Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 34

Juli 2006

Nachfologender Beitrag basiert auf einem Vortrag, den Konrad Weiß am 12. Juli 2006 in der Begegnungsstätte "Kleine Synagoge" in Erfurt hielt.

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!


© 2006 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 34


Antisemitismus und Israelfeindschaft in der DDR

Nicht nur ein historisches Thema.


KONRAD WEISS


In der DDR war der Antifaschismus Staatsdoktrin. Die DDR definierte sich selbst entschieden als antifaschistisch. Aber war die DDR wirklich ein antifaschistischer Staat?

Nach der Wiedervereinigung ist das Wort vom verordneten Antifaschismus in Mode gekommen. Ich halte nichts davon, denn er war zu Beginn im Osten nicht mehr und nicht weniger verordnet als in Westdeutschland. Hier wie dort waren es einzelne mutige Männer und Frauen, die von sich mit Recht sagen durften: Ich habe gegen den Nationalsozialismus gekämpft. Die Mehrheit der Deutschen war mitmarschiert, hatte geschwiegen, geduldet.

Diese Mehrheit war im Mai 1945 erwacht wie aus einem bösen Traum. Erst die Zerstörung des Landes, die Millionen Toten, die Bilder aus den Vernichtungslagern, haben vielen die Augen geöffnet. Im Westen wie im Osten wurde der Wille lebendig, ein besseres Land aufzubauen. Das hat nach der Befreiung den Menschen die Kraft gegeben, neu zu leben, neu zu handeln, neu zu denken. Viele haben sich von dem gelöst, was bisher für sie galt, haben sich gewandelt, sind aus Mitläufern der Nazis und Mittätern zu Antifaschisten geworden. Das muß niemand als verordnet diffamieren.

Aber zur Wahrheit gehört auch, daß es dabei Defizite gegeben hat, mit denen wir uns bis heute herumzuschlagen haben: Die furchtbare Schuld wurde verdrängt und kleingeschwiegen. Reste der braunen Ideologie westen im Unterbewußten fort. Die totalitären, antidemokratischen Wurzeln des Systems wurden nicht wirklich erkannt und ausgemerzt. Täter entgingen der Strafe oder fanden heimlichen Unterschlupf, und nicht wenige wurden wiederum zu erpreßbaren, willfährigen Werkzeugen. Das alles war so im Osten und im Westen.

In der sowjetisch besetzten Zone und später in der DDR aber kam hinzu, daß die Siegermacht wiederum ein totalitäres System installiert hatte, das nicht minder menschenfeindlich und undemokratisch war als das eben überwundene. Der Stalinismus in der DDR hat wirklichen Antifaschismus unmöglich gemacht. Tapfere Antifaschisten, die eben den Konzentrationslagern entkommen waren, wurden feige Büttel des neuen Systems, wurden zu Schergen, zu Verrätern ihrer Ideale. Ich zweifele nicht daran, daß viele im guten Glauben gehandelt und erst im stalinschen, dann im realen Sozialismus tatsächlich die Alternative gesehen haben. Objektiv aber haben sie daran mitgewirkt, Freiheit, Demokratie und Menschlichkeit zu verhindern und zerstören. Deshalb war das in der DDR ein gebrochener Antifaschismus. Gebrochen, wie man sein Wort bricht. Gebrochen, wie Ideale zerbrechen.

Das wird kaum in einem anderen Bereich so deutlich wie an der Feindschaft der DDR zu Israel und am Antisemitismus der SED: Deutsche haben nach Auschwitz wiederum Juden verfolgt und aus dem Land getrieben, haben sich mit den blutigen Feinden Israels solidarisiert und ihnen Geld, Waffen und brüderliche Hilfe für den Kampf gegen die Überlebenden der Shoah gegeben. Das ist eines der furchtbarsten Kapitel in vierzig Jahren DDR. Nein, diese DDR war kein antifaschistischer Staat, die SED keine antifaschistische Partei. Denn kann es Antifaschismus geben, der antisemitisch ist? Ist eine Gesellschaft antifaschistisch, die den Überlebenden der Shoah das Lebensrecht abspricht und die Solidarität verweigert? Ist ein Land antifaschistisch, in dem es jahrzehntelang Regierungspolitik war, alles Jüdische totzuschweigen: jüdische Religion und Kultur, jüdische Geschichte und Tradition, die Leistung von Juden in der deutschen Geschichte?

Im Frühjahr 1980 arbeitete ich mit dem Schriftsteller Walther Petri an einem Film über das Tagebuch des Dawid Rubinowicz, einem jüdischen Jungen aus Polen, der 1942 in Treblinka umgekommen ist. Wir wollten diesen Dokumentarfilm für Kinder drehen, weil damals, Ende der siebziger Jahre, die ersten Anzeichen für einen neuen Rechtsradikalismus in der DDR sichtbar wurden. Erst bei der Arbeit wurde uns bewußt, daß eine ganze Generation ohne alles Wissen über Juden und Judentum aufgewachsen war. Die antifaschistische Erziehung war erstarrt, formalisiert, kalt, entfremdet; die Besuche der Gedenkstätten waren ungeliebte Pflichtübungen, die mehr schadeten als nutzten. Der Nationalsozialismus war für diese Generation eine Schulbuchwahrheit, die mit dem eigenen Leben nichts zu tun hatte. Und: Israel war für sie ein feindliches Land.

Ein halbes Jahr haben wir um unseren Film gekämpft. Ein Argument gegen den Film war, daß er Sympathie für das Judenkind Dawid wecken könnte und damit Sympathie für Israel. Ein anderes, daß wir ihm keinen "optimistischen" Schluß gegeben hatten, sondern ihn mit einem Kaddisch, der jüdischen Totenklage, mit dem Gefühl der Trauer über die Opfer der Shoah ausklingen ließen. Und schließlich, daß wir vom jüdischen Volk gesprochen hatten. Nach der herrschenden Doktrin in der DDR gab es kein jüdisches Volk. Selbst das Wort Jude vermied man. In einem Szenarium zu dem Film, das ich nach Prüfung durch irgendeine staatliche Stelle zurückerhalten hatte, war das Wort Jude oder jüdisch, jedes Mal, wenn es vorkam, rot unterstrichen worden. Die übliche Umschreibung war "jüdische Mitbürger" oder "Bürger jüdischer Herkunft" - also eine zugleich ausgrenzende und diffamierende Bezeichnung, so als könnte ein Jude nicht ganz selbstverständlich Deutscher sein. Auch Israel war nicht etwa der jüdische Staat oder der Staat der Juden, sondern ein, so wörtlich, "zionistisches Gebilde". So entlarvend können Begriffe sein. Der Antizionismus der Realsozialisten war in Wahrheit Antisemitismus.

