ONLINE-EXTRA Nr. 227
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Der deutsch-israelische Schriftsteller Chaim Noll ist nicht nur Autor glänzender und stets inspirierender Essays, in denen er sich mit historischen, gesellschaftspolitischen und theologischen Themen befasst, wovon u.a. auch die zahlreichen Beiträge Nolls auf COMPASS zeugen (siehe die Auswahl am Ende dieser Seite). Und Noll ist auch nicht nur ein begnadeter Erzähler, dessen Geschichten und Romane sich durch eine unverwechselbare Sprache und Poesie auszeichnen und dessen Themen stets aus der Mitte israelischer und jüdischer Lebenswelten entspringen. Darüber hinaus und zugleich Grundlage seines essayistischen wie poetischen Werks ist ein Lebenslauf, in dem sich die Grundthemen der deutsch-deutschen, deutsch-jüdischen und deutsch-israelischen Geschichte in besonderer Weise spiegeln. Davon kann man sich nun im ersten Band seiner Autobiographie auf eindrucksvolle Weise selbst ein Bild machen: "Der Schmuggel über die Zeitgrenze".
Martin Jehle, journalistischer Begleiter Chaim Nolls, mit dem er bereits mehrere Interviews gemeinsam geführt hat (und die ebenfalls hier auf COMPASS als Online-Extra Ausgaben publiziert sind), hat über den nun vorliegenden ersten Teil der Autobiographie Nolls für die Jüdische Rundschau (August 2015) eine Rezension verfasst - und sie freundlicher Weise auch COMPASS zur Verfügung gestellt. Als ONLINE-EXTRA Nr. 227 können Sie Martin Jehles Buchvorstellung der Autobiographie Nolls nachfolgend im Originalwortlaut nachlesen.
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Online-Extra Nr. 227
Chaim Noll, regelmäßigen Lesern durch seine Beiträge für die Jüdische Rundschau ein Begriff, hat mit „Der Schmuggel über die Zeitgrenze“ (Verbrecher Verlag, 2015, 486 Seiten) autobiographische Erinnerungen vorgelegt. Noll, der im Juli 61 Jahre alt wurde, lässt darin seine ersten 30 Lebensjahre Revue passieren. Dieser Zeitabschnitt endet mit der Ausreise Nolls aus der DDR in die Bundesrepublik, eine von vielen Zäsuren in seinem Leben.
Als Hans Noll 1954 in Ost-Berlin geboren wächst er in einer staats- und SEDtreuen Familie auf. Sein Vater ist der Schriftsteller Dieter Noll (1927-2008), der seit seinem Anti-Kriegsroman „Die Abenteuer des Werner Holt“ zum offiziellen Literatur-Kanon des per Eigendefinition „Arbeiter- und Bauernstaates“ gehört (selbst in der Sowjetunion war das Buch ein Erfolg).
Der junge Noll wächst privilegiert auf, sowohl in materieller Hinsicht als auch was Zugänge zu Menschen und Möglichkeiten, etwa Reisen in die Sowjetunion, betrifft. Er lässt sich dennoch nicht einnehmen, nicht zum Diener des Systems machen. Mit seinem Talent und der familiären Herkunft hätte er es sich bequem in der DDR einrichten können, als Teil des staatlich getragenen und den Staat tragenden Kunst- und Kulturbetriebes. Zunächst scheint es auch danach auszusehen, dass sein Weg diesen Verlauf nimmt. Noll studiert an der Kunsthochschule Weißensee Malerei, wo sein Schwiegervater Werner Klemke eine Professur hat, wird Mitglied der SED, doch seine Erinnerungen an die DDR enden mit der Ausreise in die Bundesrepublik im Jahr 1984.
