Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 249

Januar 2017

Ein "Denkmal der Schande" sei es, das Holocaustmahnmal in Berlin. Und es werde Zeit, dass wir wieder eine positive Beziehung "zu unserer Geschiche" aufbauen, die "dämliche Bewältigungspolitik" verabschieden und eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" herbeiführen. Die Worte des thüringischen AfD-Landeschefs Bernd Hoecke vergangene Woche in Dresden dürfte vielen Unverbesserlichen im rechtspopulistischen Lager aus ihren verstockten Herzen gesprochen worden sein. Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Hoecke wegen Volksverhetzung. Das ist ohne Frage gut - ersetzt jedoch nicht die politische Auseinandersetzung mit den Geschichtsverdrehern in Schlips und Krawatte. Ein Instrument - unter vielen anderen - stellt seiner Intention nach ohne Frage auch der morgige Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus, der 27. Januar, dar, der einist vom soeben verstorbenen ehemaligen Bundespräsident Roman Herzog ins Leben gerufen wurde.

Ein Gedenktag kann freilich nie mehr als ein Anlass zur Erinnerung sein, viel wichtiger ist ohne Frage Form und Inhalt der Erinnerung selbst. In den letzten Jahrzehnten erwiesen sich dabei insbesondere die Zeugnisse der Überlebenden als wichtiger Motor der Erinnerung. Darüber hinaus gibt es freilich zunehmend eine zweite Form biographischer Erinnerung, die mindestens ebenso wichtig ist, ja, die gerade die Geschichtsverweigerer in besonderem Maße ins Mark trifft - und das sind die Erinnerungen, Auseinandersetzungen und biographischen Bewältigungsversuche der Kinder und Kindeskinder auf der "Täterseite" des Unrechts. Zu den beeindruckendsten Stimmen dieser Art gehört Beate Niemann. Als Tochter des SS-Sturmbannführers und leitenden Gestapo-Beamten Bruno Sattler, der unter anderem die Ermordung Tausender Juden in Jugoslawien durch den Einsatz von Gaswagen organisierte, setzt sich Beate Niemann seit fünfundzwanzig Jahren dafür ein, die Verbrechen ihres Vaters und allgemein des NS-Regimes publik zu machen.

So auch in ihrem jüngsten, im Berliner Lichtig-Verlag erschienen Buch "Ich lasse das Vergessen nicht zu". Hier schreibt sie erstmalig über ihre Mutter. Welches Erbe gab ihre Mutter der dritten und jüngsten Tochter mit auf ihrem Weg und was hat sie daraus gemacht? In der Beantwortung dieser Frage druchbricht sie einmal mehr tabuisierte Familiengeheimnisse und kämpft gegen das Vergessen, das Verleugnen, das Verschweigen und Relativieren. Der Publizist Gabriel Berger hat ihr Buch gelesen und für COMPASS rezensiert. Vor dem Hintergrund der wachsenden Geschichtsverweigerung a la Hoecke und AfD kommen Beate Niemanns Buch und Bergers Rezension zur rechten Zeit - auch und gerade im Blick auf den morgigen Gedenktag an die Opfer des Natioalsozialismus.

COMPASS dankt Gabriel Berger für die Genehmigung zur Wiedergabe seiner Rezension an dieser Stelle!

