are on the Christian shore.” 27  Das meint: Da sie an Jesus glauben, seien Messianische Juden von vornherein keine Juden mehr. Diese Kritik meint wohl: Eine Brücke müsse neutral sein, nicht schon von einer Seite besetzt. Anders sieht das Klaus Berger – ohne freilich das Wort Brücke zu verwenden:

Ohne eine positive Beziehung zu den messianischen Juden fehlt der Kirche das entscheidende Mittelglied, die entscheidende Verbindung zu Israel. Eine solche Verbindung ist aber notwendig, denn wir bekommen das Heil nicht ohne Israel.28

Lassen Sie mich andere Bilder verwenden. Nicht, weil ich glaube, dass diese treffender seien. Sondern ich will, dass unsere Gedanken und Analysefähigkeit nicht von dem einen emotional ansprechenden Bild gefangen genommen werden. Ich will zeigen, dass es auch Alternativen gibt und uns befragen, ob ein anderes Bild uns auch zu anderen Schlüssen kommen lässt.

Die Kontinente Europa und Nordamerika waren einmal beisammen, ebenso Afrika und Südamerika. Heute gibt es vielfältige Verbindungen, Brücken, zwischen den Erdteilen: Kommunikation, Medien, persönlichen Austausch. Ist das deswegen, weil wir den Urzustand von Gondwana und Laurasia wieder herstellen wollen, oder hat das heute eine ganz andere Qualität, unabhängig davon?

Die Religionswissenschaft charakterisiert heute das Verhältnis von Judentum und Christentum bisweilen als eineiige Zwillinge: Beide hätten in derselben Epoche aus demselben Traditionsschatz geschöpft und sich später getrennt entwickelt, wenn auch nicht unbeeinflusst voneinander. Die Beziehungen, die die Zwillinge heute, da sie erwachsen sind, pflegen sind anders, als sie einst miteinander im Mutterleib der Antike hatten. Ist es ein Ziel, diese Phase wieder zu reaktivieren, dorthin zurückzukehren? Während die Wanderer zwischen den Kontinenten durchaus Elemente beider Kulturen annehmen können, bleiben die Zwillinge stets klar unterschieden.

Darüber hinaus: Normalerweise lässt man sich auf einer Brücke nicht dauerhaft nieder, sondern wohnt auf der einen oder auf der anderen Seite. Aber das sieht auch Klaus Berger so, dass messianische Juden „zwischen allen Stühlen“ sitzen. 29




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Rechtliche Perspektiven

Die Frage, ob ein Jude gleichzeitig Christ sein kann, wird bei der Einwanderung nach Israel schlagend. Jede Jüdin, jeder Jude hat das Recht, als Bürgerin und Bürger des Staates Israel anerkannt zu werden, sobald sie oder er israelischen Boden betritt.
'
Das Rückkehrgesetz (1950) garantiert allen Juden, wo immer sie auch leben, das Recht, als Oleh (jüdischer Einwanderer) nach Israel zu kommen und israelischer Staatsbürger zu werden.
Im Zusammenhang des Gesetzes gilt als „Jude“, wer als Kind einer jüdischen Mutter geboren wurde, oder zum Judentum übergetreten ist und keiner anderen Religion angehört.
Die israelische Staatsangehörigkeit tritt am Ankunftstage im Land oder mit Erhalt des Einwanderungszertifikats zu einem späteren Zeitpunkt in Kraft. Innerhalb von drei Monaten mag der Einwanderer/die Einwanderin erklären, dass er/sie die israelische Staatsangehörigkeit nicht erwerben möchte. 30

Oswald Rufeisen wurde 1922 in Galizien geboren, war in einer zionistischen Jugendgruppe und machte 1939 das Abitur in Bielitz. 31  Ab September 1939 floh er vor den heranrückenden Deutschen und ein einem abenteuerlichen Leben überlebte er die Zeit des Nationalsozialismus. Durch verschiedene gefahrvolle Aktionen hat er jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vor der Vernichtung gerettet. Von November 1943 bis August 1944 war er als Partisan in einer Widerstandstruppe aktiv. Als Oswald Rufeisen 1942/ 43 in einem katholischen Kloster versteckt war, trat er zum Katholizismus über und ließ sich taufen. 1945 trat er in den Karmeliterorden ein, nahm den Ordensnamen Daniel an, studierte Theologe und wurde 1952 zum Priester geweiht.