Bei der Arbeit zum Film Dawids Tagebuch und zehn Jahre später am Film über Janusz Korczak Ich bin klein aber wichtig haben wir eng mit dem Jüdischen Historischen Institut zusammengearbeitet. Der damalige Direktor, Dr. Zymunt Hoffman, hatte es Walther Petri und mir ermöglicht, mit den Originalen der Archivalien zu arbeiten. Wir konnten also die Fotografien von jüdischen Familien aus Polen oder Dokumente aus dem Warschauer Ghetto im Original in die Hand nehmen. Diese Unmittelbarkeit ist bei einer solchen Arbeit sehr wichtig, daß man es also nicht nur mit Kopien zu tun hat, sondern daß Geschichte im wahrsten Sinne der Wortes begreifbar wird.

Ebenso wichtig war es für uns, die originalen Orte aufzusuchen, etwa das Dom Sierot, das Waisenhaus Korczaks in der Krochmalna. Oder die Straßen des ehemaligen Warschauer Ghettos abzugehen. Dort war ja alles bis auf die Grundmauern niedergebrannt und zerstört worden, in den Straßen erinnert eigentlich nichts mehr an das Judenviertel. Nur die Straßennamen sind geblieben, der Weg, den Korczak mit den Kindern gegangen war: Sliska, Sosnowa, Twarda, die Zamenhofstraße und auf dem Gemüsemarkt Slawkistraße dann der "Umschlagplatz". Auch auf einem solchen Weg ist die Unmittelbarkeit von Geschichte spürbar.

Von einer solchen Art und Weise, sich Geschichte anzueignen, hielt die SED nichts. Sie wollte, daß die von ihr dogmatisch festgelegte Sichtweise ohne Fragen übernommen wird. Durch ihr Schweigen über alles Jüdische, über jüdische Religion, Geschichte, Tradition und Kultur, durch ihren Haß gegen Israel machte sich die DDR zum Vollender des Holocausts: Ein jüdisches Volk, einen jüdischen Staat, jüdisches Leben sollte es nach dem Willen der SED nicht geben. Ein paar hundert Juden in den aussterbenden Gemeinden wurden als Alibi geduldet, mehr sollte nicht sein.

In der angeblich "wissenschaftlichen" Weltanschauung der Marxisten war kein Raum für Schuld, Reue und Sühne. Das schreckliche Versagen der Deutschen wurde mit dem simplen Einmaleins der Klassenlehre anonymisiert: Der Faschismus, so die gängige Lehrmeinung, war die aggressivste Ausprägung des Kapitalismus, der Antisemitismus diente "der Ablenkung der Massen von der Ausbeuterpolitik der herrschenden Klasse". Das Dogma ersparte die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld. Für die SED war der Zionismus, getreu der antiquierten Analyse Lenins, "eine nationalistische Bewegung der internationalen jüdischen Bourgeoisie und allein dazu da, das jüdische Proletariat vom Klassenkampf abzuhalten."1  Dieses Theorem galt bis zuletzt.

1980 erschien ein Reisebericht über Israel, Reise ins gelobte Land von Walter Kaufmann, wahrscheinlich das einzige Buch, das zu DDR-Zeiten ein wenig freundlicher aus Israel berichtete. Aber selbst das war den SED-Zensoren suspekt. Also mußte dem Buch ein Vorwort vorangestellt werden, ein übliches Verfahren übrigens, um nicht genehme Texte ideologisch zurechtzurücken. In diesem Vorwort von A. Jörgensen heißt es:


"Mehr als die Bourgeoisie anderer Länder hat die israelische ihre ideologischen und politischen Hebel zur Steuerung des Grundwiderspruchs dieser in Israel entstandenen, heute bereits monopolkapitalistischen Gesellschaft mit dem bürgerlichen Nationalismus verzahnt, der dort die Gestalt des Zionismus trägt. Damit die jüdischen Arbeiter den Gegensatz der Klassen im Innern der Nation nicht erkennen, (...) zeichneten Bourgeoisie und rechte Opportunisten mit Hilfe des Zionismus, den sie als die 'nationale Befreiungsbewegung der Juden' darstellten, den jüdischen Arbeitern, dem Mann auf der Straße, über Jahrzehnte hinweg ein falsches Weltbild. Zu Hauptfeinden 'der Juden' machten sie eine Zeitlang 'die Deutschen' - gleichgültig ob Antifaschisten oder Faschisten -, vor allem aber 'die Araber'."2 


Ich habe dieses marxistische Kauderwelsch so ausführlich zitiert, weil diese Sprache den Ungeist offenbart, der in der DDR herrschte und in dem die Mehrzahl der DDR-Bürger erzogen worden sind. Man sollte die noch immer fortdauernde Wirkung einer solchen ideologischen Indoktrination nicht unterschätzen; bis heute wirkt ein latenter Antizionismus und Antisemitismus bei vielen Ostdeutschen fort.

