ONLINE-EXTRA Nr. 245
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"Wie ist dieser für Europas Entwicklung folgenschwere Bruch zu erklären, obwohl Jesus Jude und das Christentum in seinem Ursprung eine jüdische Bewegung war? Ist christlicher Antijudaismus zunächst theologisch motiviert oder politisch-sozial? Ist christliche Judenfeindschaft im christlichen Schrifttum angelegt? Oder eher eine Begleiterscheinung der weltlichen Macht, in der das Christentum im Lauf der Jahrhunderte aufging und die andere als religiöse Interessen Überhand gewinnen ließ?"
Mit diesen leitmotivischen Fragen eröffnet der israelische Schriftsteller Chaim Noll seinen "historischen Überblick" in vorliegendem Essay: "Klassische Muster der Judenverachtung".
Sein Gang durch die Geschichte der Judenverachtung ist ein ungemein kenntnisreicher, brillant formulierter und unaufgeregt differenzierter Streifzug durch die Gründe und Abgründe des christlichen Antijudaismus und damit auch der europäischen Geistesgeschichte bis in die Moderne. Dabei wirft Noll auch einen nicht minder interessanten Blick auf die islamische Judenfeindschaft, deren Ursachen er nicht zuletzt u.a. im "öffentliche(n) Zerwürfnis zwischen Christen und Juden" sieht, und beschreibt in der Folge die Unterschiede zwischen christlicher und islamischer Judenverachtung. Schließlich findet er am Ende seines überaus lesenswerten Essays trotz einer wenig erfreulichen Geschichte zwischen Juden, Christen und Moslems Gründe zur Hoffnung auf ein künftig gelingenderes Miteinander, das maßgeblich durch die historischen Ereignisse im 20. Jahrhundert angestoßen wurde.
Chaim Nolls Essay geht auf einen Vortrag zurück, den er im letzten Jahr bei verschiedenen Gelegenheiten hielt. COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Publikation der hier nun vorliegenden schriftliche Fassung!
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Online-Extra Nr. 245
Das fast zwei Jahrtausende währende Zerwürfnis zwischen Christen und Juden hinterlässt Fragen, die wir erst heute öffentlich stellen können.
Wie ist dieser für Europas Entwicklung folgenschwere Bruch zu erklären, obwohl Jesus Jude und das Christentum in seinem Ursprung eine jüdische Bewegung war? Ist christlicher Antijudaismus zunächst theologisch motiviert oder politisch-sozial? Ist christliche Judenfeindschaft im christlichen Schrifttum angelegt? Oder eher eine Begleiterscheinung der weltlichen Macht, in der das Christentum im Lauf der Jahrhunderte aufging und die andere als religiöse Interessen Überhand gewinnen ließ?
Aus der Geschichte wissen wir: je fragwürdiger die Handlungen von Menschen, umso mehr brauchen sie Legitimierung, Jurisdiktion, Absicherung dessen, was man ohnehin tun wollte, durch ein Gefühl von Rechtlichkeit. Ein solches Selbstgefühl ist unerlässlich, um die für das Handeln notwendigen Energien – selbst wenn es Energien der Zerstörung sind – über eine bestimmte Zeit aufrecht zu erhalten. Ein frühes, aus der Literatur bekanntes Beispiel ist der von Homer überlieferte Kriegszug der Griechen gegen Troja. Wären die Helden Homers zu dem langen, zähen Kampf um die Stadt, zu ihrer Zerstörung und Massentötung ihrer Einwohner motiviert gewesen, wenn sie sich eingestanden hätten, dass es sich bei ihrer Unternehmung schlicht und einfach um einen Raubzug handelte? Zu solchen Aktionen sind Vorwände vonnöten, Vorwände moralischer Art, in diesem Fall eine Geschichte von Ehebruch, Raub einer Fürstin, Eingriff in die geheiligten Rechte des Gatten – mit Sicherheit wirkungsvoll in einer Gesellschaft, die sich streng patriarchalisch orientierte und in der das Erotische immer im Mittelpunkt stand. Schon dieses alte Beispiel zeigt den doppelten Boden, dessen solche Vorwände bedürfen: der sichtbare ist ein Rechtsvorwand, dahinter verbirgt sich etwas Emotionales, Sinnliches, oft Mystisches, das der ganzen Sache die nötige Schubkraft gibt.
Christen fanden andere Vorwände für ihre gewalttätigen Aktionen, entsprechend ihren eigenen erklärten Idealen. Gewaltanwendung war unvermeidlich – wenn auch der Lehre Jesu zuwider –, nachdem das Christentum im römischen Imperium zu weltlicher Macht gelangt war und diese Macht behaupten wollte. Da Christen Eigenschaften wie Tugend, Reinheit, Abgewandtheit vom Diesseits als Ideale gelten, wurden folglich ihre Gegner als nicht rein, nicht tugendhaft, dem Diesseits verhaftet, dem irdischen Staub verfallen dargestellt – so auch die Juden. Zunächst ein allgemeines Muster: Der Gegner wird als Gegenbild der eigenen Wunschidentität aufgebaut. Profanität, Drang nach irdischen Gütern, schlicht ausgedrückt Geldgier – früh symbolisiert durch die dreißig Silberlinge, für die Judas Iskariot seinen Rabbi verraten haben soll – wurden in diesem Sinne zu einem jüdischen Wesenszug erklärt. Und vieles andere. Die Liste der Beschuldigungen christlicher Gesellschaften gegen Juden ist so lang wie absurd. Es gibt so gut wie keine Schandtat, kein Verbrechen, kein Laster, das christliche Gesellschaften Juden nicht nachgesagt hätten.
Vorwand für die früheste christliche Anklage gegen Juden ist Jesu Lebenslauf selbst: als Jude geboren, als Heiler, Prediger, Rabbi und Schriftausleger im Volk beliebt, aber am Ende getötet – angeblich auf Betreiben „der Juden“. Der neuralgische Punkt im Verhältnis der Christen zu den Juden ist seit jeher, seit frühestem christlichen Selbstgefühl, die Nicht-Anerkennung der Person Jesus als Messias, griechisch Chrestos, durch die jüdische Mehrheit. Hieran entzündete sich die Rhetorik einiger Stimmen im Neuen Testament, Juden zumeist. Später, durch die folgenden Jahrhunderte, von christlichen Autoren und Kirchenvätern. Darüber wurde vergessen, dass Jesus’ erste, früheste Anhängerschaft durchweg aus Juden bestand, und dass es eben gerade Juden waren, die in ihm den Messias oder Chrestos sahen. Es handelt sich zunächst um einen innerjüdischen Streit, ausgelöst durch den im Volk beliebten, von der Tempeldynastie beargwöhnten Schriftgelehrten und Wunderheiler Jesus, und die entscheidende Streitfrage war, ob man in ihm mehr sah als einen Schriftgelehrten und Heiler, ob man in ihm den von Gott Gesalbten sah, eben den Chrestos oder Messias.