Als der 1959 von seinem Orden nach Israel geschickt wurde, beantragte er die israelische Staatsbürgerschaft aufgrund des Rückkehrgesetzes. Dies wurde ihm aber verweigert. Das Rückkehrgesetz kennt folgende Ausnahmen für die Verweigerung der Staatsbürgerschaft:

Ein Einwanderungszertifikat kann Personen verweigert werden, die:
1. an einer Handlung gegen das jüdische Volk beteiligt waren;
2. die öffentliche Gesundheit oder Sicherheit des Staates gefährden;
3. eine kriminelle Vergangenheit haben und von denen anzunehmen ist, dass sie das öffentliche Wohl gefährden. 32

Nichts davon traf auf Daniel Rufeisen zu. Rufeisen brachte die Angelegenheit in einer Petition vor den Obersten Gerichtshof. Im Dezember 1962 wurde der Fall verhandelt und der Antrag mit 4:1 Stimmen abgelehnt, auch wenn seine halachische Abstammung von einer jüdischen Mutter unzweifelhaft war und seine Verdienste anerkennend erwähnt wurden:

Als Juden schulden wir dem Antragsteller Oswald Rufeisen tief empfundenen Dank. Als Pater Daniel Rufeisen steht vor den Schranken des Gerichtes jemand, der in der dunkelsten Zeit der europäischen Katastrophe des Judentums unzählige Male sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um in kühnen Aktionen jüdische Brüder der Nazibestie zu entreißen.33

Dennoch wurde festgestellt:

Allen in Israel lebenden Menschen (mit Ausnahme einiger ganz weniger) ist gemeinsam, dass wir uns nicht von unserer geschichtlichen Vergangenheit abschneiden und nicht das Erbe unserer Vorfahren verleugnen.34

Der Übertritt zum Christentum wurde als selbst gesetzte Trennung vom Judentum interpretiert. Nach den Kriterien des Obersten Gerichtshofs in Israel kann ein Jude also kein Christ sein. Die jüdische Orthodoxie würde das wohl auch so sehen: Rufeisen stellt sich außerhalb des Erbes der Vorfahren. 35

Pater Daniel selbst sah seine Position anders: Als Christ und Katholik konnte er durchaus Jude sein. Seine Kirchengemeinde, die Hebräischen Christen, verstand er klar als Teil der katholischen Kirche, wenn auch mit einer besonderen Tradition und Bestimmung. Ihre Mitglieder hatten und haben einen jüdische Herkunft und Identität, die sie auch als Christinnen und Christen bewahren. Individuelle Biografien führten sie hin zum Christentum, keine organisierte Mission. Pater Daniel sagt:

Es geht mir dabei nicht darum, Juden zu taufen, ich möchte nicht als Missionar arbeiten. So habe ich auch in den letzten Jahrzehnten keinen Juden mehr getauft. Ich rate davon ab.36

Daniel Rufeisen erhielt 1963 die israelische Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung. Der Eintrag zur Volksgruppenzugehörigkeit in seinem Pass blieb leer.

Seit 1970 wurde das Immigrationsrecht unter diesem Gesetz erweitert. Es bezieht sich fortan auch auf Kinder und Enkel eines Juden, den Ehepartner eines Kindes eines Juden und den Ehepartner eines Enkels eines Juden. Absicht dieses Zusatzes ist es, die Einheit von Familien zu garantieren, in denen es zu religiös gemischten Ehen kam; er bezieht sich nicht auf Personen, die Juden waren und ihre Religion freiwillig geändert haben.37

Entsprechend wurde 1989 diese Position durch einen Spruch des Obersten Gerichtshofs bestätigt: Messianische Juden seien Angehörige einer anderen Religion und könnten somit nicht über das Rückkehrgesetz Bürgerinnen und Bürger des Staates Israel werden. 38 

So haben wir hier anscheinend Klarheit in der Argumentation. Doch 2008 erhielten Messianische Juden erstmals die Staatsbürgerschaft auf dieser Rechtsgrundlage, weil sie von jüdischen Vätern und Großvätern abstammten.39

Fazit 3: Nach neuester Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in Israel sind Messianische Juden als Juden zu verstehen, die sich aufgrund des Rückkehrgesetzes in Israel niederlassen können. Das gibt einen zweiten Punkt „Ja“ für die Themenstellung.