Da blieb kein Raum für das reale Israel, womöglich gar für Sympathie mit dem jüdischen Staat. Dabei war in der Sowjetischen Zone die Gründung Israels zunächst durchaus begrüßt worden. Der jüdische Historiker Helmut Eschwege beschreibt in seinen Lebenserinnerungen3, daß aus Anlaß der Unabhängigkeitserklärung Israels von der Jüdischen Gemeinde in Dresden eine Feierstunde gestaltet wurde, an der auch Vertreter der Landesleitung der SED teilgenommen haben. Wilhelm Pieck, damals Vorsitzender der SED, begrüßte den Beschluß der Vereinten Nationen, Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat zu teilen. Die SED betrachte die Schaffung eines jüdischen Staates als einen wesentlichen Beitrag, um Menschen, denen der Hitlerfaschismus die schwersten Leiden zufügte, den Aufbau eines neuen Lebens zu ermöglichen. In einer Mitteilung des SED-Pressedienstes vom 8. Mai 1948 heißt es noch:


"Seit Monaten waren bereits heftige Kämpfe zwischen den Kräften der Haganah und der Arabischen Legion im Gange, die weitere 2400 Todesopfer und 5100 Verletzte kosteten. Der Jewish Agency und der Haganah blieb infolgedessen keine andere Alternative, als entweder vor der Arabischen Legion, die vorwiegend aus faschistischen Elementen zahlreicher Nationalitäten zusammengesetzt ist und die zum Teil unter der Führung von deutschen SS-Leuten der Rommel-Armee steht, zu kapitulieren oder alles daran zu setzen, um die Teilung Palästinas und damit den Beschluß aus eigener Kraft durchzuführen. (...) Der erste Schritt dazu war die Bildung einer Regierung des jüdischen Staates, die am 4. Mai 1948 erfolgte. Zum erstenmal trat nach nunmehr 2000 Jahren das Kabinett einer jüdischen nationalen Regierung zusammen."4


Wie anders klingt das als die dann jahrzehntelang verbreiteten Propagandalügen über Israel! Der Umschwung kam im November 1952 mit dem Slánsky-Prozeß in Prag, einem widerwärtigen stalinistischen Schautribunal. Rudolf Slánsky und weitere 13 Beschuldigte, darunter 11 Juden, wurden als Verräter, Verschwörer und Spione angeklagt und verurteilt. Dieser Prozeß löste auch in der DDR eine Welle der Verfolgung und Demütigung aus. Die Räume der jüdischen Gemeinden wurden durchsucht, Gemeindevorsteher verhört und zahlreiche Juden verhaftet. Sie sollten nach den "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörertum Slánskýs"5, so ein Beschluß des ZK der SED, in ähnlichen Schauprozessen als "Werkzeuge der internationalen Finanzoligarchie" entlarvt und als "Agenten der jüdischen Weltverschwörung" verurteilt werden. Ist das nicht die Sprache Goebbels und Himmlers? Damals flohen etwa 20.000 Juden aus der DDR.

Zu den Opfern gehörte das Mitglied des Politbüros der SED, Paul Merker, dem seine Genossen vorwarfen, daß er sich für die Wiedergutmachung gegenüber den Naziopfern eingesetzt hatte. In jenem ZK-Beschluß heißt es:


"Die Verschiebung von deutschem Volksvermögen forderte er mit den Worten: 'Die Entschädigung des den jüdischen Staatsbürgern zugefügten Schadens erfolgt sowohl an die Rückkehrer wie an diejenigen, die im Ausland bleiben wollen'. Merker fälschte die aus deutschen und ausländischen Arbeitern herausgepreßten Maximalprofite der Monopolkapitalisten in angebliches Eigentum des jüdischen Volkes um".6



KONRAD WEISS

Vortragsangebote




Konrad Weiß


Eine vollständige Liste aller Vortragsangebote mit inhaltlicher Kurzdarstellung können Sie hier als pdf-Datei abrufen:
Konrad Weiss Vorträge
(rechte Maustaste: spreichern unter...)


Auswahl:


- Die alte neue Gefahr. Rechtsradikalismus in der DDR, Rechtsradikalismus heute (auch für Schüler und Jugendliche)

- Jüdische Presse im nationalsozialistischen Deutschland. Ein kaum bekanntes Kapitel der deutschen Mediengeschichte.

- Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz. Vortrag und ggf. Vorführung des Films "Dawids Tagebuch" (auch für Schüler und Jugendliche)

- Lothar Kreyssig – Prophet der Versöhnung. Vortrag und Lesung (auch für Schüler und Jugendliche)

- Meine politische Biographie. Erfahrungen in der DDR – ein Gesprächsangebot (auch für Schüler und Jugendliche)

Weitere Informationen:


Biographie - Bücher - Filme - Lieder - Aktuelles - Archiv
Konrad Weiss Homepage



Das nun entlarvt die SED vollends. Einer Partei, die Bemühungen um die Wiedergutmachung an den Opfern der Shoah als "Verschiebung von deutschem Volksvermögen" bezeichnet, kann es mit der Bemühung, eine antifaschistisch-demokratische Grundordnung in Deutschland zu errichten, nicht sehr ernst gewesen sein. Es ist geradezu tragisch, wie die Opfer des einen totalitären Systems, die Opfer des nationalen Sozialismus, im anderen, dem realen Sozialismus, zu Tätern wurden. Noch heute tut sich ja die Nachfolgepartei der SED, die PDS, schwer, die fatalen Ähnlichkeiten beider totalitärer Systeme wahrzunehmen, geschweige denn, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen.

Die totale Kehrtwendung der SED und die willkürliche Verhaftung vieler Juden führte 1952/1953 zu einem neuerlichen Exodus von Jüdinnen und Juden aus Sachsen und Thüringen, aus Mecklenburg und Sachsen-Anhalt, aus Brandenburg und Ostberlin. Etwa zwanzigtausend Überlebende der Shoah sind damals aus der DDR geflohen. Zurück blieb eine überalterte jüdische Gemeinde, die zuletzt, am Ende der SED-Herrschaft gerade noch 600 Mitglieder zählte.