© 2017 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 249


„Mein Vater hat bis zum letzten Tag des Krieges mitgemordet“ 


Rezension zum Buch „Ich lasse das Vergessen nicht zu“ von Beate Niemann


GABRIEL BERGER

„Mein Vater hat bis zum letzten Tag des Krieges mitgemordet“ - So lautet die sehr mutige Einschätzung von Beate Niemann über ihren Vater Bruno Sattler. Mutig, denn wer möchte seinen Vater einen Mörder nennen? Aber im Gegensatz zu Hunderttausenden, wenn nicht Millionen, Nachkommen deutscher Nazi-Täter, die ihrer unverschuldeten Schmach bis heute mit Schweigen begegnen, hat sich Beate Niemann zum Reden entschlossen. Reden, um sich nicht vor Scham bis zum Lebensende verkriechen zu müssen. Mit dieser Intention entstand auch ihr nächstes, im Berliner Lichtig Verlag erschienenes Buch „Ich lasse das Vergessen nicht zu“. Der Titel ist Programm und Mahnung. Und es ist auch ein Weckruf an die Schweigenden ihrer Nachkriegsgeneration, eine Aufforderung, sich der Wahrheit über die Vergangenheit ihrer Vorfahren zu stellen, für sich selbst als Heilung und für die junge Generation als Mahnung. Das Buch beschreibt Beate Niemanns Ringen nach Wahrheit über ihre Familie, sowie ihren unermüdlichen Einsatz für die Verbreitung der Wahrheit, die für sie, wie für viele Deutsche, sehr schmerzhaft ist, vielfach aber auch ignoriert oder gar abgelehnt wird.

Fünfzig Jahre lang hatte Beate Niemann im glauben gelebt, Ihr Vater sei ein Held gewesen. In der Frontstadt Westberlin habe er sich mutig den Kommunisten entgegengestellt, weshalb sie ihn 1947 in den Osten verschleppt und zu einer lebenslangen Haft verurteilt hätten. Seine Unschuld war aktenkundig, bestätigt 1954 von einem Westberliner Gericht. Als Ehefrau eines Helden genoss Beate Niemanns Mutter in ihrem Umfeld ein hohes Ansehen. Seine treuen Dienste in zwei Systemen, der Weimarer Republik und Nazi-Deutschland honorierte der bundesdeutsche Staat durch das an die Ehefrau gezahlte volle Monatsgehalt eines höheren Polizeibeamten, seit seinem Tod im DDR-Gefängnis im Jahre 1972 mit einer hohen Witwenrente. Für die fünfundzwanzig Jahre Haft ihres Mannes erhielt sie darüber hinaus eine hohe Haftentschädigung. Beate Niemann war auf ihren Vater stolz, wie es fünf Jahrzehnte lang schien zu Recht. Denn 1958 erhielt ihre Mutter ein Dankschreiben von Maud von Ossietzky, der Ehefrau des weltberühmten linksorientierten Journalisten, des Herausgebers der „Weltbühne“ und Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky. In der Lagerhaft, zu der Carl von Ossietzky von den Nazis nach ihrem Machtantritt verurteilt wurde, infizierte er sich mit Tuberkulose, an der er 1938 starb. Maud von Ossietzky bedankte sich zwanzig Jahre später bei Bruno Sattler dafür, dass er ihrem Mann „die letzte Zeit seines Lebens erträglich gestaltete“ und dafür, dass sie die letzten Wochen seines Lebens mit ihm sein konnte. Sie wusste offensichtlich nicht, dass Bruno Sattler für die Inhaftierung ihres Mannes zumindest mitverantwortlich gewesen ist.

Schon in der Gestapo und dann nach dem Krieg ist Bruno Sattler ein hoch geschätzter Marxismus-Experte gewesen, ein Spezialist für den antikommunistischen Kampf. Dafür wurde er 1947 aus Westberlin in den Osten verschleppt, zunächst nach Moskau, dann in die sowjetische Besatzungszone und für den Rest des Lebens in ein DDR-Gefängnis gepfercht. Der schwere Vorwurf im DDR-Urteil, Bruno Sattler habe in Jugoslawien schwere Kriegsverbrechen begangen, wurde 1954 vom Westberliner Gericht zurückgewiesen. Weder in NSDAP-Akten, noch in Jugoslawischen Kriegsverbrecher-Akten, war Belastendes zu finden, was Jahrzehnte später1988 von Deutschlands führendem Militärhistoriker Manfred Messerschmidt abermals bestätigt wurde.