Die Haltung der jüdischen Gemeinden

In meinem Rundgang durch die Argumente habe ich eine Gruppe noch nicht befragt: die jüdischen Gemeinden selbst. Ich habe keine formelle Umfrage gestartet, aber ich vermute: Wenn ich alle jüdischen Gemeinden in unseren Breiten gleich welcher Richtung frage, ob sie Messianische Juden als Teil der Judenheit sehen, würden alle mit einem klaren Nein antworten, selbst wenn die Halacha auch einen anderen Schluss zuließe.40

In einem gut dokumentierten Wikipedia-Beitrag41  finden sich Argumentationen gegen das Messianische Judentum aus unterschiedlichen Richtungen: Orthodox, Reform, Conservative und Reconstructionist. Der Widerspruch entzündet sich zunächst an der Person Jesu: Jesus ist nicht der Messias, denn Jesus habe die messianischen Verheißungen nicht erfüllt; Jesus entsprach nicht den persönlichen Voraussetzungen des Messias; biblische Verse, die sich auf Jesus beziehen, seien falsch übersetzt und nicht zuletzt beziehe sich der jüdische Glauben auf die Erlösung des Volkes Israel.42 

Weiters wird die Enteignung jüdischer Symbole, Riten und Traditionen beklagt, ohne toraobservant zu sein.43  Und Carol Harris-Shapiro meint:

Den radioaktiven Kern der goyishness zu umarmen – Jesus – vergewaltigt das letzte Tabu des Jude Seins. Der Glauben an Jesus als Messias ist nicht nur einfach ein häretischer Glauben, wie er im ersten Jahrhundert gewesen sein mag; er entspricht einem Akt eines ethnisch-kulturellen Selbstmords.44

Fazit 4: Nach meinen assoziativ und ohne Systematik gewählten Überschriften und Argumentationslinien steht es bislang zwei Mal „Ja“, einmal „Unentschieden“ und nun einmal „Nein“ für die Möglichkeit, dass jüdische Menschen sich gleichzeitig als jesusgläubig und als Juden bezeichnen können.


Schluss – Jenseits der Mathematik

Ich habe Ihnen schon zu Beginn gesagt, dass mein Zahlenexempel keinen statistischen Aussagewert hat, die Punkteentscheidung ist nicht zwingend. Wenn ich die Argumente nach ihrem Gewicht bewerte, schlägt das letzte Argument, die Meinung der jüdischen Gemeinden bei uns, alle anderen, der Joker sozusagen. Christinnen und Christen haben in der Geschichte immer wieder gewusst, was Juden falsch machen und besser gewusst, wie sie zu sein hätten. In diesen und in anderen Fragen ist es heute nicht unsere Aufgabe, uns an internen jüdischen Diskussionen besserwisserisch zu beteiligen.45  Die konkreten jüdischen Gemeinden vor Ort sind, wie sie sind, das habe ich als christliches Gegenüber zu respektieren. Sie definieren, was sie als jüdisch ansehen und was nicht, auch wenn ich weiß, dass noch ganz andere Positionen möglich wären.

Ich möchte das Argument pragmatisch nennen – pragmatisch, weil diese Haltung aus der Praxis und meinem Verständnis des Dialogs und der Zusammenarbeit der Kirchen mit den jüdischen Gemeinden erwächst: Dieses wachsende Pflänzchen gilt es unbedingt zu pflegen und zu schützen. Judenmission ist generell abzulehnen. Es gibt aber einzelne Christinnen und Christen, die aus dem Judentum kommen und ihre Tradition und ihr Judentum in den Kirchen bewusst weiter pflegen. Dies soll von kirchlicher Seite wertgeschätzt und in seiner theologischen Bedeutung reflektiert werden. Wo sich jedoch innerhalb der jüdischen Gemeinden Menschen als Anhänger des Jesus aus Nazareth verstehen, sollten wir respektvoll und zurückhaltend der Beurteilung dieses Phänomens durch die jüdischen Gemeinden folgen.

