Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 248

Dezember 2016

Am geschichtsträchtigen Datum des 9. November 2016 verabschiedete die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland eine "Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes" unter dem Titel: „… der Treue hält ewiglich.“ (Psalm 146,6). Im Kern richtet sich die Erklärung vor allem gegen eine Missionierung von Juden und betont die "bleibende Erwählung Israels".

Kaum ein, zwei Tage später lagen erste Reaktionen auf die Erklärung vor: So hat beispielsweise der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit die Erklärung als unmißverständliche "Absage an die Judenmission" überschwenglich begrüßt. Dem entgegen hat wiederum beispielsweise Steffen Kern, Pfarrer und Vorsitzender des Evangelischen Gemeinschaftsverbandes Württemberg, betont, die Erklärung könne nicht als "Infragestellung des Christuszeugnisses gegenüber Israel" gelesen werden und mache deutlich, dass "aus christlicher Sicht ... kein Heil an Christus vorbei" führe.

Die hier beispielhaft genannten, völlig konträren Lesarten ein und derselben Erklärung irritieren und deuten an, dass es der Synoden-Erklärung möglicherweise an der gewünschten (und postulierten) Eindeutigkeit fehlt und sie theologische Lesarten eröffnet, die bis hin zum Gegenteil ihrer eigentlichen Intention reichen.

Vor diesem etwas zwiespältigem Hintergrund mag eine nüchterne und sachliche Analyse aus kompetenter theologischer Feder hilfreich sein. Genau dies hat der evangelische Theologe Hans Maaß mit nachfolgendem Text versucht. Der seit Jahrzehnten im christlich-jüdischen Dialog bewanderte Theologe stellt die Synoden-Erklärung zunächst in einen Kontext mit anderen - evangelischen wie katholischen - Erklärungen, um danach schließlich ihre theologischen Schwächen und Stärken herauszuarbeiten: "Der Jude Jesus in offiziellen christlichen Erklärungen. Zur jüngsten Erklärung der EKD-Synode über die Judenmission".

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Beitrags an dieser Stelle!

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Online-Extra Nr. 248


Der Jude Jesus in offiziellen christlichen Erklärungen

Zur jüngsten Erklärung der EKD-Synode über die Judenmission


HANS MAASS

Die Erklärung der EKD-Synode vom 9. November 2016 „… der Treue hält ewiglich.“ (Psalm 146,6)* und die vielfältigen, teils recht unterschiedlichen Reaktion darauf fordern eine Beschäftigung mit den verschiedenen kirchlichen Erklärungen und Dokumenten, die nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoa zum Verhältnis von Christen und Juden veröffentlicht wurden.


1. Offizielle kirchliche Erklärungen zum Verhältnis Christen und Juden


1.1 Seelisberger Thesen


Im Juli 2009 verabschiedete der ICCJ bei der Berliner Tagung anlässlich seiner Mitgliederversammlung eine Neuverpflichtung auf die sechzig Jahre zuvor, im Sommer 1947 veröffentlichen Seelisberger Thesen. Daran erinnert der erste Satz dieser Neuverpflichtung:


„Im Sommer 1947 versammelten sich 65 Juden und Christen aus 19 Ländern im schweizerischen Seelisberg. Sie kamen zusammen, um ihre tiefe Trauer über die Schoa auszudrücken, ihre Entschlossenheit, den Antisemitismus zu bekämpfen, und ihren Wunsch, stärkere Beziehungen zwischen Juden und Christen zu fördern. Sie brandmarkten den Antisemitismus sowohl als Sünde gegen Gott und die Menschheit als auch als Gefahr für die moderne Kultur. Um diese grundlegenden Anliegen zur Sprache zu bringen, veröffentlichten sie zudem einen Aufruf in Gestalt von zehn Thesen an die christlichen Kirchen, ihr Verständnis des Judentums sowie die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum zu reformieren und zu erneuern.“


In diesen Seelisberger Thesen werden einige Grundsätze festgehalten, die in der kirchlichen Praxis in Verkündigung, Unterricht und Lehr zu berücksichtigen sind. Im Blick auf die Synodalerklärung der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980 sind bereits die beiden ersten Thesen von Belang; denn sie scheinen im Blick auf die christologischen Aussagen schon weiter fortgeschritten als der Rheinische Synodalbeschluss; ein Vergleich zur Erhärtung dieser These wird in diesem Zusammenhang erfolgen. Hier zunächst der Wortlaut dieser beiden Thesen:


„1. Es ist hervorzuheben, dass ein und derselbe Gott durch das Alte und Neue Testament zu uns allen spricht.
2. Es ist hervorzuheben, dass Jesus von einer jüdischen Mutter aus dem Geschlechte Davids und dem Volke Israel geboren wurde, und dass seine ewige Liebe und Vergebung sein eigenes Volk und die ganze Welt umfasst.“1


Diese grundlegende Einsicht wurde in der Neuverpflichtung mit folgenden Formulierungen aufgenommen:


„Indem wir Jesu grundlegende Identität als Jude seiner Zeit anerkennen und seine Lehren innerhalb des Kontexts des Judentums des ersten Jahrhunderts interpretieren.“2


Die Seelisberger Thesen betonen erstmals in einem offiziellen Dokument ausdrücklich das Judesein Jesu; aber sie verleihen dieser Erkenntnis einen kirchlichchristlichen Unterton, indem sie darauf verweisen, „dass seine ewige Liebe und Vergebung sein eigenes Volk und die ganze Welt umfasst“, und verpacken darin auf diese Weise wenigstens andeutungsweise die christliche Erlösungslehre. Die Neuinterpretation verzichtet darauf und verweist statt dessen auf Jesu Verwurzelung im Judentum des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung.