Das Jesus zur Last gelegte Verbrechen war crimen laesae maiestatis, Beleidigung der Majestät des Kaisers. Es wurde von dem zu Jesu Lebzeiten herrschenden Kaiser Tiberius eingeführt und – soweit bekannt – auf das strikteste angewandt. Das übliche Strafmaß war der Tod. Die Rechtslage war eindeutig: zum Tode verurteilen konnte in der römischen Provinz Judäa nur der römische Prokurator, das Urteil vollstrecken nur die römische Behörde und begnadigen nur der römische Kaiser. Die Darstellung des Rechtsstreits in den Evangelien erweckt den Eindruck, in der Provinz Judäa sei eine Amnestie aus Anlass des Pesach-Festes üblich gewesen, die Jesus hätte retten können, ihm aber von den Juden verweigert wurde. Doch eine solche Amnestie ist historisch nicht belegt und in keiner anderen Quelle erwähnt. Hinzu kommen tendenziöse Übersetzungen auslegbarer Stellen im Neuen Testament (Matthäus 27, 25, Titus 1,10-11 u.a.), die der Entstellung den Anschein des Unvermeidlichen gaben. „Sagen wir es direkt“, schrieb der christliche Theologe Carsten Peter Thiede, „Übersetzungen und Ausleger, die sich darauf stützten, haben hier Schuld auf sich geladen.“ Weitere Schuldzuweisung an Juden liegt im Text des Neuen Testaments nicht vor: es ist allemal zu wenig, um eine Verurteilung von Juden, noch dazu ihres ganzen Volkes zu indizieren.
Dennoch wurde Jahrhunderte lang von christlichen Kanzeln verkündet: „Die Juden haben unseren Herrn Jesus Christus umgebracht.“ Frühes kirchliches Emanzipationsbemühen förderte die Legende von der jüdischen Schuld. In der Passa-Homilie des Bischofs Melito von Sardes, geschrieben um 150 christlicher Zeit, werden „die Juden“ zum ersten Mal offen als Christusmörder bezeichnet. Der einflussreiche christlich-römische Philosoph Laktantius folgte der Unwahrheit zwei Jahrhunderte später in seinem Standardwerk Divinae Institutiones, wodurch sie ins lateinische Schrifttum einging. Ambrosius von Mailand im vierten Jahrhundert, die Kirchenväter Johannes Chrysostomos (Homiliae adversus Iudaeos) und Augustinus (Tractatus adversus Iudaeos) kennzeichnen weitere Etappen der Kirche auf dem abschüssigen Weg in Judenhass und Verfolgung des Volkes Jesu. Nachdem sich die Nachrede einmal eingebürgert hatte, erwuchsen daraus auch die Behauptungen von Ritualmord, Kinderschlachten und Brunnenvergiften, schließlich noch, um die Wende zum 20.Jahrhundert, in einer Zeit, die sich für wissenschaftlich aufgeklärt und fortschrittlich hielt, von einem jüdischen geheimen Rat, der sich bei Nacht und Nebel auf dem Judenfriedhof in Prag am Grabe des Shimeon bar Jehuda versammle, um Pläne zur Welteroberung und Unterjochung der Menschheit zu schmieden. Diese jüdische Weltverschwörung hege unter anderem den Plan, alle Arbeiter zum Alkoholismus zu verführen und durch Erhöhung der Lebensmittelpreise und Verbreitung ansteckender Krankheiten chaotische Zustände, am Ende den Zusammenbruch der christlichen Gesellschaften herbei zu führen.
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Chaim Noll:
Schlaflos in Tel Aviv
Verbrecher Verlag
Berlin 2016
250 Seiten,
21,00 €
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Nolls klarer Blick auf die Menschen prägt diesen Band. Zugleich spiegelt sich in den Geschichten sein bewegtes Leben in der DDR, im Westberlin der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre und sein Leben in Israel heute.
An diesem neueren Fall, der unter dem Namen „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in die Geschichte christlich-abendländischer Hysterie eingegangen ist, muss die Leichtgläubigkeit verwundern, mit der Millionen Menschen, darunter gekrönte Häupter, Kleriker, Gelehrte und höchste Regierungsbeamte den Betrug geglaubt haben. Oder besser gesagt: Sie müsste verwundern, hätten wir nicht seither noch drastischere Beispiele von Massenhysterie erlebt. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ wären nichts als lächerlich, enthielten sie nicht den Keim zur antisemitischen Paranoia des zwanzigsten Jahrhunderts, die schließlich zu Hitlers Vernichtungslagern und Stalins Judenverfolgungen führte. Obwohl Historiker versucht haben, den Ursprung der „Protokolle“ zu ermitteln, ist das Dunkel um die Herkunft der Fabrikation nie ganz erhellt worden. „Sicher scheint nur zu sein“, schreibt Walter Laqueur, „dass die russische politische Polizei bei der Abfassung die Hand im Spiele hatte.“ Maurice Jolys Roman „Dialogues aux enfers entre Machiavel et Montesquieu“ von 1865 diente als Anregung, obwohl das gegen Napoleon III. gerichtete Buch keine antisemitische Tendenz enthält, auch andere Romane wie „Le Juif errant“ des damals erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellers Eugene Sue. Der eklektische Charakter des Textes ist auf den ersten Blick ersichtlich. Ein so fadenscheiniges Elaborat konnte nur auf der Basis bereits bestehender, tief eingewurzelter Vorurteile erfolgreich sein.
Christlicher Judenhass ist kein originäres Phänomen. Das Christentum empfing die Anregung dazu aus der antiken Welt und fügte lediglich neue Muster der Schein-Argumentation hinzu. Judenhass gab es lange vordem, und solange es ihn gibt, suchen seine Vertreter nach Vorwänden, um ihrem Hass, einer an sich irrationalen, destruktiven Regung, den Anschein des Vernünftigen zu geben. Eines der ältesten Muster findet sich im biblischen Buch Esther, vorgetragen vom Minister Haman am Hof des persischen Großkönigs: die Juden hätten eigene Gesetze, heißt es dort, weshalb sie denen des Königs und des Landes nicht folgen könnten. Der durch viele Jahrhunderte, in den verschiedensten politischen Systemen unter Beweis gestellte Assimilationswille der Juden hat diese Behauptung längst widerlegt.