1967, mit dem Sechs-Tage-Krieg, begann eine neue Hetzkampagne gegen den jüdischen Staat. In einer Stellungnahme des Instituts für Völkerrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin erklärten die Professoren Alfons Steiniger, Bernd Gräfrath und Edith Öser Israel zum "internationalen Rechtsbrecher" und "Aggressorstaat". Obwohl die Schließung der Straße von Tiran durch Ägypten, die Anlaß für den 67iger Krieg war, ganz eindeutig gegen die UN-Konvention über die Hoheitsgewässer und angrenzenden Zonen aus dem Jahr 1958 verstoßen hatte, machten die SED-Völkerrechtler auftragsgemäß Israel zum Schuldigen und behaupteten, daß der Kampf der arabischen Staaten gegen Israel rechtmäßig sei. Diese Stellungnahme der sogenannten Völkerrechtler der Humboldt-Universität wurde am 8. Juni 1967 im Neuen Deutschland und in der übrigen gleichgeschalteten Presse der DDR veröffentlicht. Zusammenfassend heißt es:


"Der Kampf der arabischen Staaten gegen die israelische Aggression und für ihre Souveränität und territoriale Integrität ist rechtmäßig. Der Überfall, zu dem Israel von seinen imperialistischen Verbündeten in Washington und Bonn ermuntert wurde, ist ein flagranter Bruch des Völkerrechts. Das Volk der Deutschen Demokratischen Republik steht solidarisch an der Seite der arabischen Völker, die um ihre nationale Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen."7


Nach diesem banalen Muster wurde fortan immer argumentiert: Israel als Aggressor, die arabischen Staaten als Opfer. In dieses Muster paßt, daß über die zahllosen Terrortakte der Palästinenser gegen Israelis nicht berichtet wurde. Und wenn doch, dann in dürren Worten und keinesfalls mißbilligend, auch wenn die Opfer Kinder in Schulbussen oder unbeteiligte Passanten waren. Es waren ja bloß, nicht anders läßt sich das interpretieren, es waren ja bloß Juden...

Die Medien beschmutzten und verleumdeten Israel wo immer es ging. Da war im CDU-Organ Neue Zeit von "Bonns Blutschuld im Nahen Osten" zu lesen, denn Westdeutschland habe "einen Strom von Waffen und Munition nach Israel gepumpt für mehr als 600 Millionen Mark"8, und so sähe die westdeutsche Wiedergutmachung aus. Die gleiche Zeitung lastete führenden israelischen Politikern an, daß sie nicht Verfolgte des Naziregimes gewesen seien oder aus Deutschland hatten fliehen müssen.9 David Ben Gurion, so das Blatt, habe seinerzeit gar dem Bonner Kanzler die briefliche Versicherung gegeben, daß Israel alles tun werde, damit beim Eichmann-Prozeß nicht das Prestige Deutschlands berührt werde.

In meinem Archiv habe ich aus jenen Tagen ein Gedicht, das ebensogut im Stürmer hätte stehen können. Dieses Gedicht von Rudi Riff, das die Magdeburger Volksstimme, das Bezirksorgan der SED, 1967 druckte, belegt überzeugend den antisemitischen Charakter dieser Partei. Deshalb werde ich es, so unappetitlich es auch ist, hier zitieren. Bitte achten Sie auf die unsägliche Verquickung politischer Aussagen mit religiösen Elementen aus der jüdischen und christlichen Tradition. Allein der Verweis auf Golgatha, auf die Hinrichtungsstätte Jesu, ist in diesem Zusammenhang infam. Die SED stellt sich damit in die üble Tradition des religiösen Antisemitismus:


O Israel!

O Israel! Du hast das Schwert geschliffen
und deine Söhne Raub und Mord gelehrt,
und dreist von fremdem Land Besitz ergriffen
und fremde Taschen wie ein Dieb geleert.

Du hast den Frieden frech ans Kreuz geschlagen,
treibst täglich neue Nägel in sein Fleisch,
und eine Dornenkrone muß er tragen,
weil du ihn stündlich geißelst, Streich auf Streich.

Du wagst es noch als Sieger dich zu spreizen
und pochst dabei auf deine Waffenmacht.
Ja, deine Gönner nicht mit Waffen geizen,
weil sie dich brauchen in der Großen Schlacht,

die zwischen Gut und Böse schon entbrannte,
als erstmals griff das Unrecht zur Gewalt -
du hast's empfunden, als man einst verbannte
dein Volk aus Palästina, jung und alt...

Doch wehe dir, wenn du in blindem Wahne
den Nachbarn drohst mit neuem Golgatha,
wenn du erhebst des Krieges blut'ge Fahne
zu neugeplanter, unheilvoller Tat!

Die Völker dulden keine Sklavenketten.
O hüte dich vor neuem Friedensbruch,
denn kein Jehova wird dich dann erretten
vor der Vergeltung strengem Richterspruch!10


Nicht minder infam war jene Argumentation der SED, die den Juden eine Mitschuld am Holocaust unterstellte. Diese These taucht zuerst 1965 in der offiziösen Zeitschrift Staat und Recht auf, in einem Aufsatz der Staatsrechtler Walter Müller, Ingo Steiner und Horst Westpfahl. Darin heißt es:


"Das verlogene Gerede von einer angeblichen Wiedergutmachung gegenüber den in Israel lebenden jüdischen Menschensoll nur die Tatsache verschleiern, daß der deutsche Militarismus und die für die faschistischen Judenverfolgungen Schuldigen wiederum dazu übergegangen sind, eine jüdische Bevölkerung - und zwar diesmal vor allem die Israels - skrupellos in den Dienst ihrer expansionistischen Ziele zu stellen".11 


Diese These wurde ausgebaut und gehörte fortan zum festen Repertoire des realsozialistischen Antisemitismus. Sie hatte auch praktische Konsequenzen für die jüdischen Verfolgten des Naziregimes, die in der DDR lebten. Sie wurden von der SED als zweitklassige Antifaschisten behandelt, als "Opfer", die eine geringere Unterstützung erhielten als die nichtjüdischen "Kämpfer". Diese Ungleichheit wurde erst 1990 durch die frei gewählte Volkskammer beseitigt. Zugleich aber empörte man sich heuchlerisch über alle, die den Antisemitismus der DDR beim Namen nannten, und machte sie flugs zu "Judenhassern des Nazireiches und den Nazis in Westdeutschland". Deren böswillige Verleumdung sei die Umkehrung aller Werte, erklärte Paul Markowski am 4. Juni 1967 im Sonntagsgespräch des Deutschlandsenders:


"Schließlich haben wir nachgewiesen, daß wir den Antisemitismus auf unserem Territorium mit Stumpf und Stil ausgerottet haben... Man muß auch darauf hinweisen, daß man den Staat Israel nicht identifizieren kann und darf mit den Menschen jüdischer Herkunft, die in allen Ländern der Welt leben. Es gibt in der Welt ungefähr 13 Millionen Menschen jüdischer Herkunft, die nicht in Israel leben, während in Israel 2,2 Millionen jüdische Bewohner ansässig sind."12


So einfach war das...