Von der Unschuld ihres Vaters überzeugt, beantragte Beate Niemann nach der Wende, 1991, beim Gericht die Rehabilitierung ihres Vaters und bei der Stasi-Unterlagen-Behörde Einsicht in seine Akten. Doch die Rehabilitierung wurde 1992 und noch einmal 1998 abgelehnt. Er hätte in der Bundesrepublik keine Lebenslängliche Haftstrafe bekommen, wohl aber einige Jahre Haft, lautete der Kommentar. Die Einträge in die Stasi-Akten, die Beate Niemann seit 1997 lesen konnte, verwandelten endgültig das heroische Bild ihres Vaters in eine hässliche Fratze.



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Beate Niemann
Ich lasse das Vergessen nicht zu




Lichtig-Verlag, Berlin 2017
ISBN: 978-3-929905-38-0
112 Seiten
Preis: EUR 14,90


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STATEMENT GEGEN RECHTSPOPULISTISCHE VERHÖHNUNG
NS-Vergangenheit im familiären und kollektiven Gedächtnis

Erinnern heißt zurückgehen in die Familiengeschichte und in die politische Zeitgeschichte. Beate Niemann benennt eine beidseitige Verkettung im erinnerungskulturellen kollektiven Kontext. Ihr Bestreben ist es, das Vergessen nicht dem Vergessen anheim zu stellen. Niemann schreibt in ihrem Buch "Ich lasse das Vergessen nicht zu“ erstmalig über ihre Mutter. Welches Erbe gab ihre Mutter der dritten und jüngsten Tochter mit auf ihrem Weg und was hat sie daraus gemacht? Niemann sagt: „Ich habe früh entschieden, nicht so werden zu wollen, wie meine Mutter. Mein abwesender Vater war meine Lichtgestalt, wenn meine Mutter mit mir schimpfte: 'Du siehst nicht nur aus wie Dein Vater, Du bist auch wie er', war ich beruhigt, nicht so zu sein wie meine Mutter." Spät in meinem Leben musste ich bitter lernen, dass mein Vater ein überzeugter Nazi-Mörder war, meine Mutter die NS-Täterin an seiner Seite. Da wollte ich nicht mehr so aussehen wie mein Vater."

Niemann hat das tabuisierte Familiengeheimnis durchbrochen, es öffentlich gemacht, als Zeitzeugin ihrer Eltern arbeitet sie gegen das Vergessen, das Verleugnen, das Verschweigen, das Relativieren. Zeitgeschichte setzt sich fort, nicht nur in historisch nachgewiesenem Material, sondern in Bildern und Klischees, die den Nachkommen verbal oder nonverbal übermittelt wurden. Wie gehen ihre Kinder und Enkel mit dem Erbe um, inwieweit ist die NS-Täterschaft ihrer Großeltern in ihrem Leben präsent?

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Es kam nun ans Tageslicht, dass er, über seine Tätigkeit als Experte zur Bekämpfung des Kommunismus hinaus, viele Tausende Leichen im Keller hatte. Die Blutspur der „Säuberungsaktionen“, an denen der SS-Sturmbandführer und Kriminaldirektor Bruno Sattler, meist in leitenden Positionen im Schatten der deutschen Wehrmacht, beteiligt war, durchzog sich durch ganz Europa. In Paris hatte er für die Verfolgung und Verhaftung deutscher Emigranten die Verantwortung getragen, im russischen Smolensk war er als Mitglied der Einsatzgruppe B an der Ermordung von Partisanen, Juden, Roma und „minderwertigen“ Menschen beteiligt, in Belgrad organisierte er den Einsatz von Gaswagen, in denen innerhalb weniger Wochen etwa 8500 jüdische Frauen und Kinder ermordet wurden, nachdem die erwachsenen jüdischen Männer bereits von der deutschen Wehrmacht erschossen worden waren. Seit 1943 leitete er die „Enterdungsaktion“, das systematische Tilgen von Spuren der Massenmorde, indem die Leichen aus den Massengräben ausgegraben und verbrannt wurden. Kurz vor Kriegsende war er mitverantwortlich für die Todesmärsche ungarischer Juden in das österreichische Arbeits- und Vernichtungslager Mauthausen. „Mein Vater hat bis zum letzten Tag des Krieges mitgemordet“, resümiert Beate Niemann. Er ist einer jener tausender pflichtbewusster und skrupelloser Organisatoren auf mittlerer Ebene gewesen, ohne die der deutsche Vernichtungskrieg und der Holocaust nicht möglich gewesen wären. Und dieses Pflichtbewusstsein war es, das der bundesdeutsche Staat dem treuen Beamten Bruno Sattler und seiner Ehefrau nach dem Krieg generös honorierte.