Unzweifelhaft ist jedoch, dass Juden wegen ihrer Anhänglichkeit an den Moral-Kodex der Mosaischen Bücher zu allen Zeiten unbequeme Untertanen für despotische Herrscher waren. Sie neigen dazu, gegen Willkür und Unrecht seitens der Macht zu opponieren. Diese Opposition muss keine handgreiflichen Formen annehmen, oft blieb sie spirituell, Verweigerung und Nicht-Bereitschaft, etwas zu tun, war aber dadurch vielleicht umso gefährlicher: ein sich von innen her stets erneuerndes, auch über große Zeiträume nicht verbrauchendes Potential des Widerstands gegen das Inhumane.
Derlei Erfahrungen bewogen schon im zweiten vorchristlichen Jahrhundert den seleukidischen König Antiochus IV., genannt Epiphanes, das Befolgen des mosaischen Gesetzes, sogar die Lektüre der Gesetzesbücher, unter Todesstrafe zu stellen und unter diesem Vorwand – exemplarisch für diese Art „rechtlich“ verkleideten Judenhass – auch gleich den Jerusalemer Tempelschatz zu plündern. Antiochus Epiphanes löste dadurch den Makkabäer-Aufstand aus und kam wenig später zu Fall, obwohl er zuvor, nach Angaben des griechischen Historikers Diodor, als „mächtigster König seiner Zeit“ gegolten hatte. Auch dieses Muster zeigt sich früh: pathologischer Judenhass führt in generelles Scheitern – für Judengegner wiederum ein Grund, die Juden zu dämonisieren.
Eine andere Begründung für Judenhass demonstriert um 250 vor Christus der ägyptische Tier-Priester Manetho, später übernommen von einem weiteren Ägypter, Kaiser Neros Lehrer Chairemon, der derlei Theorien im Rom der Cäsaren verbreitete: die Juden wären „Gefleckte“ oder „Aussätzige“, jedenfalls von anderen Menschen durch Mängel und Gebrechen unterschieden – ein frühes Beispiel für einen rassistischen Legitimationsversuch. Bei Chairemons Zeitgenossen, dem römischen Philosophen Seneca, handelt es sich um ökonomische Gründe für die Ablehnung der Juden, auch dies ein Grundmuster anti-jüdischer Argumentation. Die vom biblischen Gesetz geforderte Einhaltung eines freien Tages in der Woche, des shabat, beargwöhnte Seneca als schlechtes Vorbild für alle Unfreien und wirtschaftlichen Verlust, vor allem natürlich für die Sklavenhalter, zu denen auch er selbst, einer der reichsten Männer Roms, gehörte. Die judenfeindlichen Äußerungen der römischen Dichter Martial und Juvenal artikulieren die Sorge, das Judentum könnte in Rom zu einflussreich werden und Nicht-Juden in seinen Bann ziehen – ein weiteres anti-jüdisches Argumentationsmuster, das leitmotivisch in der Geschichte wiederkehrt. Der senatorische Historiograph Tacitus sah die Juden – unter ihnen die frühen Christen – bereits als Gefahr für das römische Staatswesen. Um seine Befürchtungen plausibel zu machen, sagt er ihnen in seinen Historien Verachtung der Götter nach, Verleugnung des Vaterlandes und – was uns angesichts des bekannten jüdischen Familiensinns besonders verwundern muss – Geringschätzung von Kindern, Eltern und Geschwistern.
Diesem Arsenal aus der Antike bekannter Vorurteile fügen frühe christliche Judengegner wie Justin oder Melito von Sardes im zweiten Jahrhundert die Behauptung von der „Blutschuld“ der Juden am Tode Christi hinzu, eine angesichts der tatsächlichen Rechtsverhältnisse in der rechtshoheitlich von Rom verwalteten Provinz Judäa unhaltbare These. Die Synode von Elvira im Jahre 306 verkündet bereits die gesellschaftliche Diskriminierung der Juden: das Verbot von Ehen mit Juden und der Speise- und Wohngemeinschaft mit ihnen. Einige Jahrzehnte später, bei Ambrosius von Mailand, finden wir christlichen Judenhass mit einem Aufruf zur Aktion verbunden. Die Spaltung war perfekt, das Judentum zog sich, über die Diaspora verstreut, in eine mit dem Niederschreiben und immer weiteren Ausarbeiten der „mündlichen Lehre“ verbundene Innerlichkeit und spirituelle Vertiefung zurück, das Christentum wurde weltliche Macht und widmete sich seiner äußeren Entfaltung.
Wie eine Selbstverständlichkeit präsentiert sich der Judenhass einige Jahrhunderte später im Islam, wo er im grundlegenden Schrifttum, sowohl im Koran, den Predigten Mohameds, als auch in den Hadithen, den Überlieferungen seiner Taten und Sprüche, festgeschrieben und sanktioniert wurde. Die judenfeindlichen Stellen des Koran sind zahlreich und begnügen sich nicht mit Anschuldigungen, sondern rufen zu blutigem Vorgehen auf. Im Jahre 627 ließ Mohamed alle männlichen Juden der Gemeinschaft Banu Quraiza in Medina abschlachten, während Frauen und Kinder versklavt wurden – das erste islamische Judenmassaker, dem im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche folgen sollten. Bis zu dieser Zeit waren größere christliche Judenmassaker nicht bekannt – man muss davon ausgehen, dass Mohameds brutales Vorgehen gegen die Juden bahnbrechende Wirkung hatte. Seine Eroberung des jüdischen Reiches Chaibar liefert das erste Beispiel eines islamischen Krieges gegen die Juden im Rahmen des Jihad.