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Chaim Noll hat viel zu erzählen, vor allem auch über seine jüdischen Wurzeln und wie es war, in der DDR als Jude leben zu wollen. [...] Fast 500 Seiten Aufarbeitung von DDR-Geschichte(n) ohne Zorn, ohne Eitelkeiten und mit einer klugen Sicht auf die Akten. Die Stasi war auch bei Hans Noll im Einsatz. weitere Infos zum Buch / Bestellmöglichkeit:
Im ersten Band seiner Erinnerungen beschäftigt sich Chaim Noll mit seiner Kindheit im geteilten Berlin. Noll, der vor zwanzig Jahren nach Israel auswanderte und heute in der Wüste Negev lebt, wuchs in Ostberlin auf, als Sohn des bekannten DDR-Schriftstellers Dieter Noll, der zur privilegierten Führungsschicht des Landes gehörte. Noll erzählt Geschichten von Menschen, prominenten und unbekannten, denen er im damaligen Berlin begegnete, und erinnert an die aufregende Geschichte seiner Geburtsstadt, die er noch heute für ihren Überlebenswillen bewundert.
Nolls Erinnerungen sind spannend, zugleich warmherzig erzählt, klar formuliert und frei von Betulichkeit.
Thomas Mayer / Leipziger Volkszeitung
Im Gegensatz zu seinem Vater bekannte sich Noll offen zum Judentum und gibt einen Einblick in das schwierige jüdische Leben in der DDR: Israel galt als Aggressor und kapitalistischer Industriestaat.
Tino Dallmann / MDR FIGARO
Chaim Noll legt mit seinen Erinnerungen eine der besten Autobiographien seit langer Zeit vor. Sie liest sich spannend, ist voller eindrucksvoll geschilderter Erlebnisse und Begegnungen und vermittelt wenig Bekanntes zur deutsch-deutschen Geschichte.
Jörg Raach / genussmaenner.de - Das Online-Magazin
Verbrecher Verlag
Den Weg dorthin erzählt Noll präzise, anektdotenreich und reflektierend: Das Ost-Berlin der 1950er mit Schutthaufen im Straßenbild, ausgebrannten Hinterhöfen und Luftschutzbunkern, in denen immer noch Leichen gefunden werden. Der im Verborgenen liegenden jüdischen Herkunft seiner Familie spürt Noll nach, das Misstrauen seiner Eltern gegenüber ihrer Umwelt bei gleichzeitigem Bekenntnis zum neuen, „antifaschistischen“ Staat entgeht der kindlichen Psyche nicht. Verfolgung und Benachteiligungen in der NS-Zeit wirken hier nach, auch wenn sich die Großeltern Nolls mit Hilfe von Zufall und Geschick bis Kriegsende retten konnten. In der Familie ist dieses Kapitel tabu, den jungen Hans interessiert es dafür umso mehr. Noll gelingt es, Eindrücke und Stimmungen authentisch wiederzugeben und ein Gefühl für die Zeit zu vermitteln. Die kleinen jüdischen Gemeinden in der DDR, die Ende der 1940er Jahre und 1950er Jahre einen Großteil ihrer Mitglieder durch Flucht in den Westen verlieren, fristen ein Schattendasein. Zwar sind im Staatsapparat nicht wenige Menschen mit jüdischer Herkunft zu finden, von denen aber viele ihr Jüdischsein zugunsten der kommunistischen Sache als ein überwundenes Kapitel betrachten. Das Milieu der Re- Immigranten und jüdisch-kommunistischer Funktionäre ist keine Basis für eine Wiederbelebung jüdischen Lebens in der DDR. Der Staat hat auch kein Interesse daran. Noll schreibt in seinen Nachwort zum Umgang mit Juden in der DDR das Folgende: „(…) das schattenhafte Dasein der Juden in der DDR, ihre Überwachung, ihr von der Partei verordnetes Aussterben. Ein weiterer Versuch, jüdisches Leben zu verhindern. Ein stilles, verschwiegenes Geschehen, das die meisten Deutschen kaum bemerkt haben, weder im Osten noch im Westen. Inmitten ständiger Beteuerungen vom Antifaschismus, vom Neubeginn, von der „Überwindung der Vergangenheit“ wurde ein weiteres Mal eine jüdische Bevölkerung in Deutschland dezimiert. Nicht, indem man die einzelnen Exemplare umbrachte, wie es die Nazis getan hatten, sondern indem man die Gemeinschaft als solche am Fortleben hinderte, jeden Nachwuchs unterdrückte, sie aussterben ließ. Ein vom Vergessen bedrohtes Detail deutscher und jüdischer Geschichte, von dem ich denke, es sollte festgehalten werden.“