Und doch präsentierte sich das Leben der Eltern von Beate Niemann nicht als ein rein schwarz-weißes Gemälde. Es gibt da auch bunte Tupfer. Bevor ihre Mutter Bruno Sattler geheiratet hatte, war sie mit einem Mann verheiratet, der als KPD-Mitglied die NSDAP bekämpfte. 1932, noch vor dem Machtantritt der Nazis, wurde sie beim Verteilen von KPD-Flugblättern verhaftet und vom Polizeichef Bruno Sattler persönlich vernommen. Er war bereits NSDAP-Mitglied und wurde nach der Machtübernahme durch die Nazis in dem Berliner Stadtbezirk GESTAPO-Chef. 1937 heirateten die beiden. Der Schwenk von der KPD zur NSDAP scheint der Mutter von Beate Niemann nichts ausgemacht zu haben. Ihre politische Vergangenheit vertuschte Bruno Sattler erfolgreich vor seinen SS-Vorgesetzten. Und es gab an dem Massenmörder Bruno Sattler den menschlichen Zug, dass er als SS-Sturmbannführer der Anweisung Himmlers nicht nachkam und zwei geistig behinderte Verwandte  vor der Vernichtung „unwerten Lebens“ bewahrte. Die Eigenen verschonte er, die Fremden schickte er gnadenlos in den Tod.

Die Mutter bezichtigte ihre fünfjährige Tochter Beate des Verrats, weil sie 1947 fremden Männern auf ihre Drohungen hin gesagt hatte, wo sich ihr Vater befand. Die Männer waren jene Stasi-Agenten, die den Vater in den Osten verschleppten. Doch Jahrzehnte später entdeckte die Tochter einen wirklichen Verrat, an dem sich ihre beiden Eltern beteiligt hatten. Der Kriminaldirektor und SS-Sturmbannführer Bruno Sattler versprach 1942 der jüdischen Besitzerin des von ihnen bewohnten Hauses in Berlin Tempelhof, Frau Gertrud Leon, sie als Gegenleistung für den Verkauf des Hauses zu einem Spottpreis vor der Deportation in ein Konzentrationslager zu schützen. Stattdessen veranlasste er aber ihre sofortige Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt, von wo sie 1944 nach Auschwitz überführt und ermordet wurde. Bis zu ihrem Tode im Jahre 1984 hielt Beate Niemanns Mutter an ihrer Version fest, sie habe Frau Leon über die Schweizer Grenze in Sicherheit gebracht. Beate Niemann glaubte an die heldenhafte Tat ihrer Mutter, bis sie Jahre nach ihrem Tod auf einer von ihrer Mutter an ihren Ehemann zu seinem Einsatzort Belgrad versendeten Ansichtskarte den handgeschriebenen Text entdeckte: „Die Leon kommt am 20.06. (1942) auf Transport nach dem Osten.“