Auch in relativ ruhigen Zeiten waren die in islamischen Ländern lebenden Juden oft noch rechtloser als in christlichen Gesellschaften. Das ihre Lebensumstände regelnde Gesetz der dhimma war grundsätzlich diskriminierend. „Bekämpft diejenigen, denen die Schrift gegeben wurde und die (…) sich nicht zur Religion der Wahrheit (gemeint ist der Islam) bekennen, bis sie erniedrigt sind und Tribut entrichten“, heißt es im Koran, Sure 9,29. Die Erniedrigung wurde den dhimmi bei jeder Gelegenheit bewusst gemacht, durch Alltagsregelungen, die in den islamischen Rechtsvorschriften fixiert waren und alles Praktische und Persönliche ihres Daseins bestimmten. Sie mussten sich beleidigen, schlagen und verhöhnen lassen, ohne sich wehren zu dürfen (ihrerseits einen Muslim zu schlagen hatte die Todesstrafe zur Folge), Waffenbesitz war ihnen untersagt, ihre Aussage vor Gericht wertlos, sie hatten sich im Straßenbild in demütiger Haltung zu bewegen und zuerst zu grüßen, durften keine Pferde reiten und mussten von ihrem Reittier – Maultier oder Esel – absteigen, sobald ihnen ein Muslim begegnete, sie waren verpflichtet, besondere Kleidungsstücke und Kopfbedeckungen zu tragen oder den dhimmi-Status markierende Abzeichen. Da die Regelungen der dhimma religiös verankert sind, erweisen sie sich bis heute als kaum reformierbar. Perioden freundlicher Behandlung in diesem oder jenem mohamedanischen Reich ändern nichts an der grundsätzlich verächtlichen Haltung des islamischen Gesetzes gegenüber Juden und Judentum. Inzwischen wurden die Juden aus vielen muslimischen Ländern gänzlich vertrieben.
Anders als in islamischen Ländern konnten verfolgte Juden in der christlichen Welt immerhin öffentliche Fürsprache finden, die sich unter Berufung auf die generelle juristische Gleichstellung der Juden Gehör verschaffte. Als 1509 der Renegat Johannes Pfefferkorn, unterstützt von den Kölner Dominikanern, zur Beschlagnahme und Verbrennung jüdischer Schriften aufrief, beauftragte Kaiser Maximilian Sachverständige, darunter den christlichen Juristen Johannes Reuchlin, die Beschuldigungen gegen die Juden zu prüfen. Reuchlin widerlegte die Vorwürfe und verteidigte die Juden unter Berufung auf die grundsätzliche Rechtslage: nach dem römischen Recht, das im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation als verbindlich galt, wären Judentum und Christentum „zwei Sekten“ und gleichermaßen concives imperii, Mitbürger des Imperiums. „Zuletzt“, schrieb Reuchlin, „soll ein Christenmensch den Juden lieb haben als seinen Nächsten: das alles ist im Rechte begründet.“ Dennoch kam es, auch wo dieser Darstellung nicht offiziell widersprochen wurde, zu Judenverfolgungen, sogar gegen den Willen des Kaisers oder Papstes oder, wie bei den Pogromen in Speyer, Köln und Mainz, gegen den Willen der dortigen Bischöfe.
In jeder Gesellschaft gibt es Begierden und Kräfte, die stärker sind als das gesetzlich vereinbarte Rechtsgefühl, und sie haben sich in der Geschichte oft durchgesetzt. Unter „gut“ verstehen Menschen, so Spinoza in seinem Traktat über die Ethik, „das, von dem sie mit Sicherheit wissen, das es ihnen nützlich ist“. Und nützlich schien den Zeitgenossen nicht Reuchlins Anmahnung an römisches Recht und christliche Nächstenliebe, sondern die Verfolgung und Beraubung ihrer jüdischen Mitbürger. Daher wurden Legitimationsmuster entwickelt, die das Unchristliche christlich, das Schlechte „gut“ erscheinen ließen.
Die Juden waren auf Grund ihrer Minderheitssituation besonders als Opfer geeignet. Im Rechtsempfinden weiter Volkskreise – und das deutsche Volk ist hier nur ein Beispiel – galten sie über Jahrhunderte als Menschen zweiter Klasse. Als Moses Mendelssohn 1743 durch das Stadttor nach Berlin einwanderte, notierte der Zollbeamte in sein Wachbuch: „Heute passierten sechs Ochsen, sieben Schweine und ein Jude“. Die tief ins populäre Bewusstsein eingesickerte Verachtung übertraf nicht selten die der Herrschenden. Dieser populäre Judenhass geht weitgehend auf das Konto der Kirchen, die in diesen Zeiten den größten Einfluss auf Bildung und geistigen Zustand des Volkes ausübten. Die Stigmatisierung der Juden als „Mörder unseres Heilands“ rechtfertigte ihre Ausschließung aus dem Konsens der sonst gültigen Rechtlichkeit und lud zu Übergriffen ein. Daraus entstand mit der Zeit ein inoffizielles zweites Recht, ein Gewohnheitsrecht.
Das schizophrene Verhältnis christlicher Gesellschaften zu ihrer jüdischen Minderheit ist so alt wie diese Gesellschaften selbst. Die zwei Gesichter christlicher Macht, weltlich und geistlich, führten gegenüber den Juden durch Jahrhunderte zu einem Hin und Her von Anziehung und Abstoßung, Privilegierung und Verfolgung, ganz nach Belieben und tagespolitischem Bedarf. Der weltliche Herrscher sagte Rechtssicherheit zu, zugleich schürten Geistliche den Judenhass mit den stereotypen Anschuldigungen vom Christus-Mord, von Blut-Hostien und ähnlichem. Oder umgekehrt. Viele Christen waren bei Juden verschuldet, oft waren auch die Herrscher verschuldet, Könige, Fürsten, Erzbischöfe, die zwar die Juden ins Land geholt und ihnen Rechtsschutz zugesagt hatten, dann aber über die Ausschreitungen hinweg sahen oder sie stillschweigend duldeten, schon deshalb, weil sie ihren Gläubigern galten.
Die theologisch vorgetragenen Legitimationsmuster der Judenverachtung müssen daher immer vor den pragmatisch-profanen Hintergründen ihrer Entstehung betrachtet werden. Früher christlicher Antijudaismus resultiert zunächst aus dem Prozess der Abspaltung der messianischen Sekte der Jesus-Anhänger vom pharisäisch-rabbinischen Judentum, den Emanzipationsbemühungen der Sezession gegenüber der „Mutterreligion“, zudem aus Rivalitäten im Imperium Romanum, in dem die Juden seit der Zeitenwende den Status einer religio licita innehatten, welchen die Christen erst viel später erlangten, zu Beginn des vierten Jahrhunderts. Drei Jahrhunderte lang waren also die jüdischen Gemeinden auf Grund ihrer alten, unter Julius Caesar und Nachfolgern erlangten Privilegien gegenüber den Christen rechtlich bevorzugt. Daraus entstand viel Unmut, der sich in frühen christlichen Äußerungen niederschlug. Später standen die Juden dem Absolutheitsanspruch der Kirche im Weg, den „allein seligmachenden“ Glauben zu vertreten („Extra ecclesiam salus non est“, wie der Kirchenvater Cyprianus formulierte) – eine Position, die zwar innerhalb der Kirche umstritten blieb, aber in praxi weitgehend Anwendung fand.