1.2 Nostra Aetate

Hohes Ansehen im Blick auf ein neues Verhältnis zu den Juden genießt allgemein die Konzilserklärung von 1965 „Nostra Aetate“, obwohl dort das Judentum unter den Oberbegriff „Nichtchristliche Religionen“ subsummiert wird und dabei auch noch an letzter Stelle rangiert. Auch wer Maximilian Gottschlichs ausführliche Darstellung der Kämpfe zwischen verschiedenen Konzilsparteien kennt,3 wird nicht umhin können festzustellen, dass mit dieser Einordnung der besonderen Beziehung zwischen Christen und Juden nicht genügend Rechnung getragen wird, auch wenn Abschnitt 4 von „Nostra Aetate“ beginnt:


„Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.“4


Eigentlich gilt das Interesse dem „Geheimnis der Kirche“; das Volk Israel wird lediglich als „Stamm Abrahams“ wahrgenommen, nicht mit seiner jahrhundertelangen Geschichte. Diese wird vielmehr christlich interpretiert, wenn es etwa heißt:


„So anerkennt die Kirche Christi, daß nach dem Heilsgeheimnis Gottes die Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung sich schon bei den Patriarchen, bei Moses und den Propheten finden.“


Sollen diese damit gewissermaßen zu einer Art „Ur-Christen“ gemacht werden? Oder gilt Gottes Bund mit Israel eigentlich der Kirche und Israel ist als deren Präfiguration verstanden?


„Sie bekennt, daß alle Christgläubigen als Söhne Abrahams dem Glauben nach in der Berufung dieses Patriarchen eingeschlossen sind und daß in dem Auszug des erwählten Volkes aus dem Lande der Knechtschaft das Heil der Kirche geheimnisvoll vorgebildet ist.“


Aussagen über das Judesein Jesu werden dagegen geschickt umgangen, sie sind allenfalls indirekt aus dem Pauluszitat zu erschließen; aber man sah sich offensichtlich nicht in der Lage, Jesu Judesein ausdrücklich festzustellen.


„Denn die Kirche glaubt, daß Christus, unser Friede, Juden und Heiden durch das Kreuz versöhnt und beide in sich vereinigt hat. Die Kirche hat auch stets die Worte des Apostels Paulus vor Augen, der von seinen Stammverwandten sagt, daß »ihnen die Annahme an Sohnes Statt und die Herrlichkeit, der Bund und das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen gehören wie auch die Väter und daß aus ihnen Christus dem Fleische nach stammt« (Röm 9,4-5), der Sohn der Jungfrau Maria.“


Statt eines ausdrücklichen Bekenntnisses zu Jesus als Juden wird der Ton darauf gelegt, dass er durch seinen Kreuzestod Juden und Heiden versöhnt habe. Auch die Möglichkeit, Jesu Judesein dadurch zu unterstreichen, dass er durch Maria von einer jüdischen Mutter abstammt, also sogar nach halachischen Regeln Jude ist, wird nicht aufgegriffen.

In dieser Hinsicht bleibt diese Konzilserklärung deutlich hinter den Seelisberger Thesen zurück, auch wenn sie das „gemeinsame geistliche Erbe“ von Christen und Juden betont. Immerhin wurde der jahrhundertelangen antijüdischen kirchlichen Tradition, die dazu führte, dass die Christenheit auch gegenüber der nationalsozialistischen Judenhetze immunisiert war, insofern Rechnung getragen, als man sich vorsichtig von der traditionellen Lehre von der jüdischen Schuld am Tod Jesu distanzierte:


„Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen.“


Zu mehr war offensichtlich nur die historisch-kritische Bibelexegese fähig; denn auch die Seelisberger Thesen waren in dieser Hinsicht nicht mutiger:


„7. Es ist zu vermeiden, die Passionsgeschichte so darzustellen, als ob alle Juden oder die Juden allein mit dem Odium der Tötung Jesu belastet seien. Tatsächlich waren nicht alle Juden, welche den Tod Jesu gefordert haben. Nicht die Juden alleine sind dafür verantwortlich, denn das Kreuz, das uns alle rettet, offenbart uns, dass Christus für unser aller Sünden gestorben ist.“5


Aber selbst, wo sich Nostra Aetate von der Theorie von der Verfluchung des Volkes Israel distanziert, bleibt die traditionelle Enterbungstheologie dem Prinzip nach erhalten:


„Gewiß ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern. Darum sollen alle dafür Sorge tragen, daß niemand in der Katechese oder bei der Predigt des Gotteswortes etwas lehre, das mit der evangelischen Wahrheit und dem Geiste Christi nicht im Einklang steht.“6


Gibt es also fortan zwei Gottesvölker? 1965 war offensichtlich die Zeit für eine solche theologische Eindeutigkeit noch nicht reif. Auch ein evangelischer Theologe wie etwa Martin Gotthard Schneider konnte sogar noch 1975 singen: „Freut euch, wir sind Gottes Volk“.7


1.3 Die Rheinische und Badische Synodalerklärung von 1980 bzw. 1984


Beide Erklärungen kann man insofern zusammenfassen, als sich die Badische Erklärung ausdrücklich auf die Rheinische ausdrücklich bezieht8 und als deren Weiterarbeit versteht.