Nachdem es Beate Niemann in den neunziger Jahren endgültig klar wurde, dass ihr Vater ein nationalsozialistischer Überzeugungstäter und ihre Mutter eine schuldbeladene Mittäterin gewesen ist, entschied sie sich zum Schritt in die Öffentlichkeit. Im Dezember 2000 wurden im Berliner Tagesspiegel von einem Journalisten ihre Reflexionen über den Vater veröffentlicht. Der provozierende Titel des Beitrags „Vater, du Mörder“ sorgte für ein breites Medienecho. Journalisten, Fernsehredaktionen und Filmemacher belagerten sie mit Gesprächsanfragen. Sie reiste nach Belgrad, recherchierte vor Ort in Archiven, las Mordbefehle mit der Unterschrift ihres Vaters. Und sie war vom der Freundlichkeit der Jugoslawischen Überlebenden zu ihr als der Tochter eines Nazi-Mörders tief berührt. Der renommierte Dokumentarfilmer Yoash Tatari überredete sie, einen Film über ihren Vater zu drehen. Der Film wurde 88 Minuten lang und unter dem Titel „Der gute Vater – eine Tochter klagt an“ im 3Sat gesendet. 2004 wurde der Film beim New York Festival, später auch in Kanada  ausgezeichnet und in Israel von Yad Vashem übernommen. Doch die höchste Anerkennung zollte ihr eine jüdische Freundin, Überlebende des Holocaust, als sie zu ihr sagte: „Wenn ihr eure Geschichten nicht erzählt, ist meine nicht gewesen.“ Dieser Zuspruch ermutigte Beate Niemann, trotz zahlreicher Anfeindungen seitens ewig Gestriger, die Geschichte ihrer Familie an die nächsten Generationen weiterzugeben, besonders in Schulen. 2005 erschien ihr Buch „Mein guter Vater: Meine Leben mit seiner Vergangenheit. Eine Täter-Biographie“. Besonderen Wert legte Beate Niemann darauf, dass 2011 der Film und 2012 ihr ins Serbokroatische übersetztes  Buch, in Belgrad vorgestellt wurden, am Ort größter Verbrechen ihres Vaters. Das offene Eingeständnis der Schuld ihrer Eltern wurde in Deutschland sehr kontrovers, im Ausland aber durchweg mit Verständnis und Wohlwollen aufgenommen, besonders in Serbien und in Israel. Kinder von Tätern vertrauten sich Beate Niemann in Briefen an, übergaben ihr Fotos aus der Kriegszeit. Erschütternde Details über ihren Vater aus seiner Zeit in Belgrad wurden ihr zugetragen, als er in der Funktion des Gestapo-Chefs Herr über Leben und Tod, besonders der Juden, gewesen ist und sich an ihrem Leid bereicherte. Beate Niemann wurde zu einer Botschafterin der Verständigung der Deutschen mit einstmals von ihren Vorfahren geschundenen Völkern, ein lebendiger Beleg dafür, dass das Böse keine nationale Eigenschaft und nicht vererbbar ist.



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Gabriel Berger
Umgeben von Hass und Mitgefühl.
Jüdische Autonomie in Polen nach der Shoah 1945-1949 und die Hintergründe ihres Scheiterns


Lichtig-Verlag, Berlin 2016
ISBN: 978-3-929905-36-6
200 Seiten
Preis: EUR 14,90


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In dem Buch wird das auf den Zeitraum von 1945 bis 1949 begrenzte Experiment der Ansiedlung von Juden, Überlebenden des Holocaust, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Niederschlesien beschrieben. Für kurze Zeit entstand in der inzwischen von den Deutschen weitgehend verlassenen Region eine „jüdische Republik“ mit eigener Selbstverwaltung, eigenen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Strukturen und Jiddisch als Alltagssprache. Der von Jakob Egit und seinen Mitstreitern konzipierte „Jiddische Jischuv“ sollte eine Alternative zum zionistischen Projekt der Ansiedlung von Juden in Palästina werden. Das von der neuen kommunistischen Staatsmacht Polens zunächst unterstützte Projekt einer weitgehenden kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Autonomie von Juden in Niederschlesien war trotz aller Widrigkeiten sehr erfolgreich. Es scheiterte aber an der durch pogromartige antisemitische Ausschreitungen ausgelösten panikartigen Flucht von Juden aus Polen, an der kommunistischen Gleichschaltung der Gesellschaft, dem antisemitisch aufgeladenen polnischen Nationalismus sowie an der durch Stalin initiierten antisemitischen Welle im gesamten Ostblock.