Seit Anbeginn versteht sich die Kirche als universal, während das Judentum – obwohl es sich auf andere Weise gleichfalls über die ganze Erde verbreitete – seine Gültigkeit auf ein einziges Volk beschränkt, das Volk Israel. Als dieses deklarierte sich aber zunehmend die christliche Gemeinde, mit der Begründung, die Juden als Volk Israel abgelöst zu haben. Daher wurde das fortdauernde Vorhandensein religiöser Juden als Störung und Herausforderung empfunden. Ihr beharrliches Festhalten am eigenen, älteren Glauben kränkte christlichen Religionseifer und löste immer neue, zwar im Großen und Ganzen vergebliche, dafür umso vehementere Missionierungswellen aus.
Zur Diskriminierung der unbequemen jüdischen Minderheit gehörte ihre Beschränkung auf bestimmte Berufe, darunter den des Bankiers oder Geldverleihers. „Jemanden hassen“, um nochmals Spinoza zu zitieren, „ist, sich ihn als die Ursache seiner Unlust vorstellen.“ Wer empfindet nicht Unlust bei dem Gedanken an seine Gläubiger? Und welchem Herrscher wäre nicht unbehaglich bei dem Gedanken an eine Menschengruppe, die auf Grund eigener, noch dazu älterer Gesetze nicht alles mitmachen kann und will, was die übrige Gesellschaft geschlossen unternimmt? Besonders die Abneigung der Juden, sich an Militärdienst oder Krieg zu beteiligen, galt als Zeichen ihrer Untreue und rief Hass hervor. Im 10.Jahrhundert, als Kriegs- und Ritterwesen mehr und mehr das Antlitz christlicher Gesellschaften dominierten und sich allenthalben Männer zu geistlichen Verbänden zusammenschlossen, um mit dem Schwert in der Hand „für das Christentum“ zu kämpfen, sahen sich die europäischen Juden in der seltsamen Rolle, durch ihr Beispiel die eigentlichen christlichen Tugenden – Friedfertigkeit, Duldsamkeit, Opferbereitschaft – anzumahnen, eine Situation, die gewiss nicht zu ihrer Beliebtheit bei den christlichen Mitbürgern beitrug. Der Mainzer Jude Shimeon bar Isaak reflektierte darüber in einem Gedicht aus dieser Zeit:
Ihre Festungen stehen auf schroffen Höhn,
Sie gehn auf die Jagd unter drohendem Fels,
Wo in engem Gedränge die Schilde stehn,
Dazwischen Panzer und Helme,
Weit leuchten Embleme und Wappen.
Sie kämpfen mit blitzendem Schwert,
Reichlich verzieret mit Silber und Gold,
Die Reiter auf wiehernden Stuten,
Die Sehne des Bogens gespannt mit dem Pfeil.
Wir aber beten zum allmächtigen Gott,
Der alle Kriege beendet.
Shimeon bar Isaaks Gedicht ist eins der frühesten Bekenntnisse zum Pazifismus in Europa. Darüber hinaus eine frühe Artikulation der Verweigerung gegenüber gesellschaftlichen Ansprüchen, die ein Einzelner oder eine Gruppe aus Gesinnungsgründen ablehnt. In westlichen Gesellschaften von heute ein alltäglicher Vorgang. Ein modernes Motiv, eine Haltung gegenüber der Gesamtheit, die inzwischen allgemein anerkannt ist. Keine Frage, dass ein aufgeklärter Europäer unserer Tage den Krieg ablehnt, keine Frage, dass ein kritischer Staatsbürger nicht mehr bereit ist, unbesehen alles mitzumachen, was die Obrigkeit oder die Mehrheit von ihm verlangt. Das Motiv Verweigerung hat bei dem vor unseren Augen stattfindenden Zusammenbruch des europäischen Kommunismus eine entscheidende Rolle gespielt. Was wir „Zivilcourage“ nennen, selbständiges Entscheiden gegen den allgemeinen Druck der Gesellschaft, selbständiges Nachdenken, Sich-Befragen, Zweifeln, die Suche nach einer Alternative – all das sind alte jüdische Denk- und Verhaltensweisen.
Traditionell ist jüdisches Denken dialogisch angelegt: der Widerspruch, die alternative Möglichkeit sind diesem Denken inhärent. Diese Methode ist seit frühestem jüdischen Schrifttum belegt. Die Bibel ist ein Buch des Dialogs: zwischen Menschen und ihrem Schöpfer, zwischen Mensch und Mitmensch. Auch der Talmud ist eine Dialogsammlung, ein Buch der Antinomien, des Fragens und Bezweifelns, des Gegenüberstellens verschiedener Meinungen. Die Wahrheit entsteht aus dem gegeneinander Abwägen unterschiedlicher Positionen in Streitgespräch und Diskussion. Die Anfechtung, die Opposition gegen einen Standpunk wird mitformuliert. Ein Leitmotiv des Talmud, das sich hindurchzieht wie ein roter Faden, ist der Halbsatz „An anderer Stelle wird gesagt...“, die legitime Bezweiflung der Wahrheit des von Menschen Gesagten und das Dagegenstellen eines anderen, gleichfalls aus der Schrift zu begründenden Wortes. Die Beschränktheit unserer menschlichen Erkenntnis und Einsicht wird ab initio angenommen, auf die Fiktion einer „objektiven“ menschlichen Wahrheit wird verzichtet.
Juden betrachten die biblischen Bücher nicht nur als religiöse Schriften wie andere Völker, sondern als Werke ihrer Nationalliteratur, in denen ihre Identität begründet ist. Dem dialogischen Charakter dieser Bücher folgend, hat das jüdische Volk billige Einseitigkeit vermieden und sich der Komplexität und Ambivalenz des menschlichen Daseins ausgesetzt, sowohl im Geistigen, wovon das talmudische Schrifttum zeugt, als auch im Verhältnis zur jeweils umgebenden Gesellschaft. Das im täglichen Studium erfahrene Wissen um die im biblischen Text vorgeführte Differenziertheit menschlicher Haltungen und die talmudische Debatte führten zu einer sonst unüblichen Kultur des Zweifels, zu einer weitgehenden Berücksichtigung des Anderen und zugleich zur Skepsis gegenüber dem Eigenen. Dieser komplizierte Standpunkt hat dem Judentum zwar oft eine erfolgreiche Propaganda unter fremden Völkern versagt, dafür aber sein eigenes geistiges und physisches Überleben ermöglicht, trotz einer fast zweitausend Jahre währenden Verstreuung über alle Welt. Zudem hat das dialogische Prinzip die Fähigkeit zum abstrakten Denken so sehr geschärft, die geistige Flexibilität so stark trainiert, dass Juden heute in fast allen Wissenschaften, Künsten und hochqualifizierten Berufen eine führende Rolle spielen.