Bezüglich der Frage nach Jesu Judesein hatte die Rheinische Synode 1980 in ihrer „Erklärung zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ u.a. festgestellt:


„(3) Wir bekennen uns zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet.“9


Einerseits ist dies ein klares Bekenntnis zur Jüdischkeit Jesu; wenn auch nicht wie in den Seelisberger Thesen durch den Hinweis auf die jüdische Mutter klargestellt wird, dass Jesus auch nach halachischen Vorschriften ein echter Jude war. Dennoch sind gegen diese Definition gewisse Vorbehalte nicht nur angebracht, sondern geradezu unvermeidlich: Zwar kann eine christliche Kirche aufgrund ihres Bekenntnisses Jesus als den Retter der Welt bezeichnen. Kann sie aber gerade in einem Dokument, das ausdrücklich der „Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ dienen will, ihn auch als „Messias Israels“ bezeichnen, wenn gerade diese Aussage von den Juden bestritten wird?

Der evangelische Theologe Peter Hirschberg, der mehrere Jahre an der evangelischen Himmelfahrtkirche der Auguste-Viktoria-Stiftung in Jerusalem tätig war, hat 2009 in einem „fiktiven Symposion“ die Unterschiede zwischen jüdischem und christlichem Messiasverständnis deutlich herausgestellt. Eine Zwischenüberschrift dieses Textes lautet dabei: „Natürlich ist Jesus nicht der Messias Israels“; anschließend fordert er:


„Zum Dialog gehört es, sich verständlich zu machen. Dabei geht es nicht um Konfliktvermeidung, aber darum, den Konflikt dort auszutragen, wo er seinen Platz hat, und eben nicht an irgendwelchen Nebenschauplätzen. Wenn deshalb Christen Juden gegenüber klarmachen wollen, wer für sie Jesus Christus ist, warum sie an ihn glauben, welchen Stellenwert er im Ganzen des christlichen Glaubens hat, dann sollten sie gerade bei der Messiasfrage sehr vorsichtig und differenziert argumentieren..“10


Ob Hirschberg damit die Formulierung der Rheinischen Synode im Blick hatte, lässt sich dem Text nicht entnehmen; aber diese Vorsicht ist ihr gegenüber jedenfalls angebracht.

Die Badische Synode hat dies versucht, indem sie die Begrifflichkeit „Messias der Juden“ vermied; aber ihre Formulierung verrät dennoch die theologische Unsicherheit, die auch 1984 hinsichtlich der Heilsbedeutung Jesu noch bestand:


„Wir Christen bekennen uns zu Jesus, der ein Jude war, als dem für alle gekreuzigten, auferstandenen und wiederkommenden Herrn, dem Heiland der Welt. Mit Schmerz und Trauer stellen wir fest, daß uns dieses Bekenntnis vom Glauben des jüdischen Volkes trennt.“11


Über die Bedeutung des Schlusssatzes von Schmerz und Trauer entbrannte eine jahrelange Diskussion, in der es um die Frage ging, ob damit der Schmerz und die Trauer darüber gemeint seien, dass die Juden Jesus nicht als den verheißenen Messias anerkennen (Verstockungsmotiv) oder darum, dass es uns auch als Kirche nicht gelingt, mit Juden eine gemeinsame Einschätzung der Bedeutung Jesu zu erzielen, womit in jedem Fall ein Verzicht auf einige christliche Bekenntnisaussagen verbunden wäre. So klingt beispielsweise die Bezeichnung Jesu als „für alle gekreuzigten, auferstandenen und wiederkommenden Herrn“ etwas unreflektiert. Wer ist mit „alle“ gemeint? Auch Juden? Auch Buddhisten und Muslime? Auch Atheisten und Agnostiker? Entspricht diese undifferenzierte Ausdrucksweise überhaupt dem neutestamentlichen Zeugnis? Müsste man nicht differenzierter sagen, „für alle, die an ihn glauben“?

Dieser Überblick zeigt, wie schwer es selbst Kreisen, die an einem erneuerten Verhältnis von Christen und Juden interessiert waren und sind, fällt, die Fesseln jahrtausendelanger Denktraditionen abzuwerfen.



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2. Die Erklärung der EKD-Synode vom 9. November 2016


2.1 Wegbeschreibung

Am 9. November 2016 verabschiedete die EKD-Synode die Erklärung "'… der Treue hält ewiglich.' (Psalm 146,6). Eine Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes".12 Diese Erklärung beginnt mit einer Wegbeschreibung; denn sie versteht sich als Wort der Landeskirchen „auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017“ Auf diesem Weg werden verschiedene bereits erreichte Stationen abgeschritten, darunter als erste die EKD-Synode von Berlin-Weißensee 1950, die immerhin den Fortbestand der göttlichen Verheißungen für Israel feststellte, wenn sie auch mit ihrer Bezugnahme auf Jesu Kreuzigung zu erkennen gab, dass sie den uralten Gottesmord-Vorwurf an die Juden noch nicht wirklich überwunden hatte:


„1950 erklärte die Synode der EKD in Berlin-Weißensee, »daß Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.«“13


Was soll die Formulierung „auch nach der Kreuzigung …“? Was hat die Kreuzigung Jesu mit dem „erwählten Volk Israel“ zu tun? War hier das apostolische Glaubensbekenntnis nicht sachlich richtiger und damit auch theologisch weiter, wenn es bekennt, „gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben …“ – und zwar ohne jeglichen Hinweis auf eine jüdische Mitwirkung!? Daran wird deutlich, wie weit und stellenweise mühsam dieser Weg war.