Während sich seit Beginn der siebziger Jahre im Ergebnis der Entspannungspolitik das internationale Klima allmählich besserte, blieb es zwischen Israel und der DDR frostig. Die Propagandaschlacht gegen den jüdischen Staat tobte bis weit in die achtziger Jahre. Die Medien der DDR schmähten Israel mit immer neuen Verbalinjurien, eine Horrormeldung jagte die andere: Eine Blutspur terroristischer Aktionen ziehe sich durch Israels Weg; es betreibe eine Politik des unverhüllten Raubes und des organisierten staatlichen Terrors; es habe seit Jahrzehnten eine Atmosphäre von Chauvinismus, Verhetzung und Rassismus gezüchtet. Selbst vor dem schrecklichen faschistischen Begriff "Endlösung" schreckte die SED nicht zurück: 1982 schrieb ein Kommentator der Berliner Zeitung, Klaus Wilczynski, Israel wolle die Kampfhandlungen im Libanon "bis zur Endlösung" fortsetzen.13


BEGEGNUNGSSTÄTTE
KLEINE SYNAGOGE

Erfurt



Bau und Nutzungsgeschichte

Die Kleine Synagoge war das erste Gotteshaus der zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach langer Verbannung in Erfurt neu gebildeten jüdischen Gemeinde. Bereits 1817 befand sich an gleicher Stelle ein Wohnhaus "Zur Weinkrause", dass als "Juden-Bethaus" erwähnt wurde. Vorsteher der israelitischen Gemeinde war Dr. Ephraim Salomon Unger, der 1832 das Haus erworben hatte und es zum Zweck der rituellen Nutzung für die in der Stadt ansässigen jüdischen Familien umbauen ließ. Es ist davon auszugehen, dass bereits ein Betsaal vorhanden war, ebenso eine Mikwe (rituelles Tauchbad).

Wegen seines schlechten Bauzustandes musste das ursprüngliche Haus jedoch weitgehend abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden. Die neue, 1840 geweihte Synagoge, ein zweigeschossiger Bau mit klassizistisch geprägter Fassade und Innenausstattung, vereint Betsaal mit Frauenempore, Wohnräume für einen Gemeindeangestellten und eine Mikwe im Kellergeschoss. Bereits einige Jahrzehnte später erwies sich dieses Gebäude als zu klein, und eine „Große Synagoge“ am Kartäuserring wurde errichtet.

1885 erwarb der Kaufmann C. C. Römpler die Kleine Synagoge. Er nutzte das Gebäude als Fasslager für Essenzen und Spirituosen. Von 1918 bis 1993 diente das Gebäude ausschließlich Wohnzwecken. Diesem Umstand ist es wahrscheinlich zu verdanken, dass es den Zerstörungsaktionen der Nationalsozialisten entging.

Rekonstruktion und seit 9. November 1998 Nutzung als Begegnungsstätte.


Begegnungs- und Gedenkstätte
 
Die Kleine Synagoge soll als Stätte der Begegnung, der Bildung, Forschung und Kultur dienen. Insbesondere sieht sie ihre Aufgabe darin, im Wissen um Wesen und Geschichte des Judentums die Begegnung zwischen Juden und Nichtjuden anzuregen und zu fördern. Unabhängig von ihrer ethnischen und sozialen Herkunft, ihrer religiösen und politischen Ausrichtung oder vom Bildungsstand sollen vor allem Jugendliche, Frauen und Männer aller Altersstufen ermutigt werden, Kontakte zu Juden und ihren Repräsentanten, zu Gemeinden, Institutionen, Vereinen, Ausbildungs- und Forschungsstätten im In- und Ausland - insbesondere auch mit Israel – zu knüpfen und zu pflegen.
 
 Die Kleine Synagoge bietet Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramme mit einem breiten Spektrum von Projekten der Forschung, Bildung und Kultur.


Weitere Informationen:
Förderverein Alte & Kleine Synagoge Erfurt e.V.



Es hat aber auch in der DDR Versuche gegeben, dem Antizionismus und Antisemitismus der SED und der Blockparteien entgegenzuwirken. Da für DDR-Bürger die Reisemöglichkeiten überaus beschränkt waren und Reisen nach Israel so gut wie unmöglich waren, konnte sich auch niemand ein Bild vom realen Israel und dem Leben der Juden dort machen. Vor allem den Kirchen ist es zu danken, daß es dennoch Ansätze eines Dialogs mit dem Judentum und alternative Informationen über den Staat Israel gab, über seine religiöse und kulturelle Tradition, über seine politische und wirtschaftliche Entwicklung, über seine Menschen und ihren Alltag. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis hatte für die evangelische Kirche, das Vatikanische Konzil für die katholische ein Umdenken gebracht. Auch die Gruppen für das jüdisch-christliche Gespräch, die es mancherorts gab, haben eine wichtige Aufklärungsarbeit geleistet.

1958 wurde von Lothar Kreyssig die Aktion Sühnezeichen gegründet, ursprünglich noch eine gesamtdeutsche Organisation, die sich die Aussöhnung mit den ehemaligen Feindländern zum Ziel gesetzt hatte. Zuerst in Holland, Norwegen, England und Griechenland, bald auch in Israel arbeiteten junge Freiwillige ein Jahr lang beim Wiederaufbau zerstörter Kirchen und Synagogen und in sozialen Projekten. Jugendlichen aus der DDR war die Teilnahme an der Versöhnungsarbeit auch in Israel verwehrt. Sie fanden andere Formen des Einsatzes, entweder in der DDR oder in den osteuropäischen Staaten. So arbeiteten junge Frauen und Männer der Aktion Sühnezeichen auf jüdischen Friedhöfen, in ehemaligen Konzentrationslagern oder in sozialen Einrichtungen für Behinderte, die von den Nationalsozialisten als lebensunwürdig bezeichnet und vernichtet worden waren.