Das Leben des jüdischen Volkes kreist um ein Buch, dessen Rezeption – wie auch Christen wissen – ernsthafte geistige Arbeit erfordert. Die uralte Schriftorientierung ist tief ins alltägliche Leben, Empfinden, Denken der Juden eingedrungen, selbst solcher, die sich vom Judentum abgewandt haben. Religiöses Judentum, mit seinem auf Bildung und Kenntnis begründeten, ständiges Studium erfordernden Anspruch nahm den Mangel an Popularität bei den umgebenden Völkern hin, ertrug ihn sogar mit einem gewissen Selbstbewusstsein, andererseits machte es die fehlende Beliebtheit leichter, die Juden ihrer Rechte zu berauben und in eine Opferrolle zu drängen. Gerade die legendäre Überlebensfähigkeit dieses Volkes steigerte den Hass. Die Kirche spürte immer wieder den Drang weiter Volkskreise, antijüdische Argumentationsmuster zu liefern, um Aggressionen gegen die Juden zu rechtfertigen. Oft in der Geschichte war christlicher Antijudaismus nichts anderes als populärer Judenhass unter Hinzufügung pseudo-theologischer Vorwände.
Andererseits können die Juden nicht vermeiden, diese Angriffsfläche immer von neuem zu bieten, es sei um den Preis, ihre Identität als Volk aufzugeben. Ihnen vorzuwerfen, sie lieferten durch ihr Anderssein selbst den Grund zu Angriffen und Verfolgung – ein Vorwurf, den auch ängstliche oder vom Judentum abgefallene Juden erheben –, ist bereits ein judenfeindlicher Vorstoß, da er die Preisgabe der jüdischen Identität um größerer Beliebtheit willen suggeriert, eine Forderung, welche Juden, wenn sie Juden bleiben wollen, nicht erfüllen können. Diese einfache Wahrheit wollen Judengegner durch immer neue Indizien und Scheinargumente gegen die Juden vergessen machen. Im Verlauf der Jahrhunderte hat sich daher die Suche nach antijüdischen Indizien zu einer Manie innerhalb der christlichen Gesellschaften entwickelt.
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Dennoch blieb der Antijudaismus in christlichen Ländern umstritten und Gegenstand innerkirchlicher Konflikte. Er war populär, doch zugleich gab es zu allen Zeiten Kreise – mitunter einflussreiche – die ihn seinem Wesen nach für unchristlich erklärten. Gerade Theologen wussten, in welchem Ausmaß, welcher elementaren Tiefe das Christentum geistig auf dem Judentum basiert, weshalb christlicher Judenhass auch immer christlicher Selbsthass und somit für das Christentum schädlich ist.
Daher finden wir oft in der Geschichte gebildete oder in der kirchlichen Hierarchie hoch stehende Priester in geistiger Nähe zum Judentum, Männer wie den am Hof der Mediceer-Päpste einflussreichen Kardinal Aegidius von Viterbo, der im römischen Ghetto bei gelehrten Juden Hebräisch-Studien trieb, jüdisches Schrifttum studierte und auf seine Kosten eine Talmud-Ausgabe drucken ließ. „Geistig sind wir alle Semiten“ (Spiritualmente siamo tutti semiti), erklärte Papst Pius XI. summarisch, in einer Zeit des überhand nehmenden Antisemitismus zur Warnung an die eigene Kirche. Schon lange vor ihm hatten sich einzelne Päpste offen gegen christlichen Judenhass gestellt, Martin V. im frühen fünfzehnten oder Sixtus V. im sechzehnten Jahrhundert. Pontifikale oder bischöfliche Erlasse gegen Judenhass – von denen es mehr gibt, als gemeinhin angenommen – sind weniger Akte pragmatischer Politik der betreffenden Kirchenfürsten, eher theologische Grundsatzerklärungen, die den unchristlichen Charakter der Judenverachtung anhand christlicher Schriften nachweisen. Ein interessantes Beispiel dafür ist Papst Martin V. „Bulle gegen die Anklage der Brunnenvergiftung und des Gebrauchs von Christenblut bei der Herstellung von Mazot“ vom 13.März 1422. Darin werden nicht nur die genannten Anklagen selbst zurückgewiesen, sondern mit päpstlicher Autorität erklärt, dass „ein jeglicher Christenmensch“ verpflichtet sei, mit seinen jüdischen Mitbürgern „in menschenfreundlicher Weise umzugehen“ (humana mansuetudine).
In der ambivalenten Haltung des Christentums zum Judenhass liegt ein entscheidender Unterschied zum Islam. Der Islam ist konfliktfrei judenfeindlich, da die Verwerfung der Juden ein Motiv seiner Genese war, folglich als Leitmotiv in seinem religiösen Grundlagentext verankert ist. Die elementar judenfeindlichen Stellen des Koran bieten bis heute einen Nährboden für gewalttätige Interpretation. Sie artikulieren den Hass einer geschlossenen, durch Segregation definierten Menschengruppe gegen die Nichtzugehörigen und „Anderen“. Dagegen widerspiegeln einige Stellen im Neuen Testament, die über Jahrhunderte von Predigern und Autoren als Belege frühchristlicher Judenverachtung bemüht wurden, in Wahrheit innerjüdische Debatten, da Jesus, alle seine frühen Anhänger und Gegner Juden waren. Zudem werden die strittigen Stellen durch Aussagen des neutestamentlichen Textes aufgefangen, die in bekennerischer Weise projüdisch sind wie der berühmte Ausspruch Jesu im Johannes-Evangelium 4,22: „Das Heil kommt von den Juden“. Im innerjüdischen Debattenkontext des Neuen Testaments sind kritische oder polemische Äußerungen gegen Juden daher gänzlich anders zu bewerten als die prinzipielle Verwerfung der Juden im Koran, die von einem nichtjüdischen Prediger proklamiert wurde, weil er nur dadurch seiner Lehre überhaupt Daseinsberechtigung verleihen konnte, und die im selben Text den Aufruf zu antijüdischen Gewaltakten und Bluttaten evoziert.