Als Hintergrundinformation zu den Geschehnissen in Polen nach dem Krieg wird in dem Buch auch die antisemitische Stimmung im Vorkriegspolen sowie die Haltung der polnischen katholischen Bevölkerung zu ihren jüdischen Nachbarn während des Krieges beleuchtet. Angesichts des von deutschen Besatzern organisierten und vor den Augen der Polen ablaufenden Massenmordes an den Juden, dominierte in der polnischen Bevölkerung die Gleichgültigkeit. Weit verbreitet war aktive Mittäterschaft, besonders bei der Landbevölkerung, Denunziantentum in den Städten und die mehr oder weniger verdeckte Dankbarkeit, die Deutschen hätten den Polen die Lösung des „jüdischen Problems“ abgenommen. Tausende polnische Judenretter lebten in ständiger Gefahr, von ihren polnischen Nachbarn an deutsche Besatzer ausgeliefert zu werden, was sowohl für die Juden als auch für ihre mitfühlenden Retter den sicheren Tod bedeutete.

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Was brachte sie zu einer so konsequenten und mutigen Haltung? Auch darüber gibt ihr neues Buch indirekt eine Auskunft. Ihre Sozialisation verlief nach dem bekannten Schema des Generationenkonfliktes, wenige Jahre nach dem Krieg. Nicht zuletzt wegen der aktiven oder passiven Mittäterschaft im Dritten Reich, aber auch wegen vieler im Krieg gefallener Männer,  verlor im Westen Deutschlands die Elterngeneration ihre traditionelle Autorität in der Familie. Viele Jugendliche verwarfen demonstrativ alle Konventionen, die Regeln „gesitteten Verhaltens“ galten für sie nicht mehr. In diese heute im Rückblick als „die 68er“ bezeichnete Szene geriet auch Beate Niemann, die damals noch gar nicht ahnte, wie sehr ihre Eltern, besonders aber der Vater, in die Verbrechen des Dritten Reiches verstrickt gewesen sind. Nachdem sie, noch vor dem Abitur, das Gymnasium verlassen hatte, übernahm sie in Frankreich, dann in England Stellen als Au-pair-Mädchen. Sie knüpfte freundschaftliche Beziehungen zu französischen und englischen  „Erzfeinden“, lernte Opfer der Nazis kennen. Auf verschlungenen Wegen holte sie die Bildung nach, wurde Sozialarbeiterin, dann Auslandskorrespondentin, heiratete, bekam zwei Kinder. Doch der Lebensstil des jungen Ehepaars war alles andere als konventionell. Sie kleidete sich wie ein Hippie-Mädchen, lief durch die Großstadt Berlin meist barfuß. Ihr Ehemann, ein Architekturstudent, spielte Jazz und trug lange Haare. Kinder mehrerer Familien wurden in einem kooperativen Kindergarten gemeinsam betreut. Beate Niemann engagierte sich bei Amnesty International, betreute Gefangene in einer Haftanstalt. Wie es sich für sozial und politisch engagierte junge Leute damals gehörte, demonstrierte sie mit ihrem Ehemann und Freunden gegen den Vietnamkrieg, gegen Axel Springer und den Schah von Persien. Hautnah erlebten sie die Konfrontation mit der Polizei, die damals noch die Demonstranten verprügelte. Das Verhältnis zu ihrer Mutter, die ihren Lebensstil nicht billigte, gestaltete sich schlecht. Von der Unschuld ihres Vaters überzeugt,  litt Beate Niemann unter Schuldgefühlen und bemühte sich vergeblich, ihn aus dem DDR-Gefängnis zu befreien. Einige Male durfte sie ihn besuchen, bis er 1972 unter ungeklärten Umständen starb.

Nachdem sie sich Ende der siebziger Jahre von ihrem Ehemann trennte, heiratete Beate Niemann 1987 abermals. Danach begleitete sie ihren Ehemann bei seinem mehrere Jahre währenden Arbeitsaufenthalt in Indien. In Bombay wurde sie Mitglied eines internationalen Frauenclubs und engagierte sich bei der Hilfe für Waisenkinder und für Familien von Wanderarbeiterinnen. Sie beschaffte Geld für deren soziale und medizinische Betreuung. 1992 kehrte sie mit ihrem Mann in das seit zwei Jahren vereinigte Deutschland zurück.