Die EKD-Studien „Christen und Juden“ werden als Wegstationen ebenso genannt wie der Rheinische Synodalbeschluss von 1980, wobei die hier unter 1.3 kritisch betrachtete Bezeichnung Jesu als „dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist“ zitiert wird – ergänzt durch die Feststellung: „Die Tatsache, dass Juden dieses Bekenntnis nicht teilen, stellen wir Gott anheim.“14

Unter Ziff 5 wird auf den Ertrag der zahlreichen seit den Anfängen stattgefundenen Gespräche auf verschiedenen Ebenen verwiesen:


„In der Begegnung mit jüdischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern haben wir gelernt, einander gleichberechtigt wahrzunehmen, im Dialog aufeinander zu hören und unsere jeweiligen Glaubenserfahrungen und Lebensformen ins Gespräch zu bringen. Auf diese Weise bezeugen wir einander behutsam unser Verständnis von Gott und seiner lebenstragenden Wahrheit.“15


Wichtig sind in diesem Zusammenhang jedoch auch die Feststellungen, die den geschichtlichen Stationen zu Beginn dieser Erklärung vorgeschaltet sind:


„Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 hat sich die Synode der EKD im Herbst 2015 mit dem Verhältnis Martin Luthers zu den Juden beschäftigt. Sie hat sich von Luthers Schmähungen gegenüber Juden distanziert und festgehalten, dass seine Sicht auf das Judentum nach unserem heute erreichten Verständnis mit der biblisch bezeugten Treue Gottes zu seinem Volk unvereinbar ist. In ihrer Erklärung vom 11. November 2015 hat die Synode die Notwendigkeit weiterer Schritte der Umkehr und Erneuerung benannt. Auf dem Weg der Umkehr und Erneuerung äußern wir uns auf unserer diesjährigen Tagung zur Frage der sogenannten ‘Judenmission‘. Dabei steht uns vor Augen, dass dieses Thema – wenn auch in unterschiedlicher Weise – sowohl für Juden als auch für Christen mit Fragen ihrer Identität verbunden ist. Für die christliche Kirche ist ihr Selbstverständnis als Kirche Jesu Christi berührt. Juden verbinden damit eine lange und schmerzhafte Geschichte von Zwangskonversionen und der Bestreitung ihrer Identität als bleibend erwähltes Volk Gottes.“16


Erfreulich ist die klare Feststellung, dass Luthers Sicht auf das Judentum „mit der biblisch bezeugten Treue Gottes zu seinem Volk unvereinbar ist.“ Dabei hätte man durchaus auch darauf eingehen können, dass ja nicht nur Luthers Sicht des Judentums problematisch ist, sondern dass vor allem auch die darauf beruhenden Empfehlungen und Forderungen an die Fürsten der gesamten biblischen Botschaft Alten und Neuen Testaments dezidiert widersprechen.

Noch weniger eindeutig ist allerdings die Bewertung der Judenmission, wobei auch hier wieder anerkennend hervorzuheben ist, dass man dieses „heiße Eisen“ überhaupt angepackt hat, wenn auch ohne eindeutige Konsequenzen. Hierzu muss man sich allerdings den genauen Wortlaut ansehen. Die Synode gesteht:


„Dabei steht uns vor Augen, dass dieses Thema – wenn auch in unterschiedlicher Weise – sowohl für Juden als auch für Christen mit Fragen ihrer Identität verbunden ist.“


An dieser Stelle lässt sich durchaus kritisch fragen, inwiefern für die Christenheit mit der Frage der Judenmission tatsächlich die Frage ihrer eigenen Identität verbunden ist. Trifft tatsächlich die Behauptung zu: „Für die christliche Kirche ist ihr Selbstverständnis als Kirche Jesu Christi berührt.“? Mehrere Möglichkeiten einer Antwort sind denkbar:


- Es könnte sein, dass hinter dieser Äußerung die Erkenntnis steht, Judenmission bedeute Leugnung der eigenen Wurzeln, wie schon der Apostel Paulus die Gemeinde in Rom erinnerte (Röm 11,18), „so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich.“

- Es könnte aber auch sein, dass dahinter die Überzeugung steht, Mission gehöre zum „Kerngeschäft aller christlichen Kirchen“, wie Herrmann Barth 2008 in einem Interview ausgedrückt hat und dabei auch Judenmission nicht ausschloss; denn: „Bei einem Blick ins Neue Testament kann man feststellen, dass die ersten christlichen Gemeinden keine Probleme damit hatten.“"17


Auf jüdischer Seite lassen sich ebenfalls mehrere Gründe denken, warum Judenmission für sie ein problematischer, die Identität gefährdender Begriff ist:


- Sicher spielt die geschichtliche Erinnerung eine Rolle: „Juden verbinden damit eine lange und schmerzhafte Geschichte von Zwangskonversionen“. Dies stellt die Synode sicher mit Recht fest, auch wenn die damit angesprochene Zeit schon lange zurückliegt.

- Mindestens ebenso wichtig ist allerdings dass in jeder, vor allem aber in der angeblich gut gemeinten Missionsabsicht die jüdische religiöse Existenz – vielleicht ungewollt – als defizitäre Religion gebrandmarkt wird. Dies meint die Synode wohl mit dem Begriff „Bestreitung ihrer Identität als bleibend erwähltes Volk Gottes“.