Die Aktion hat zahlreichen jungen Menschen in der DDR geholfen, sich tätig mit deutscher Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen und mehr und anderes über Judentum und den Staat Israel zu erfahren als in der Schule oder aus den Zeitungen. Es ist kein Zufall, daß viele von ihnen später in den oppositionellen Gruppen und zuletzt in der Bürgerbewegung aktiv geworden sind. Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden in der DDR, so auch der systemkritische Historiker Helmut Eschwege, und zahlreiche Gäste aus Israel haben sich über die Jahrzehnte hin dem Gespräch mit jungen Ostdeutschen in der Aktion Sühnezeichen gestellt. Helmut Eschwege hat bei solchen Veranstaltungen mehrfach auch über die frühen Judenverfolgungen in der DDR gesprochen, etwas, was meines Wissens sonst niemand in der DDR gemacht hat, auch von der jüdischen Gemeinschaft nicht.

Andere Alternativen waren die Arbeitskreise für das christlich-jüdische Gespräch. Auch in der jährlich stattfindenden Woche der Brüderlichkeit bzw. der Friedensdekade wurde das christlich-jüdische bzw. deutsch-israelische Verhältnis immer wieder thematisiert, ebenso in den Evangelischen Akademien und in den Kirchenzeitungen. Diese kirchlichen Einrichtungen leisteten eine wichtige Aufklärungsarbeit. Andere Organisationsformen, zumal außerhalb der Kirchen, waren in der DDR nicht möglich. Die Gründung einer Freundschaftsgesellschaft DDR - Israel etwa wäre ein Staatsverbrechen gewesen; das wurde erst 1990 möglich.

Trotz der feindlichen Haltung des SED-Staates zu Israel entstand eine stattliche Anzahl von Büchern und Filmen zu jüdischen Themen und zur Geschichte der Juden in Deutschland, auch zur Judenverfolgung und Judenvernichtung, der Shoah. Und zuletzt auch einige wenige Arbeiten über Israel. Aber das widerspricht nur scheinbar der These, daß die DDR antizionistisch und antisemitisch gewesen ist. Denn alle diese Arbeiten wurden von engagierten Schriftstellern, Filmemachern und Publizisten in manchmal jahrelangen Kämpfen gegen die Parteilinie, gegen die Zensur und die Kulturbürokratie durchgesetzt.

Der Historiker Helmut Eschwege brauchte acht Jahre, bis seine wichtige Dokumentation Kennzeichen J über die Judenverfolgung des Dritten Reiches gedruckt wurde. Sein Band Die Synagoge in der deutschen Geschichte lag gar von 1967 bis 1980 beim Verlag. Sein großes Werk über die Geschichte der Juden im Gebiet der ehemaligen DDR ist bis heute nicht gedruckt. Zu den wichtigsten Arbeiten über jüdische Themen, die in der DDR erschienen sind, gehört die Biographie Moses Mendelssohns, Herr Moses in Berlin von Heinz Knobloch, die für viele Leser in der DDR zur ersten Berührung mit jüdischen Themen überhaupt wurde. Ähnliches gilt für das Stück von Erwin Sylvanus Korczak und die Kinder, das auch in der DDR aufgeführt worden ist. Ich habe es Anfang der sechziger Jahre in einer eindrücklichen Inszenierung der Städtischen Bühnen in Magdeburg gesehen, mit Walter Bechstein in der Titelrolle. Zum Unterrichtsstoff in der Schule gehörten - jedenfalls zu meiner Schulzeit – Professor Mamlock von Friedrich Wolf, Die Sonnenbrucks von Leon Kruczkowski und natürlich Das Siebte Kreuz von Anna Seghers.

Von den frühen belletristischen Veröffentlichungen sind mir besonders in Erinnerung Das Haus in der Karpfengasse von Ben-gavriel, ein Buch über tschechische Juden und Judenverfolgung, und die Warschauer Karwoche von Jerzy Andrzejewski. Von den Filmen will ich Konrad Wolfs Sterne erwähnen und den Fernsehfilm Die Bilder des Zeugen Schattmann, den Kurt Jung Ahlsen 1972 nach dem Roman von Peter Edel gedreht hat und dem er auch jüdische religiöse Rituale dargestellt hat. Ja, es gab einiges – aber vieles davon konnte, ich will es ausdrücklich wiederholen, nur in jahrelangen Kämpfen gegen die Parteilinie, gegen Zensur und die Kulturbürokratie durchgesetzt werden. Und ich weiß auch, daß noch mehr Schriftsteller, Publizisten und Filmemacher in der DDR an jüdischen Themen gearbeitet haben, ihre Bücher oder Filme aber nicht veröffentlichen durften. Manches davon ist dann nach 1989 erschienen, etwa Regina Scheers Buch Ahawa. Das vergessene Haus über das Schicksal der Juden in der Berliner Auguststraße.

Ein allmählicher Wandel im Verhältnis zu den jüdischen Gemeinden und dann auch zu Israel begann Mitte der achtziger Jahre. Honecker wollte Staatsgast in Washington sein und Kredite aus den USA für die marode Wirtschaft der DDR beschaffen. Daher war er bemüht, die Beziehungen zu den USA zu verbessern. Dagegen erhoben dort die jüdischen Verbände Einspruch. Das nötigte die SED, ihre Politik zu ändern: 1986 wurde auf Veranlassung von Honecker der Friedhof der Addas-Jisroel-Gemeinde wiederhergestellt. 1987 konnte die Ostberliner Synagoge mit öffentlichen Mitteln restauriert und nach zwei Jahrzehnten der Vakanz ein Rabbiner eingesetzt werden. Auf jüdischen Friedhöfen, die bis dahin nur von den Gemeinden selbst und Aktiven der Aktion Sühnezeichen mehr schlecht als recht gepflegt worden waren, fanden nun auch Arbeitseinsätze der FDJ statt.