Die Schilderungen Nolls sind Innenansichten aus dem Milieu seiner Herkunft, der DDR-Kulturelite. Sie zeigen, wie sich Noll als junger Mann von diesen Kreisen innerlich entfremdet und schließlich ganz abwendet, seinen eigenen Weg geht, gegen Widerstände und um den Preis seiner sozialen und bürgerlichen Einbettung in der DDR-Oberschicht. Er nimmt den Bruch mit seinem prominenten und staatstreuen Vater in Kauf, für den die Entwicklung des eigenen Sohns Enttäuschung und Ansehensverlust bedeuten. Mehr als ein Jahrzehnt haben er und sein Vater deshalb überhaupt keinen persönlichen Kontakt. Die Vorgeschichte und die Umstände der Ausreise aus der DDR stellt Noll in seinen Einzelheiten dar: Wehrdienstverweigerung, psychiatrische Behandlungen, Behörden- und Spießrutengänge, das Abwenden von Menschen, aber auch manche heimliche, unerwartete Solidaritätsbekundung.
Das Buch ist gespickt mit zahlreichen detailreich erinnerten Geschichten, Begegnungen, Begebenheiten, Auftritten von Personen aus der DDR-Öffentlichkeit, aber auch unbekannten Zeitgenossen. Noll ist ein genauer Chronist, der viele Dialoge wiedergibt, wohl basierend auf Tagebuchaufzeichnungen, der die Brille und Sichtweise seiner Jugend aufsetzt und mit Wertungen aus der Distanz von heute verknüpft. Dabei gelangt er zu positiven aber auch unschmeichelhaften Urteilen, wie in der Passage über seine Schriftsteller-Kollegin Monika Maron: „Monika war die Stieftochter des früheren DDR-Innenministers, der nach dem Krieg aus Moskau gekommen war, als Mitglied der ‚Gruppe Ullbricht‘, sie lebte in dessen Villa in Pankow und kannte ‚alle Welt‘. Als wir zusammen Wodka tranken, machte sie abfällige Bemerkungen über die DDR und den hiesigen Sozialismus, doch ich hatte das Gefühl, besser nicht darauf einzugehen. Agi warnte mich vor ihr, indirekt, indem sie sich, als sie von Monikas Besuchen in meiner Wohnung erfuhr, über meine ‚Naivität‘ lustige machte, mit jedermann offen zu reden. (…) Spätere Enthüllungen über Monikas Zusammenarbeit mit der Stasi haben mich nicht wirklich erstaunt. War sie eine der anonymen Quellen, die in meiner ‚Stasi-Akte‘ zitiert werden?“
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In einem Appendix geht Noll unter der Überschrift „Meine Akte, ein Spiegelbild“ auf die Bespitzelung durch die Stasi ein. In das umfangreiche Aktenmaterial hat Noll einmal, 1992, Einsicht genommen, in der „Zentralstelle“ des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg. Die Akte ist die Chronik von Nolls Weg zum Außenseiter in der DDR, ein Zeitdokument, in der er sich unverhofft als Kind und jungem Mann (wieder-)begegnet ist. Viel Belangloses, viel Gerede findet sich darin, mehrere Abteilungen, diverse Quellen, offizielle und inoffizielle, haben sich mit ihm befasst, die Einschätzungen von Kurt Hager, Sekretär des Zentralkomitee für Kultur, finden ihren Weg gar zu Erich Honecker. Für Noll zeigt sich in den Akten der Stasi allgemein ein deutsches Phänomen, nämlich „die Sucht, möglichst gründlich vorzugehen, möglichst alles über diese vielen Personen in Erfahrung zu bringen, und den ungeheuren Fundus der gesammelten Nachrede, einen Vorrat an geheimen Möglichkeiten, buchhalterisch festzuhalten und zu verwalten.