Angesichts dieser Tatsache ist es nicht ausreichend, wenn nur darauf verwiesen wird, man habe sich mit dieser Frage befasst, und allgemein festgestellt wird, dass damit für Christen wie für Juden Fragen ihrer Identität berührt sind. Dies gilt umso mehr, wenn man mit der Weißensee-Synode von 1950 erklärt. dass „Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel […] in Kraft geblieben ist.“18

Können Religionen, die gelernt haben, „einander gleichberechtigt wahrzunehmen, im Dialog aufeinander zu hören und unsere jeweiligen Glaubenserfahrungen und Lebensformen ins Gespräch zu bringen“,19 einander überhaupt zu missionieren versuchen? Ist dies nicht ein Widerspruch in sich selbst? Zudem: Welchen Gewinn hätten denn Juden von einer Konversion, wenn Gottes Verheißungen für das Volk Israel weiterhin in Kraft sind? Wie ehrlich ist die in Ziff. 4 der Erklärung gemachte Aussage:


„Dankbar blicken wir auf vielfältige Formen der Begegnung von Christen und Juden und durch solche Begegnungen eröffnete Lernwege. Diese bereichern uns. Sie helfen uns, die religiöse Eigenständigkeit des Judentums zu achten und den eigenen Glauben besser zu verstehen. Wir bekräftigen unseren Wunsch, diese Begegnungen fortzuführen und sie, wo immer möglich, mit Blick auf unsere gemeinsame Verantwortung vor Gott und in der Welt zu intensivieren.“20


Müssen daraus nicht eindeutige Konsequenzen folgen, wegen der „religiösen Eigenständigkeit des Judentums“ logischerweise der Verzicht auf jede Art von Missionstätigkeit? Hier fehlt es der Erklärung an Eindeutigkeit. Dass das jeweilige „Verständnis von Gott und seiner lebenstragenden Wahrheit“ gegenseitig behutsam bezeugt werden soll, zeigt, wie unklar die Position innerhalb der eigenen kirchlichen Gruppierungen ist. Heißt dies, man solle dabei eben nur behutsam vorgenehen?

Oder soll etwa mit der am Ende von Ziff. 2 getroffenen Feststellung, dieses „klare“ Nein zur Judenmission ausgedrückt sein:


„Christen sind – ungeachtet ihrer Sendung in die Welt – nicht berufen, Israel den Weg zu Gott und seinem Heil zu weisen. Alle Bemühungen, Juden zum Religionswechsel zu bewegen, widersprechen dem Bekenntnis zur Treue Gottes und der Erwählung Israels.“


Offensichtlich ist diese Aussage als Absage an die Judenmission gemeint; aber diese ist doch ein wenig versteckt und eigentlich nur für in theologischer Denkweise und Begrifflichkeit Bewanderte sofort als eine Absage an jede Form von Judenmission erkennbar.

Ebenso steril verpackt ist der als Ziff. 6 anvisierte Blick in die Zukunft:


„Wir sehen uns vor der Herausforderung, unser Verhältnis zu Gott und unsere Verantwortung in der Welt auch von unserer Verbundenheit mit dem jüdischen Volk her theologisch und geistlich zu verstehen und zu leben.“21


Eine echte Herausforderung bedeutet die Wahrnehmung, d.h. das Erkennen und Umsetzen einer gemeinsamen Verantwortung für die Welt in der Tat, will sich die Überwindung einer judenfeindlichen Einstellung nicht in Freundlichkeiten erschöpfen, sondern theologisch verantwortlich ausgedrückt und gelebt werden.


2.2 Öffentliche Resonanz

Die Erklärung der Synode wurde in der Öffentlichkeit überwiegend positiv aufgenommen, auch wenn bestimmte innerkirchliche Kreise zurückhaltend bis ablehnend reagierten.

Eine der ersten positiven Stellungnahmen kam vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Präsidium und Vorstand bestätigen der EKD: „Mit dieser Kundgebung distanziert sich die Synode klar von der Judenmission und bekräftigt das sich entwickelnde neue Verhältnis der Kirche zum Judentum.“22 Damit ist wohl die Absicht dieser Erklärung getroffen, aber wird die Distanzierung von der Judenmission darin tatsächlich so klar ausgesprochen?

Auch Rabbiner Andreas Nachama, der jüdische Präsident des DKR, liest diese Synodalerklärung in dieser Weise, auch wenn er das wertende Adverb „klar“ vermeidet: „Endlich ein Nein der EKD zur Judenmission“.23 Allerdings geht er in seinem Artikel vor allem auf die Frage ein, ob damit die Aufgabe – er spricht sogar wohl nicht zufällig von „Mission“ – der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit erfüllt sei, und verneint dies mit zwei Hinweisen, die die Aktualität dieser Arbeit unterstreichen.