Hans Hermann Henrix formuliert seine Schlussfolgerungen aus diesem Befund so: Wenn Theologinnen und Theologen

das Dasein der überraschenden Wirklichkeit des gegenwärtigen messianischen Judentums und seine zum Teil sehr respektable Selbstdarstellung wahrnehmen, so werden sie in ihm also nicht den Zielpunkt des christlich-jüdischen Dialogs sehen. Der Dialog von Kirche und Judentum darf nicht von der Heimlichkeit einer solchen Agende beschädigt werden. Die Integrität des Dialogs ist ein hohes Gut und wird dann am ehesten gewahrt, wenn kirchliche Kontakte mit messianischen jesusgläubigen Juden, welche es vereinzelt gibt, nur in der Präsenz und im Dabeisein jüdischer Partner und Partnerinnen des Dialogs geschehen.46

Aber vielleicht ist es zu bescheiden, es einfach als pragmatisches Argument gelten zu lassen. Diese Praxis hat nämlich eine theologische Dimension, ihre ganz eigene Würde, sie ist bedeutsames Handeln vor Gott. Es ist der Kairos, dass die Kirchen und die Christinnen und Christen lernen, verlässlich an der Seite des Judentums zu stehen, nicht an der Seite einer theologischen Größe, nicht an der Seite eines imaginierten folkloristischen Gegenübers sondern an der Seite des Judentums in Gestalt der konkreten Gemeinden vor Ort, unseren Nachbarinnen und Nachbarn.

Das gilt für heute, ganz besonders für unsere Position im Land der Schoa und aus der Einsicht über 1900 Jahren trennender Geschichte. Wohin Gott unsere Gemeinschaften in der Geschichte weiter führen will, das möchte ich vertrauensvoll in seine Hände legen.