Die Perspektive einer Weltbürgerin erleichterte Beate Niemann ohne Frage einen kritischen Blick auf ihr eigenes Land, auf seine Geschichte und auf ihre Eltern. Es gab Dinge die wichtiger waren, als die eigene Person und die eigene Nation. Die serbische Übersetzerin ihres Buches „Mein guter Vater…“ Liliana Glisovic brachte es auf den Punkt: „Ich meine, dass nur solche Menschen wie Sie, liebe Frau Niemann, die sich der anthropologischen Matrix in Hinblick auf Gut und Böse bewusst sind und andererseits eine kosmopolitische Anschauung haben, in der Lage sind, solch ein Buch zu schreiben.“ Dieser Meinung schließe ich mich, bezogen auf das neue Buch von Beate Niemann, vorbehaltlos an.

Das Buch ist auch ein Protokoll der öffentlichen Auftritte von Beate Niemann vor Schülern, Studenten, Lehrern, Polizisten, Soldaten, vor deutschem und ausländischem Publikum. Sie las aus ihrem Buch, erzählte über ihre Eltern, kommentierte den Film. Meist schlug der Referentin Wohlwollen entgegen, manchmal aber stumme oder offene Feindseligkeit. Manchen galt sie als „Nestbeschmutzerin“ oder sie empfanden es als bodenlos, dass Beate Niemann so „private“ familiäre und schambesetzte historische Erinnerungen an die Öffentlichkeit zerrte. Doch sie machte unbeirrt weiter, bestärkt vom Zuspruch überlebender Nazi-Opfer, vom Interesse der Schulkinder, vom Stolz ihrer eigenen Kinder und Enkelkinder auf die mutige Mutter und Oma.

Die dem Buch beigefügten Briefe und Würdigungen Beate Niemanns zeugen von hoher Wertschätzung ihrer Aufklärungsarbeit, die ein Beitrag zur Schaffung einer Welt ohne Herrenmenschentum und ohne aus nationalen oder religiösen Vorurteilen und Konflikten folgende Gewalt sein soll. Erster Schritt auf dem Weg zu einer solchen Welt ist ohne Zweifel die von Beate Niemann vorgeführte schonungslose Erkenntnis der Wahrheit über sich selbst, die Familie und die Nation. Das ist heute von besonderer Bedeutung, angesichts der öffentlich vorgetragenen Bestrebungen, alle Untaten der Vergangenheit aus dem deutschen nationalen Gedenken zu eliminieren.




Der Autor

GABRIEL BERGER

... wurde 1944 als Sohn eines aus Nazideutschland geflüchteten jüdischen Kommunisten im französischen Versteck geboren. Sein Vater ging 1948 freiwillig nach Polen, um dort den Sozialismus aufzubauen. Der polnische Antisemitismus zwang ihn jedoch 1957, seine Teilnahme am sozialistischen Experiment in die DDR zu verlegen.

Gabriel Berger besuchte in Leipzig die Oberschule und studierte in Dresden Physik. Danach war er in der Kernforschung tätig. Nach der erneuten antisemitischen Welle in Polen und dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings im Jahre 1968 verlor der junge Physiker den Glauben an eine Demokratisierung des realen Sozialismus. 1975 stellte er einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. 1976 wurde er unter dem Vorwurf der „Staatsverleumdung“ verhaftet. Nach einjähriger Haft übersiedelte er nach Westberlin. Dort arbeitete er zunächst im kerntechnischen Bereich, später als Informatiker. In den achtziger Jahren studierte er Philosophie und veröffentlichte Beiträge in Zeitungen und im Rundfunk. Inzwischen ist er Rentner und als Buchautor tätig.

Kontakt zum Autor und/oder COMPASS:
redaktion@compass-infodienst.de



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