- „Die Berliner Fakultät der Evangelischen Theologie an der Humboldt-Universität ist von dieser Tradition24 noch immer stark geprägt, wie der jüngste Vorschlag der Herabstufung der Hebräischen Bibel zu einer apokryphen Schrift zeigt – oder auch die Querschüsse einer Berliner Professorin auf der Synode, die verlauten ließ, der EKD-Beschluss habe keine Dringlichkeit, und Jesus habe »eine Bezeugung seiner Heil bringenden Rolle auch und zuerst für das Volk, aus dem er stammt«.“


- „Doch immer noch gibt es Evangelikale, die Juden bekehren wollen, und das von Papst Benedikt wieder eingeführte Karfreitagsgebet, das um »Erleuchtung der Juden« bittet. Und immer noch insistieren Pfarrer für interreligiösen Dialog im Gespräch mit Juden: »Sie müssen verstehen ...«“.25


Auf diese Gruppierungen musste die Synode Rücksicht nehmen, weswegen die Stellungnahme zur Judenmission wohl nicht klarer und eindeutiger ausfiel. Sicher wollen diese Evangelikalen nicht Luthers antijüdische Gehässigkeiten rechtfertigen oder gar wiederbeleben, wenn sie sich äußern:


„Hier werde sichtbar, wie wichtig es sei, sich angesichts des 500-jährigen Reformationsjubiläums auf die theologischen Einsichten der Reformatoren zu besinnen. Der Beschluss der EKD-Synode lasse sich nicht mit dem „allein Christus“ in Einklang bringen.“26


Es geht also um das reformatorische „solus Christus“. Bei einem solchen Insistieren auf diesem Prinzip wird allerdings übersehen, dass dieses einst eine innerkirchliche Anforderung an die Verkündigung war, nicht aber einen Herrschaftsanspruch Christi gegenüber der ganzen Menschheit begründen sollte.

Oder: wenn von messianischen Juden der Organisation „Juden für Jesus“ behauptet wird,


„Paulus habe in jeder Stadt, in die er gekommen sei, seinen Mitjuden das Evangelium bekannt“,27


so wird damit die Konzeption der lukanischen Apostelgeschichte zum Maßstab erhoben, während Paulus selbst seine Mission ganz anders verstand:


„Röm 11 Paulus, ein Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, […] 3 von seinem Sohn Jesus Christus, unserm Herrn, […] 5 Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, in seinem Namen den Gehorsam des Glaubens aufzurichten unter allen Heiden, 6 zu denen auch ihr gehört, die ihr berufen seid von Jesus Christus.“


Paulus hatte also keinen Auftrag an Juden, obwohl es in seinen Gemeinden mit Sicherheit auch Juden gab, wie den Kapiteln über den Umgang mit Speisegeboten im 1. Korintherbrief und Römerbrief zu entnehmen ist.

Der Vorsitzende des Evangelischen Gemeinschaftsverbandes Württemberg, Pfarrer Steffen Kern, versucht der Synodalerklärung der EKD, der er als Synodaler zugestimmt hat, einen positiven Sinn abzugewinnen, indem er Aussagen hineinliest, die so nicht unmittelbar daraus zu entnehmen sind.


„Die EKD hält darin zweierlei fest: Zum einen formuliert sie, dass Israel Gottes erwähltes Volk ist und bleibt. Das ist eine wesentliche biblische Grundlinie, die Paulus in Römer 9 bis 11 entfaltet. Zum anderen hält sie fest, dass ein Glaubenszeugnis gegenüber Israel ebenso grundlegend zur Begegnung von Christen und Juden gehört: Christen bekennen sich „zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist“. Christen sind in alle Welt gesandt und bezeugen gegenüber Juden diese „lebenstragende Wahrheit“.“28


Dem ersten Satz dieses Abschnitts ist voll zuzustimmen; aber ist auch die zweite Behauptung dem Text zu entnehmen, ein Glaubenszeugnis gegenüber Israel gehöre ebenso grundlegend zur Begegnung von Christen und Juden?

Hier werden Dinge miteinander verwechselt und vermischt, die streng zu unterscheiden sind. Eine „Begegnung mit jüdischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern“ oder „vielfältige Formen der Begegnung von Christen und Juden und durch solche Begegnungen eröffnete Lernwege“29 sind keine Glaubenszeugnisse; im Gegenteil: solche „Glaubenszeugnisse“ würden die Basis derartiger vertrauensollen Gespräche und das Lernen voneinander zerstören. Lernen voneinander heißt ja nicht, die Meinung des Gegenübers zu übernehmen, sondern sie zu verstehen und zu respektieren und damit zugleich auch Fehlinformationen oder Gedankenlosigkeiten zu korrigieren, aber nicht sich gegenseitig zu bekehren.

In seiner unnachahmlichen Erzählkunst hat dies der erste Prälat der 1821 aus Lutheranern und Reformierten vereinigten Evangelischen Kirche in Baden, der Dichter Johann Peter Hebel, in einer Kalendererzählung unter dem Titel „Die Bekehrung“ wehmütig humorvoll dargestellt.

Von zwei Brüdern, die einander bestens verstehen, wird der eine katholisch und muss in die Fremde ziehen, während der andere lutherisch bleibt. Nach langer Trennung vereinbaren sie ein Treffen und unternehmen erste Schritte gegenseitigen Verstehens, besuchen sogar die Gottesdienste des jeweils anderen. Die beruflichen Pflichten rufen sie jedoch wieder zurück. Nach sechs Wochen schreibt der Jüngere seinem Bruder, er habe sich von dessen Argumenten überzeugen lassen und sei nun ebenfalls katholisch geworden. Dieser beschimpft ihn und teilt ihm mit, er sei nun wieder aus Überzeugung lutherisch geworden. Wie er es häufig tut, schließt Hebel seine Erzählung mit einer pädagogisierenden Schlussbemerkung:


„Merke: Du sollst nicht über die Religion grübeln und tüfteln, damit du nicht deines Glaubens Kraft verlierst. Auch sollst du nicht mit Andersdenkenden darüber disputieren, am wenigsten mit solchen, die es ebenso wenig verstehen als du, noch weniger mit Gelehrten, denn die besiegen dich durch ihre Gelehrsamkeit und Kunst, nicht durch ihre Überzeugung. Sondern du sollst deines Glaubens leben, und was gerade ist, nicht krumm machen. Es sei dann, dass dich dein Gewissen selber treibt zu schanschieren.“30


Stehen solche liberal-theologischen Überlegungen hinter dem Verzicht auf Judenmission oder eine echte Anerkennung der bleibenden Berufung Israels? Die bereits zitierte Formulierung, „Christen sind – ungeachtet ihrer Sendung in die Welt – nicht berufen, Israel den Weg zu Gott und seinem Heil zu weisen“, zeigt, dass hier nicht theologische Indifferenz im Spiel ist, sondern sehr wohl auf den Unterschied zwischen dem christlichen Auftrag gegenüber den Völkern der Welt und gegenüber Israel geachtet ist, gegenüber dem die Kirche keinen Auftrag hat.

Unter anderem hat dies als einer der ersten der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, bereits am 9. 11. 2016 unter der Überschrift, „Ich bin dankbar für eine klare Entscheidung“ hervorgehoben:


„Ich freue mich sehr über die klare Entscheidung der EKD-Synode, zumal es auch im Blick auf die Judenmission eine lange und furchtbare christliche Schuldgeschichte gibt:
Bei der Übergabe einer christlichen Kirche, der Kreuzkapelle, an eine Synagogengemeinde in Köln wurde mir das im Februar 2016 sehr eindrücklich bewußt. […]
1938 wurde die Kreuzkapelle zur „Kirchlichen Hilfsstelle für evangelische Nichtarier“ erklärt. Neben diakonischer Hilfe für getaufte Juden wurden aber auch, „mit Sakrament und Segen der Kirche … ganze jüdische Familien zur Vernichtung gottesdienstlich verabschiedet.“


Das Nein zur Judenmission verbindet sich also auch mit unserer Verantwortung nach der Shoa. Begründet ist es aber in unseren biblischen Texten. Weil es dort eben keine Mission für die nichtjüdischen Völker gibt, das Volk Israel zu Gott zu bekehren.“31

Er hat sich damit in die Tradition seiner Landeskirche gestellt, die seinerzeit als erste deutsche Landeskirche in einer Synodalerklärung das Verhältnis zu Juden und Judentum neu bestimmt hat.


2.3 Abschließende Würdigung

Die Synode stand offensichtlich vor einem Dilemma. Die Annahme dieser Erklärung erfolgte einstimmig, und dies war wohl auch beabsichtigt. Aber wie erzielt man bei einem aus vielerlei Richtungen zusammengesetzten Gremium Einstimmigkeit? Dies ist oft nur durch Formulierungen möglich, die sich so unterschiedlich akzentuieren und interpretieren lassen, dass mit der Zustimmung aller zu rechnen ist; dies gilt für kirchliche Organe und Gremien genauso wie in der Politik. Hierin liegen sowohl Stärke als auch Schwäche solcher Erklärungen.

Konkret bedeutet dies: Der EKD-Synode gehören auch Christen an, die Mission – und damit auch Judenmission – nicht nur befürworten, sondern für einen Auftrag aller Christen halten. Dies rief beispielsweise die Verwunderung, wenn nicht gar das Entsetzen eines evangelikalen Pastors hervor:


„Überrascht zeigt sich Lohmann, dass auch evangelikale Führungspersönlichkeiten wie Michael Diener und Steffen Kern der Synodenerklärung zugestimmt und sie durch Verlautbarungen verteidigt hätten.“32


Pastor Matthias Lohmann aus München hatte offensichtlich erwartet, dass wenigstens die beiden Genannten gegen diese Erklärung stimmten, und angedeutet, dass ihnen durch die von der Synode gewählte Formulierung gewissermaßen ein „Maulkorb“ verpasst worden sei.

Diener ist im Hauptamt Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes (Vereinigung Landeskirchlicher Gemeinschaften) sowie EKD-Ratsmitglied und Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz. Kern (er erläutert seine Position in einem Beitrag für idea auf Seite 14)33 amtiert als hauptamtlicher Vorsitzender des württembergischen Gemeinschaftsverbandes »Die Apis«.“34

Was steht hinter diesem Insistieren auf Judenmission? Spricht sich darin eigene Unsicherheit aus? Ist es Eifersucht? Hält man es nicht aus, nicht die Einzigen zu sein?

Offensichtlich ist eine „innerchristliche Mission“ erforderlich mit dem Ziel, die Bibel ernst zu nehmen, die von einem bleibenden Bund Gottes mit Israel spricht und von der Erwählung der Völker durch den Glauben an Christus – ohne die rituelle Tora Israels, dem Bundeszeichen Gottes mit seinem Volk Israel. Der messianische Jude Aaron Lewin hebt darauf ab:

„Die »andauernde Auserwähltheit Israels als Nation« ändere nicht die Tatsache, »dass jede einzelne jüdische Person sich noch einmal das Geschenk Gottes der persönlichen Rettung zu eigen machen muss, durch den Glauben an den Messias Jesus«. Jesus selbst habe zu einem ausschließlich jüdischen Publikum gesagt »Niemand kommt zum Vater denn durch mich« (Johannes 14,6).“ „Wenn diese Worte wahr sind, dann ist es wohl der schlimmste anti-jüdische Akt, den ein Christ begehen kann, wenn er die Botschaft des Evangeliums einer Person speziell deshalb vorenthält, weil sie jüdisch ist.“ “35