Die Verwerfung der Juden im Koran hinderte einige islamische Herrscher nicht daran, eine judenfreundliche Haltung zu zeigen, doch die heute viel zitierten Beispiele islamisch-jüdischer Kooperation (etwa im Khalifat von Cordoba) bleiben historische Ausnahme. Die „Normalität“ islamischer Judenverachtung ist einer der Gründe, warum die zahlreichen Judenverfolgungen in muslimischen Ländern nicht einmal historiographischer Aufzeichnung für wert befunden wurden. Der Mangel an historischer Überlieferung judenfeindlicher Aktionen wird von heutigen Islam-Anhängern allen Ernstes als Beweis dafür angeführt, Juden wären in islamischen Staaten besser behandelt worden als in christlichen. In Wahrheit stellt bereits das Eingeständnis, die Wahrnehmung und Benennung, erst recht die Kritik des Phänomens Judenhass eine Kulturleistung christlich geprägter Gesellschaften dar, die der Islam bisher nicht erbracht hat.
Einer der Gründe für die Entstehung des Islam war das öffentliche Zerwürfnis zwischen Christen und Juden. Mohamed sah darin eine wichtige Legitimation für seine neue Lehre, indem er den gegenseitig bezeigten Hass der vorherigen „Schriftbesitzer“ als Zeichen ihrer Unglaubwürdigkeit ins Feld führte. Was die beiden Inhaber des Buches gegeneinander aufbringe, seien Eifersucht, Neid und andere niedrige Motive, heißt es im Koran an mehreren Stellen, nicht die „Liebe zum Anderen“, die Gott gebietet, folglich hätten beide „das Buch“ nicht verstanden und die göttliche Lehre nicht erfüllt. Abgesehen von der Frage, wie es der Koran selbst mit der „Liebe zum Anderen“ hält, ist die Kritik als solche zutreffend und wird, solange sich Christen und Juden als Feinde verstehen, immer wieder erhoben und von Dritten ausgenutzt werden.
Christlicher Judenhass half auch die antijüdische Ausprägung der beiden Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts legitimieren, Kommunismus und Nationalsozialismus, die beide aus christlichen Gesellschaften hervorgingen. Ähnlich wie der Islam brachten diese beiden Bewegungen die innere Ambivalenz zum Verstummen, die das christliche Verhältnis zu den Juden gekennzeichnet hatte, und machten den Antijudaismus zu einer im Rahmen der betreffenden Gesellschaften unbestrittenen, selbstverständlichen Haltung. Die Nazis begründeten ihn mit einer Rassentheorie, nach der Juden minderwertig wären, die Kommunisten mit der marxistischen Gesellschaftslehre, nach der Judentum in der kommenden Ordnung obsolet sei. Beide Totalitarismen gehen von der Schädlichkeit und Gefährlichkeit der Juden für das angestrebte neue Gemeinwesen aus. In beiden Fällen handelt es sich um Versuche, alten judenfeindlichen Stereotypen durch moderne „Wissenschaftlichkeit“ eine neue Glaubwürdigkeit, sogar „objektive Wahrheit“ zu verleihen und sie gewaltsam durchzusetzen. Während sich das deutsche NS-Regime anschickte, das Judentum durch physische Beseitigung seiner einzelnen Vertreter aus der Welt zu schaffen, versuchten es die sozialistischen Staaten durch Abbruch seiner natürlichen Kontinuität, Verhinderung seiner Ausübung und allmähliches Aussterbenlassen – zwei Methoden der Eliminierung des Jüdischen, die trotz aller Anstrengung scheitern und zum baldigen Zusammenbruch der Staaten, die sich darin versuchten, beitragen sollten.
Beide Totalitarismen sahen im Judentum eine Bedrohung, weil die totale Unterordnung des Einzelnen unter ihre jeweilige Erziehungsdiktatur durch jüdisches Denken in Frage gestellt wird. Diese Infragestellung bedeutet nicht unbedingt offene Auflehnung, aber – was vielleicht noch gefährlicher ist – eine mit totalitären Systemen unvereinbare, in ihrer Wirkung widerständige Denkstruktur. Wenn die Marxistin Rosa Luxemburg für den Sozialismus die „Freiheit der Andersdenkenden“ forderte, zeigte sich darin – auch wenn sie selbst sich dessen nicht bewusst sein mochte – traditionell jüdisches Denken, schriftlich überliefert seit den mosaischen Büchern, in denen immer wieder die Anerkennung und respektvolle Behandlung des „Fremden“ und „Anderen“ geboten wird, im jüdischen Alltagsleben belegt durch den Jahrtausende alten Shabat-Segen, der den „Fremden“ ausdrücklich einbezieht. Der Shabat ist eins der frühesten menschlichen Symbole für das, was wir „Freiheit“ nennen, die erste aus der Geschichte bekannte Zuerkennung eines arbeitsfreien Tages. Die Einbeziehung des Fremden in diesen Segen war die Formel seiner – in einer Welt der Sklavenhalterei revolutionären – rechtlichen Gleichstellung. Was dazumal einer „Freiheit für Andersdenkende“ entsprochen hätte, die Freiheit für andere Religionen, wird gleichfalls früh im biblischen Buch Micha 4,5 gefordert und fortan in der jüdischen Gesellschaft gewährt – ein solches „Toleranzedikt“ ist aus so früher Zeit von keinem anderen Volk bekannt. Diese frühen Denkstrukturen, denen das Judentum durch das Auf und Ab seiner Geschichte verpflichtet blieb, machen die geforderte totale Unterwerfung des Einzelnen unter die Gesellschaftstheorien des Sozialismus oder Nationalsozialismus unmöglich.