1988, im Vorfeld des 50. Jahrestages des Großen Pogroms vom 9. November 1938, gab es eine Fülle von Aktivitäten, von Veranstaltungen und Publikationen zu jüdischen Themen, eine regelrechte Kampagne, die schon wieder kontraproduktiv wirkte. Heinz Galinski, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, traf mit Honecker zusammen und mahnte Objektivität in der Berichterstattung über Israel an. Der Staatssekretär für Kirchenfragen reiste mit einer Regierungsdelegation nach Israel. Allmählich wurde das Klima besser; die Medien begannen, mehr und objektiver über Israel zu berichten, auch über Land und Leute, über Kultur und Gesellschaft, über Religion und Tradition. Zaghaft begann ein Kulturaustausch.

Ein Schuldbekenntnis gegenüber den Juden und Israel aber brachten die DDR-Machthaber bis zuletzt nicht über die Lippen. Das blieb der frei gewählten Volkskammer vorbehalten. Schon der Runde Tisch hatte in seiner 16. Sitzung am 12. März 1990 eine Erklärung angenommen, daß angesichts der besonderen Verantwortung der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk in eine neue Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik die folgenden Grundsätze aufgenommen werden sollten:


1. eine ausdrückliche Verpflichtung des Staates zur Pflege, Bewahrung und zum Schutz der religiösen und kulturellen Traditionen der Juden;

2. eine ausdrückliche Verpflichtung zur dauernden Erhaltung jüdischer Friedhöfe und solcher Gebäude und Denkmäler, die an die Geschichte der Juden in Deutschland erinnern;

3. die Asylpflicht der Deutschen Demokratischen Republik für verfolgte Juden.14


Meine erste Aktivität als Parlamentarier der demokratisch gewählten Volkskammer war dann, ein Schuldbekenntnis gegenüber Israel anzuregen und mitzuverfassen, das dann Bestandteil der Gemeinsamen Erklärung wurde, die die Volkskammer in ihrer zweiten Sitzung am 12. April 1990 abgegeben hat. Darin bekennt sich das Parlament der DDR im Namen der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger zur Mitverantwortung für die Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder und bittet die Juden in aller Welt um Verzeihung. Das Volk Israels wird um Verzeihung gebeten für die Heuchelei und Feindseligkeit der DDR gegenüber dem Staate Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger nach 1945:


Wir, die ersten frei gewählten Parlamentarier der DDR bekennen uns zur Verantwortung der Deutschen in der DDR für ihre Geschichte und ihre Zukunft und erklären einmütig vor der Weltöffentlichkeit:

Durch Deutsche ist während der Zeit des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermeßliches Lied zugefügt worden. Nationalismus und Rassenwahn führten zum Völkermord, insbesondere an den Juden aus allen europäischen Ländern, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma.

Diese Schuld darf niemals vergessen werden. Aus ihr wollen wir unsere Verantwortung für die Zukunft ableiten.

1. Das erste frei gewählte Parlament der DDR bekennt sich im Namen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zur Mitverantwortung für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder. Wir empfinden Trauer und Scham und bekennen uns zu dieser Last der deutschen Geschichte.

Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für die Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.

Wir erklären, alles uns mögliche zur Heilung der seelischen und körperlichen Leiden der Überlebenden beitragen zu wollen und für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste einzutreten.

Wir wissen uns verpflichtet, die jüdische Religion, Kultur und Tradition in Deutschland in besonderer Weise zu fördern und zu schützen und jüdische Friedhöfe, Synagogen und Gedenkstätten dauernd zu pflegen und zu erhalten.

Eine besondere Aufgabe sehen wir darin, die Jugend unseres Landes zur Achtung vor dem jüdischen Volk zu erziehen und Wissen über jüdische Religion, Tradition und Kultur zu vermitteln.

Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren. Wir erklären, uns um die Herstellung diplomatischer Beziehungen und um vielfältige Kontakte zum Staat Israel bemühen zu wollen.15


Die Erklärung wurde in die Vereinbarung zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 23. September 1990 zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrages aufgenommen - Artikel 2 - und ist damit bis heute geltendes Bundesrecht.

In einer ihrer letzten Sitzungen distanzierte sich schließlich die Volkskammer auch von der Zionismus-Resolution der UNO vom 10. November 1975, der die DDR seinerzeit zugestimmt hatte.16 In dieser Resolution, der Resolution Nr. 3379 der XXX. Vollversammlung, war mit einer Mehrheit der arabischen und der sozialistischen Länder der Zionismus als "eine Form des Rassismus" verurteilt worden. Die Volkskammer distanzierte sich von der Zustimmung der DDR-Regierung zu dieser fatalen, ideologisch diktierten UNO-Resolution, in der der Zionismus mit rassischer Diskriminierung gleichgesetzt worden war. Jene Zustimmung einer deutschen Regierung war angesichts der rassischen Verfolgung und Vernichtung, der Juden in Deutschland ausgesetzt waren, eine Ungeheuerlichkeit. Darauf hatten schon im Vorfeld der Resolution die Kirchen hingewiesen und die DDR-Regierung aufgefordert, dem nicht zuzustimmen. 1990 konnte dann der Antrag, diese Zustimmung zu widerrufen, als interfraktionellen Initiative mit Unterschriften von Parlamentariern aus allen demokratischen Parteien, nicht jedoch aus der PDS, in die Volkskammer eingebracht werden.

So konnte noch vor der Wiedervereinigung der Versöhnungsprozeß zwischen Ostdeutschland und Israel, zwischen Ostdeutschen und Juden beginnen. Eine Freundschaftsgesellschaft DDR - Israel entstand. Die DDR-Regierung stellte noch vor der Währungsunion 6,2 Mio. DM für die Stiftung AMCHA zur Verfügung, in deren Vorstand ich bis heute mitarbeite. Zweck der Stiftung ist es, Mittel für die psychosoziale Betreuung von Opfern der deutschen Judenverfolgung und ihrer Kinder in Israel bereitzustellen. Denn noch immer sind viele, auch in der zweiten Generation, traumatisiert. Es war wichtig, daß wenigstens dieser bescheidene Versuch einer Wiedergutmachung noch zu Zeiten der DDR begonnen werden konnte.