Auf ein derartiges Verständnis von Joh 14,6 hat schon 1913, bezeichnenderweise am Reformationstag, dem 31. Oktober, Franz Rosenzweig an seinen Vetter Rudolf Ehrenberg geschrieben, warum er nicht in der Lage sei, zusammen mit ihm den Schritt in die evangelische Kirche zu unternehmen:


„Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeutet, darüber sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn.
Es kommt niemand zum Vater – anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel (nicht des einzelnen Juden). Das Volk Israel, erwählt von seinem Vater blickt starr über Welt und Geschichte hinüber auf jenen letzten fernsten Punkt, wo dieser sein Vater, dieser selbe, der Eine und Einzige – »Alles in Allem«!“36


So alt ist diese Erkenntnis und immer noch nicht rezipiert! Es ist gut, wenn wir uns von Juden an den Wortlaut unserer eigenen Schriften erinnern lassen und diesen ernst nehmen, statt ihn oberflächlich wie Wasser auf unsere Mühlen zu leiten. Auch diese Art, auf die Feinheiten einer Bibelaussage zu achten, ist eine Frucht „der Begegnung von Christen und Juden und der durch solche Begegnungen eröffnete(n) Lernwege.“37



ANMERKUNGEN



* Für den Wortlaut siehe: http://www.jcrelations.net/der_Treue_h__lt_ewiglich____Psalm_146_6.5507.0.html?L=2
1   Zitiert nach: Freiburger Rundbrief Nr. 8/9, 1950: http://www.freiburger-rundbrief.de/de/?item=1308
2 Berliner Thesen, Quelle: ICCJ, Juli 2009, siehe: http://www.jcrelations.net/Zeit_zur_Neu-Verpflichtung__Die_Berliner_Thesen.214.0.html?L=2
3   Vgl. Maximilian Gottschlich UNERLÖSTE SCHATTEN. Christen und der neue Antisemitismus, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2015
4   Nostra Aetate, siehe: http://www.jcrelations.net/Nostra_Aetate_Nr__4.1330.0.html?L=2&page=4
5   Seelisberger Thesen, a.a.O.
6   Nostra Aetate, a.a.O.
7   EG 611 (Badischer Anhang)
8   Beschluss der Landessynode vom 3. Mai 1984, Vorbemerkung: „Im Rahmen einer Schwerpunkttagung hatte sich die Synode der Evangelischen Landes- kirche in Baden am 10./11.November 1980 mit dem Thema ,,Christen und Juden" befaßt. Sie hatte beschlossen, die Unterlagen der Schwerpunkttagung den Bezirkssynoden und Pfarrkonventen zur Bearbeitung zu übergeben. Diese Anregung ist in Kirchenbezirken und Gemeinden aufgenommen worden. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden vom Studienkreis ,,Kirche und Israel" gesichtet, ausgewertet und der Landessynode bei der Frühjahrstagung 1984 im Rahmen einer ausführlichen Berichterstattung vorgeIegt. Das Ergebnis der erneuten Beratung des Themas ,,Christen und Juden" veranlaßte die Landessynode zu folgender ERKLÄRUNG …“
9   www.ekir.de/www/downloads/ekir2005sonderdruck_christen_juden.pdf (Stand: 18.Nov. 2016)
10   http://www.imdialog.org/bp2009/02/01.html
11   Badische Synode 1984, a.a.O.
12   EKD-Synode; für den Wortlaut der Erklärung siehe hier: "… der Treue hält ewiglich."
13   Ebd.
14   Ebd.
15   Ebd.
16   Ebd.
17   Vgl. taz vom 21.4.2008
18   EKD-Synode 2016, a.a.O.
19   Ebd.
20   Ebd.
21   Ebd.
22   Deutscher Koordinierungsrat – Pressemitteilung vom 16.11.2016
23   Jüdische Allgemeine vom 17.11.2016
24   Gemeint ist die Abwertung des Alten Testaments durch die Deutschen Christen aber zuvor auch schon durch Adolf von Harnack.
25   Jüdische Allgemeine vom 17.11.2016
26   http://www.kath.net/news/57466
27   Ebd., „Juden für Jesus“
28   http://www.pro-medienmagazin.de/kommentar
29   Beide Zitate aus EKD-Synode, a.a.O.
30   Hrsg. Hannelore SCHLAFFER, Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes, Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen 1980, S. 220. – Gemeint ist: „changieren“
31   http://praesesblog.ekir.de/ekd-synode-eine-klare-entscheidung-zum-verhaeltnis-von-judenchristen/
32   Evangelium 21, zit. nach http://www.kath.net/news/57466
33   Siehe oben 2.2
34   http://www.kath.net/news/57466
35   Ebd.
36   Zitiert nach: Hrsg. Karl Thieme: Franz Rosenzweig, Die Schrift, Aufsätze, Übertragungen und Briefe, Jüdischer Verlag Athenäum. Königstein/Ts. 1984, S. 217
37   EKD-Synode 2016, a.a.O.




Der Autor

HANS MAASS

Dr. h.c.; Kirchenrat i.R. der evangelischen Landeskirche in Baden.

Er ist evangelischer Theologe war 18 Jahre lang Mitglied im Vorstand des Deutschen Koordinerungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR) sowie dort Mitglied im Redaktionsteam des vom DKR herausgegebenen "Themenheft".



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