Antijudaismus gehört auch zum Inventar modernen bürgerlichen Denkens. Das überlieferte Zerrbild des Juden findet sich als Grundmuster neuer, vorgeblich „wissenschaftlicher“ Untersuchungen zum Thema, wie sie mit dem Aufkommen des bürgerlichen Antisemitismus entstehen. So betrachtete etwa der deutsche Volkswirtschaftler Werner Sombart in zwei Aufsätzen, die 1910 in der Zeitschrift „Die Neue Rundschau“ erschienen, „die Durchdringung des modernen Wirtschaftslebens mit jüdischem Geiste“, worauf sich später seine bekannte Untersuchung Die Juden und das Wirtschaftsleben stützte. Wie Wilhelm Marr, der Gründer der „Liga der Antisemiten“, kam Sombart aus der politischen Linken, sein Impetus aus der Kritik am Kapitalismus, dessen negative Seiten er weitgehend mit jüdischen Einflüssen verbindet. Er vertritt die These, Juden hätten durch die Jahrhunderte mit Vorliebe Schund produziert und betrügerisch unter die Leute gebracht, sich überhaupt amoralischer Geschäftspraktiken bedient und dadurch die Moral der kapitalistischen Wirtschaft unterhöhlt. Daher könne der Antisemitismus als verständliche Ablehnung jüdischer Amoral durch gesund empfindendes Bürgertum gesehen werden.
Von da bis zu Hitlers Rassentheorie war es nur noch ein Schritt: die Theoretiker des Nationalsozialismus mussten diesem Ansatz lediglich hinzufügen, dass Amoral, Betrug und Gesinnungslosigkeit „rassisch“ im jüdischen Volk verankert wären. Auch Sombart hatte diesen Aspekt erwogen, schreckte dann aber vor den Konsequenzen zurück und bediente sich für seine Beweisführung der „statistischen Methode“. Sein Aufsatz erschien in einer Zeitschrift, die dem Verleger Samuel Fischer, einem Juden, gehörte – es sei erwähnt, um die Toleranz zu zeigen, mit der deutsche Juden andere Meinungen gelten ließen, selbst solche, die ihnen schadeten. Sombarts Thesen belegen die erschreckende Popularität judenfeindlicher Stereotype im deutschen Geistesleben der letzten Jahrzehnte vor dem Nationalisozialismus.
Insgesamt gehen die modernen Spielarten des Antijudaismus in ihren Forderungen, erst recht in ihren gewalttätigen Umsetzungen, über christlichen Judenhass hinaus. Indem sie sich des im Christentum immer bestehenden Zusammenhangs zwischen jüdischer und christlicher Bibel entledigten und überhaupt aller biblischen Werte, nahmen sie, ganz im Sinne ihrer totalitären Weltbilder, eine totale Abschaffung des Jüdischen in Angriff, die nie auf der Tagesordnung christlicher Gesellschaften stand. Im Gegenteil: christliche Judengegner hatten meist betont, dass es die Juden geben müsse, sei es als „Monument“ biblischer Historizität, wie sie der Historiker Ferdinand Gregorovius für das Rom der Päpste belegt, sei es als negatives Beispiel für die „Verstocktheit“ gegenüber dem wahren Glauben. Erst moderne Gesellschaften entwickelten Konzepte zur totalen Abschaffung des Jüdischen und, darin eingeschlossen, des originär Biblischen. Konsequenterweise richtete sich ihr Eliminierungswunsch dann auch gegen die Christen als Vertreter des biblischen Konzepts, so dass sich, nach zweitausend Jahren Judenverfolgung in christlich beherrschten Gesellschaften, nun plötzlich Christen an der Seite der Juden wiederfanden: in der Rolle von Verfolgten und Opfern.
Offenbar hat dieser Vorgang die Solidarität zwischen Christen und Juden neu belebt. Der Schock-Effekt, eine heilsame Nebenwirkung des Schrecklichen, blieb noch einige Zeit im Obskuren, sozusagen verdunkelt von der Nachwirkung des Schreckens selbst. Doch heute, einige Jahrzehnte nach Europas Katastrophe, lässt sich eine neue Topographie erkennen. Das Christentum ist nicht mehr weltliche Macht und monopolisierte Staatsreligion, sondern wieder – um es mit Reuchlin zu sagen – „Sekte“ geworden, juristisch gleichgestellt mit der jüdischen. Die modernen Totalitarismen, Nationalsozialismus und Kommunismus, haben Christen von Neuem in die Lage gebracht, in der Juden über Jahrhunderte waren: sich um ihr Überleben sorgen zu müssen, Lebensformen zu entwickeln, wie dieses Überleben auch unter widrigen Umständen zu behaupten ist. Diese Erfahrung hat ihnen geholfen, das Christentum zu seinen eigenen Ursprüngen zurückzuführen und mit seiner jüdischen Herkunft zu verbinden, die in den langen Jahrhunderten kirchlicher Teilhabe an der Staatsmacht dem allgemeinen christlichen Bewusstsein entfallen war.
Auf der anderen Seite haben die Juden ihre vor rund zweitausend Jahren eingebüßte Staatlichkeit wiedererlangt, sehen sich also mit Problemen konfrontiert, die während der letzten zwei Jahrtausende Christen vorbehalten blieben: Sicherung und Verteidigung ihres Landes, Kriegführung, internationale Politik, Umgang mit auf ihrem Staatsgebiet lebenden Minderheiten. Beider, Christen wie Juden, Situation im existenziellen Kontext hat die Einseitigkeit eingebüßt – die Christen fixiert auf die Macht, die Juden fixiert auf die Ohnmacht –, die sie noch vor wenigen Jahrzehnten kennzeichnete. Ein so tiefgreifender Rollenwechsel bringt auf beiden Seiten verfestigte Sichtweisen und Strukturen in Bewegung. Er macht geneigt zum Verständnis, offen für den Dialog. Insofern bietet diese Zeit, mit dem Erbe, das wir zu tragen haben und den Herausforderungen, die vor uns liegen, die historische Gelegenheit zu einem Neubeginn.
Der Autor
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ursprünglich Hans Noll, wurde 1954 als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll in Berlin (Ost) geboren. Dem Studium der Mathematik in Berlin und Jena folgt ein Studium der Kunst und Kunstgeschichte. Noll war Meisterschüler der Akademie der Künste. Anfang der 80er Jahre verweigert er den Wehrdienst und wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Chaim Noll löst sich aus seinen Bindungen an Staat und Partei, was zugleich den Bruch mit seinem Vater nach sich zieht. 1984 wird Noll ausgebürgert, geht in den Westen, arbeitet als Journalist und beginnt eine Karriere als Schriftsteller.
Von 1992 bis 1995 lebt er in Rom und geht von dort nach Israel, wo er 1998 eingebürgert wird. Er lebt heute in der Wüste Negev und ist Writer in Residence und Dozent am Center for International Student Programs der Ben Gurion Universität Beer Sheva. Zu seinem schriftstellerischen Werk gehören Gedichte, Erzählungen, Romane und Essays.
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