ANMERKUNGEN



1 In einer persönlichen Mitteilung an den Autor.
2 Boyarin, Daniel: The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ. Foreword by Jack Miles, The New Press, New York 2012
3 Vgl. Harris-Shapiro, Carol: Messianic Judaism: A Rabbi's Journey through Religious Change in America, Beacon Press, 1999, http://en.wikipedia.org /wiki/Carol_Harris-Shapiro (28.08.2014). Eine Innenansicht auch der religiösen Praxis bietet Pfister, Stefanie: Messianische Juden in Deutschland. Eine historische und religionssoziologische Untersuchung, Dortmunder Beiträge zu Theologie und Religionspädagogik 3, Berlin 2008.
4 Zu entsprechenden Aktivitäten in Deutschland vgl.: Guski, Chaim: Mission Judentum, Wie Evangelikale Zuwanderern ein „neues Heilserlebnis“ vermitteln wollen, in: Jüdische Allgemeine, 19.06.2014, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/19436 (28.08.2014). Weitere Befunde auch bei: Henrix, Hans Hermann: Messianisches Judentum heute. Eine überraschende Wirklichkeit und Irritation im christlich-jüdischen Verhältnis, in: Stimmen der Zeit, Zeitschrift für christliche Kultur 8/ 2011, Herder, Freiburg i.Br., 525ff. Eine eigene Website nimmt sog. messianische jüdische Gemeinden aus Korn und legt kritisch bloß, wo sie in gut gemeintem Eifer das Judentum und jüdische Traditionen verdrehen, missverstehen oder einfach auch nicht Hebräisch können: http://fucknomessianicjews.tumblr.com: Messianic Jews Doing It Wrong. Amusing (and not-so-amusing) examples of cultural appropriation and playacting among Christian “Messianic Jews”.
5 Pfister (2008), 373
6 A.a.O.
7 Vgl. Kessler, Edward: Messianic Jews, in: Kessler, Edward, Wenborn, Neil (Ed.): A Dictionary on Jewish-Christian Relations, Cambridge 2005, 292 f.
8 Corbach, Dieter: Daniel – der Mann aus der Löwengrube. Aus dem Leben von Daniel Oswald Rufeisen, Mit einem Nachwort von Hans Hermann Henrix, Scriba Verlag, 3. erw. Auflage, Köln 2002, 119
9 Steiner, Ruth: Daheim in zwei Religionen. Mein Bekenntnis zum Judentum und zum Christentum, Dom Verlag, Wien 2000
10 Kessler, Messianic Jews, 292. Wikipedia datiert die Entstehung in die 1960er und 70er Jahre: http://en.wikipedia.org/wiki/Messianic_Judaism (08.09.2014)
11 Propper, Felix: „Was wir sind und wünschen. Was wir nicht sind und ablehnen”, in: Der Judenchrist 7, No. 2, 1959, S. 8, http://www.meka.at/main/2011/08/30/felix-propper (07.09.2014)
12 In einem Interview 1959. Zitat zur Verfügung gestellt aus den John M. Oesterreicher papers, 1920-2000, Mss 0053, Monsignor William Noé Field Archives & Special Collections Center, Seton Hall University.
13 A.a.O.
14 http://tjcii.org  (28.08.2014)
15 Zit. in: Byassee, Jason: Can a Jew be Christian?, http://www.religion-online.org/showarticle.asp?title=3241 (28.08.2014)
16 Henrix, Messianisches Judentum, 521f
17 Boyarin, Gospels.
18 Neusner, Jacob: Ein Rabbi spricht mit Jesus. Ein jüdisch-christlicher Dialog, Claudius Verlag, München 1977. Ratzinger, Joseph, Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Erster Teil: Von der Taufe bis zur Verklärung, Herder, Freiburg, Basel, Wien 2007, 94-160
19 The Tablet, London, 29. März 2008
20 Die deutsche Fassung wurde auf http://www.katholisch.at veröffentlicht.
21 Berger, Klaus: Der Missionsauftrag der Kirche für das Judentum, in: Kirche heute, 10/ 2010, 15. Vgl. auch: Schoeman, Roy: Das Heil kommt von den Juden. Gottes Plan für sein Volk. Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2007. Wie Berger spricht auch Schoeman von einer „Bekehrung“ von Juden, eine Wortwahl, die mMn. trotz aller anderen Beteuerung der Hochachtung des Judentums, doch dessen Minderwertigkeit ausdrückt. Pfister (2008), spricht durchgehend von einer „Konversion“ zum Messianischen Judentum. Vgl. lat. Convertere – umkehren: Das Judentum, ein falscher Glaubensweg, von dem man umkehren muss?
22 Vgl. Pfister (2008), 373
23 Siegert, Folker: Das Passa der Johanneschristen, in: Bedenbender, Andreas (Hg.), Judäo-Christentum. Die gemeinsame Wurzel von rabbinischem Judentum und früher Kirche, Evangelische Verlagsanstalt, Bonifatius, Leipzig, Paderborn 2012, 102
24 II. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum 7
25 II. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum 8
26 II. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum 9
27 Zit. in: Byassee, Jason: Can a Jew be Christian?, http://www.religion-online.org/showarticle.asp?title=3241 (28.08.2014)
28 Berger, Missionsauftrag, 17
29 Berger, Missionsauftrag, 17
30 http://embassies.gov.il/berlin/AboutIsrael/Pages/Staatsangeh%C3%B6rigkeit.aspx (28.08.2014)