“ Historisch gesehen sei das nichts Besonderes, außer die Menge des aufgehäuften Materials, die Folge der hohen Zahl der observierten Personen war, meint Noll. Für eine Bewertung der Spitzel, Zuträger und Denunzianten nimmt Noll Bezug auf die jüdische Tradition: „Es liegt in der Natur des Vorgangs, dass die Sichtweise, die Perspektive unter der beobachtet wird, keine gutwillige ist. In der jüdischen Tradition nennt man diese Art, einen Menschen zu sehen, ejn ha ra, das böse Auge. Unter den ersten Segen, die ein gläubiger Jude jeden Morgen beten soll, findet sich die Bitte, von der Nachforschung und Nachrede ‚böser Nachbarn‘ verschont zu bleiben. Er weist daraufhin, dass Stasi-Akten mit Vorsicht zu ‚genießen‘ seien, sie keine endgültigen Antworten auf offene Fragen geben und Grund für Fehldeutungen sein können zeigt: „Um Stasi-Akten verstehen und deuten zu können, muss man den Staat kennen, in dem sie entstanden sind. Da es diesen Staat seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gibt, schrumpft die Zahl der kundigen Leser jeden Tag. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen und Missbrauch des Materials.“
Die Erinnerungen enden im Mai 1984 mit seiner Ausreise in die Bundesrepublik. Ein Jahr später erscheint im Westen mit „Der Abschied. Journal meiner Ausreise aus der DDR“ eine Art Tagebuch seines Weggangs aus der DDR, das zum Beststeller wird und Noll in der Bundesrepublik bekannt macht. Der Titel seiner Erinnerungen ist vielleichte eine Anspielung darauf. Das Manuskript für „Der Abschied“ entstand noch in der DDR und wurde von Noll in den Westen „geschmuggelt“, sozusagen über die Mauer, die „Zeitgrenze“. Die folgenden 25 Jahre werden nicht weniger ereignisreich verlaufen. Noll setzt sich Anfang der 1990er Jahre kritisch mit dem wiedervereinigten Deutschland auseinander („Nachtgedanken über Deutschland“, 1992), zieht Anfang der 1990er Jahre erst nach Italien („Leben ohne Deutschland“, 1995), bevor er nach Israel geht, wo er eine neue Heimat findet. Bis heute veröffentlicht Noll in deutscher Sprache, in den letzten Jahren unter anderen die Romane „Die Synagoge“ und „Der Kithara-Spieler“. Bekannt ist er in den letzten Jahren auch mit Aufsätzen zu aktuellen Themen geworden, etwa zu islamischem Fundamentalismus und Antisemitismus. Es bleibt anzunehmen und – aus Sicht des Verfassers – auch zu hoffen, dass Noll in den nächsten Jahren einen zweiten Teil seiner Autobiographie vorlegen wird.
CHAIM NOLL
ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der Akademie der Künste. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löst sich aus seinen Bindungen an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zieht. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller.
Von 1992 bis 1995 lebt er in Rom und geht von dort nach Israel, wo er 1998 eingebürgert wird. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays.
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Texte von CHAIM NOLL auf COMPASS (Auswahl):
DER AUTOR
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Martin Jehle, geb. 1982 in Berlin, Rechtsanwalt, gelegentliche journalistische Tätigkeit.
Kontakt zu Martin Jehle und/oder COMPASS:
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