Im Sommer 1990 reisten die Präsidentinnen der beiden deutschen Parlamente, Rita Süßmuth und Sabine Bergmann-Pohl gemeinsam nach Israel. Ich habe sie auf dieser Reise begleitet und erlebt, mit welcher Sympathie fast alle israelischen Politiker die Veränderungen in Deutschland aufgenommen haben, mit welcher Bereitschaft zur Versöhnung auch mit dem Teil des Landes, daß nicht nur zwölf, sondern weitere vierzig Jahre antisemitisch war und das Israel jahrzehntelang das Existenzrecht absprechen wollte.

Zum Programm gehörte auch ein Besuch in der Knesset, dem israelischen Parlament. Dieser Besuch war von einem Mißton begleitet, oder, nimmt man diplomatische Gepflogenheiten zum Maßstab, von einer heftigen Brüskierung der deutschen Gäste. Denn der israelische Parlamentspräsident, Dov Schilansky, weigerte sich, die deutschen Besucher zu empfangen, und ging während unserer Anwesenheit in Urlaub. Statt dessen empfing uns in der Knesset sein Stellvertreter. In der israelischen Presse wurde das heftig kritisiert.

Dov Schilansky war Überlebender der Shoah. Er hatte von den Deutschen Schreckliches erfahren und mehrere Konzentrationslager durchlitten. Fast seine ganze Familie ist von Deutschen ermordet worden. Zuletzt war Schilansky in einem Außenlager von Dachau, wo die Menschen nicht durch Gas oder Gewehrkugeln vernichtet wurden, sondern durch Arbeit. Damals hat er geschworen, niemals mehr ein Wort Deutsch zu sprechen oder einem Deutschen die Hand zu geben.

Diesen Schwur wollte er auch als Präsident der Knesset nicht brechen. Deshalb hatte er die deutschen Parlaments-Präsidentinnen nicht empfangen. Aber er hat sie und mich am selben Abend zu sich nach Hause eingeladen. Präsident Schilansky hat uns mit seiner Frau an der Tür empfangen und uns in sein Haus geführt. Unter Tränen hat er uns erzählt, was er von Deutschen erlitten hat. Nach einigen Sätzen begann er deutsch zu sprechen, zum ersten Mal seit vierzig Jahren. So erfuhren wir die Geschichte seines Schwurs. Daß er ihn an jenem Abend gebrochen hat, geschah, wie er sagte, auch aus Respekt vor der friedlichen Revolution der Ostdeutschen. Daß sie das zweite totalitäre System auf deutschem Boden aus eigener Kraft überwunden hatten, war für ihn die endgültige Bestätigung, daß Deutschland anders geworden ist. Zum Abschied gab er uns, Deutschen, die Hand. Er, wie andere Gesprächspartner auch, gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, daß es auch zwischen Israelis und Palästinensern die Mauern fallen können, so wie in Deutschland. Eine Hoffnung, die sich noch nicht erfüllt hat. Aber wer von uns hat an den Fall der Berliner Mauer geglaubt?



ANMERKUNGEN



1 vgl. BI Handlexikon. Leipzig 1984. S. 54 u. 1366

2  Nachwort von A. Jörgensen, in: Walter Kaufmann, Das Gelobte Land. Leipzig 1980, S.224 

3 Helmut Eschwege, Fremd unter Fremden. Berlin: Christoph Links Verlag, 1991

4  zit. nach Eschwege, a.a.O., S. 64

5 Beschluß des Zentralkomitees der SED vom 20. Dez. 1952 zu den Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörertum Slánskýs. In: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Beschlüsse und Erklärungen, Bd. IV, Berlin 1954, S. 210 

6 zit. nach Eschwege, a.a.O., S. 70f. 

7 Neues Deutschland, 5. Juni 1967, S.7

8 Neue Zeit, Berlin, 8. Juni 1967, S.6 

9 Neue Zeit, Berlin, 20. Juni 1967, S.3 

10 Magdeburger Volksstimme, Jg. 1967, ohne genauen Nachweis 

11 zit. nach Eschwege, a.a.O., S. 122

12 Neues Deutschland, 5. Juni 1967, S.2 

13  Berliner Zeitung, 2. Juni 1982, S. 4 

14 vgl. Uwe Thaysen, Der Zentrale Runde Tisch der DDR, Wortprotokoll und Dokumente. Wiesbaden 2000, Bd. IV, S. 1112

15 Deutschland Archiv, 23. Jg. (1990), Nr. 5, S. 795

16 vgl. Volkskammer der DDR, 10. Wahlperiode, 27. Tagung vom 22. Juli 1990, S. 1280ff. und Drucksache 10/169
.


Der Autor

KONRAD WEISS

Jhg. 1942, deutscher Filmregisseur, Publizist und ehemaliger DDR-Bürgerrechtler. Von 1966 bis 1969 studierte er die Fächer Regie und Kamera in der Spezialklasse für Dokumentarfilm an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg. Im Rahmen seiner Arbeit besuchte er viele sozialistische aber auch nicht-sozialistische Länder, wie Holland, Irland, Frankreich und Israel.

Im September 1989 gehörte Weiß zu den Erstunterzeichnern des Gründungsaufrufes der Bürgerbewegung Demokratie jetzt, bei der er bis 1990 Mitglied des Sprecherrates war. Bei der Volkskammerwahl 1990 wurde Konrad Weiß als Abgeordneter ins Parlament der DDR gewählt. Zwischen 1990 und 1994 war er Mitglied des Bundestages in der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Weiß beklagte einen Schwund der Pressevielfalt in den neuen Bundesländern, kritisierte die Fusionspläne der Grünen mit Bündnis 90 auf Bundesebene 1992 sowie den Asylkompromiss 1993. Im Juni 2001 trat er aus der Partei Bündnis 90/Die Grünen aus, weil er die vermeintliche Annäherung der Bündnisgrünen an die PDS ablehnte.

Seit 1995 freier Publizist.

Homepage:
Konrad Weiss