31 Vgl. zum folgenden: Corbach, Dieter: Daniel – der Mann aus der Löwengrube. Aus dem Leben von Daniel Oswald Rufeisen, Mit einem Nachwort von Hans Hermann Henrix, Scriba Verlag, 3. Erw. Auflage, Köln 2002
32 http://embassies.gov.il/berlin/AboutIsrael/Pages/Staatsangeh%C3%B6rigkeit.aspx (28.08.2014)
33 Corbach, Rufeisen, 114
34 Corbach, Rufeisen, 114
35 Die entsprechende Diskussion im Judentum sei an dieser Stelle nur skizziert: Das Christentum wird nach mehrheitlicher jüdischer Auffassung nicht als Götzendienst angesehen, solange es von Nicht-Juden ausgeübt wird. Denn für die Heiden sind die Vorschriften der Tora ja nicht verbindlich. Christentum ist “schituf” – Beigesellung. „Der Begriff ‚Schituf‘ soll zum Ausdruck bringen, dass nach rabbinischen Maßstäben die Anhänger anderer Religionsgemeinschaften nicht eindeutig als polytheistisch zu bezeichnen sind, man sie jedoch auch nicht zu Monotheisten erklären kann.“ Joel Berger in: Jüdische Allgemeine, 27.02.2014 http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/18490 (01.09.2014) Für einen Juden gilt jedoch ein strengeres Maß und nach einer Tradition verliert er seinen jüdischen Status, wenn er sich zum Christentum bekennt (Rambam, Hil. Avodah Zarah 2:5): “A Jew who worships idolatry is like a non-Jew in all respects.” http://judaism.stackexchange.com/questions/7775/can-a-jew-lose-their-jewish-status (01.09.2014) Konzilianter ist hier eine Auslegung von Chabad: “As Israel is eternal, so your bond with them is irreversible, unbreakable and eternal.” http://www.chabad.org/library/article_cdo/aid/1269075/jewish/Is-a-Jew-Who-Converts-Still-Jewish.htm (03.09.2014) Spätestens seit dem Mittelalter gilt auch ein zu einer anderen Religion Übergetretener weiterhin als Jude und muss daher bei Rückkehr keine „Konversion“ durchmachen. Talmudischer Belegtext dafür ist: bSan 44a: „‘Israel hat gesündigt‘ (Jos 7,11). Es sagte R. Abba bar Zavda, (es sagte Rav): Auch wenn es gesündigt hat, bleibt es Israel.“
36 Corbach, Rufeisen, 112 f
37 http://embassies.gov.il/berlin/AboutIsrael/Pages/Staatsangeh
%C3%B6rigkeit.aspx38 http://www.nytimes.com/1989/12/27/world/israeli-court-rules-jews-for-jesus-cannot-automatically-be-citizens.html (28.08.2014)
39 http://www.jpost.com/Israel/Court-applies-Law-of-Return-to-Messianic-Jews-because-of-fathers (28.08.2014)
40 Sh. Anm. 28. Vgl. auch: Byassee, Jason: Can a Jew be Christian?, http://www.religion-online.org/showarticle.asp?title=3241 (28.08.2014): If there is anything about which all four branches of Judaism in the U.S. (Orthodox, Conservative, Reform and Reconstructionist) agree, it is that one cannot be both Jewish and Christian at the same time.
41 http://en.wikipedia.org/wiki/Messianic_Judaism (28.08.2014)
42 Vgl: www.aish.com/jw/s/48892792.html (28.08.2014): Simmons, Shraga: Why Jews Don't Believe In Jesus
43 Henrix, Messianisches Judentum, 528. Pfister (2008), 371 stellt die Verwendung jüdischer Symbole jedoch als Empfehlung für das Messianische Judentum dar.
44 Zit. in: http://en.wikipedia.org/wiki/Messianic_Judaism (20.08.2014): “To embrace the radiocative core of goyishness—Jesus—violates the final taboo of Jewishness[.] ... Belief in Jesus as Messiah is not simply a heretical belief, as it may have been in the first century; it has become the equivalent to an act of ethno-cultural suicide.”
45 Etwa wenn Pfister (2008), 374, als Christin überlegt: „Vielleicht kann das messianische Judentum das Judentum in Deutschland beleben.“
46 Henrix, Messianisches Judentum, 529





Der Autor

MARKUS HIMMELBAUER

Dr., geboren 1962 in Braunau am Inn in Österreich, ist seit 1996 Geschäftsführer des österreichischen  "Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit" in Wien. Als Schriftleiter betreut er die Internet-Website www.christenundjuden.org und die Quartalsschrift "Dialog-Du Siach/  christlich-jüdische Informationen".

Himmelbauer studierte katholische Theologie in Salzburg und Fribourg und schloss sein Lizentiatsstudium 1987 in Fribourg mit einer Arbeit zu neutestamentlicher Hermeneutik ab. 1997 promovierte er an der Universität Salzburg mit einer Arbeit zu "Antirassistischer Pädagogik". Er arbeitete in der Flüchtlingsbetreuung, war Gründungsmitglied der "Asylkoordination Österreich" und engagierte sich im ökumenischen  Netzwerk "Kairos Europa". Außerdem ist er Chefredakteur des “Männermagazins ypsilon" der Mitgliederzeitschrift der Katholischen Männerbewegung in Österreich: http://issuu.com/kmboe. Seit 1973 ist er als Kirchenmusiker, Organist und Chorleiter, tätig. Markus Himmelbauer ist darüber hinaus Professor für biblische Fächer an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/ Krems.

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