Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 36

September 2006

Nachfolgende Texte sind Auszüge aus dem Buch "Was Christen vom Judentum lernen können. Anstöße - Materiaiien - Entwürfe", hrsg. von Albrecht Lohrbächer, Helmut Ruppel, Ingrid Schmidt.

COMPASS dankt Veralg und Herausgebern für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

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online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 36


Was Christen vom Judentum lernen können
Anstöß - Materialien - Entwürfe

Hrsg. von ALBRECHT LOHRBÄCHER, HELMUT RUPPEL, INGRID SCHMIDT



Einführung – Hinweise - Dank
„Was Christen vom Judentum lernen können“ – zum Beispiel dies:

Ein chassidischer Frommer fragte einmal Rabbi Bunam nach einer Schriftstelle, die er nicht verstehe. Es handelte sich um den Fluch über die Paradiesschlange, die, weil sie Menschen dazu verführte, Gott gleich sein zu wollen, fortan auf dem Boden kriechen und Erdstaub fressen soll. ‚Das ist doch keine Strafe’, sagte der Mann, ‚das ist doch eher ein Segen, denn wenn die Schlange Erdstaub fressen soll, dann ist sie doch das einzige Lebewesen, das immer genug zu essen habe.’ ‚Ja’, erwiderte Rabbi Bunam, ‚sie wird nie um etwas bitten müssen. Das ist ihre Strafe.‘

Nun eignet es der Kirche und ihrer Lehrentwicklung seit zwei Jahrtausenden, dass sie ihre ältere Schwester, die Synagoge, nie um etwas gebeten hat, nicht um Kenntnisse, nicht um Freundschaft, nicht um das gemeinsame Klagen, Loben und Danken und, bis auf zaghafte Anläufe in allerjüngsten Zeit, auch nicht um Vergebung.

Im Gegenteil, sie missverstand, sie diktierte, sie verurteilte und war sogar in einem extremen Anlauf „unfehlbar“ in theologischen Lehraussagen, wähnte sich im paradiesischen Stand der Freiheit von allem Lernen. Wer die Figuren von Ecclesia und Synagoga in Bamberg oder Straßburg aufmerksam betrachtet, nimmt wahr:

Die Kirche hat nie etwas lernen oder erbitten müssen – hat sie dies als Strafe verstanden? Dass sie in der Todesgefahr für Israel nicht an dessen Seite stand, weil sie dessen Tora nicht gelernt hatte, hat sie im Mark – in der Glaubwürdigkeit – beschädigt. Sie hat in vielen Dingen Gipfelwanderungen der wissenschaftlichen Bibelforschung absolviert – hat sie jemals von Israel Hilfe erbeten im Ringen um den Wurzelsinn der Worte, beim Verstehen des total anderen Verbsystems im Hebräischen, der Zeitaspekte und der Vokalisierung?

Wir haben uns als mit und von dem Judentum Lernende vor vielen Jahren mit diesem Handbuch auf den Weg gemacht – manche in Deutschland und Europa haben diesen Band in Schule und Gemeinde, in Seminar und Bibelstudium zum Lernen und Lehren, zum Korrigieren und Verlernen benutzt.

Eine erweiterte Neuauflage des 1997 zuletzt in 5. Auflage an anderem Ort erschienenen Buchs war von vielen im In- und Ausland angeregt worden. Wir danken darum dem Verlag W. Kohlhammer... für den Mut, den Band neu aufzulegen, vor allem für die umsichtige und verantwortliche Begleitung des Projekts.

Wenn wir die Entwicklung seit der ersten Auflage richtig überblicken, so konnten wir mit diesem Buch da und dort die Sensibilität gegenüber offener oder verdeckter Judenfeindlichkeit fördern. Wir müssen aber zugleich festzustellen, dass gerade in den letzten Jahren Antisemitismus und Antijudaismus, besonders in der Form der Abneigung gegen den Staat Israel, deutlich zugenommen haben. Und mit Betroffenheit müssen wir feststellen, dass sich dagegen wenig Widerstand regt, viel weniger, als wir nach den vielen guten Verlautbarungen von Synoden und dem Konzil (vgl. Kapitel IV) erwarten durften.

Uns ist in dieser Situation aufgegeben, noch intensiver zu lernen und dabei uns und andere aufzuklären, um uns gegen antijüdische Argumente und Stimmungen stark zu machen. Und natürlich bleibt es unsere besondere Pflicht, der nächsten Generation unsere Einsichten nicht vorzuenthalten. Dabei kann dieses Buch hilfreich sein.

Wir waren von Anfang an in unserem Anliegen Hermann Maas, dem ehemaligen Heidelberger evangelischen Pfarrer und Prälaten, verpflichtet. Hat er doch schon bei und mit Juden gelernt, als die Kirche noch ganz im Antijudaismus steckte und die Gesellschaft dem Antisemitismus huldigte. Er hat diese von jung auf prägende Verbundenheit mit dem Judentum während der Schoa und später in der Solidarität mit dem gerade im Aufbau befindlichen Staat Israel bewährt. Die nach ihm benannte Stiftung, dabei aktiv von Herrn Prof. Dr. Ernst Ludwig Ehrlich, Basel, unterstützt, und der Stifter, Walter Norton, haben dieses Buch ursprünglich mit auf den Weg gebracht.

Dem Namen Hermann Maas und seinem Werk bleibt auch diese Auflage verpflichtet.

Bei der lernenden Begegnung mit dem Judentum sind uns einige Akzente besonders wichtig, die uns für einen verantworteten Lernprozess unabdingbar erscheinen:

- Keine Form von Judenfeindlichkeit darf mehr toleriert hingenommen werden, sei es z.B. die Pharisäerschelte (auch bei Politikern), sei es die Behauptung von Defiziten im Judentum, von der immer wieder christliche Judenmissionare sprechen, seien es die (offene oder heimliche) Unterstellung, Rache und/oder Vergeltung seien Merkmale jüdischen Reagierens oder auch die anscheinend unausrottbare Beschuldigung, Juden hätten Schuld am Tode Jesu. Christliches Selbstverständnis darf nie mehr auf Kosten von Juden, in negativer Abgrenzung von Juden und Judentum formuliert werden!

- Judentum gibt es in sehr vielen Erscheinungsformen, die Vielfalt jüdischer Stimmen, auch und gerade den aus christlicher Sicht sperrigeren, ist immer wieder zu berücksichtigen. Ihr wird auch in diesem Buch Raum gegeben.

- Es besteht eine tiefgehende Asymmetrie zwischen den beiden Religionen, auch wenn oft von Christen vorschnell eine strukturelle und inhaltliche Übereinstimmung behauptet wird. Dazu gehört an vorderster Stelle die Tatsache, dass Volk, Land und Staat Israel integrale Bestandteile jüdischen Bewusstseins sind. Vergleiche zwischen den beiden Religionen können erst dann sinnvoll sein, wenn zuvor „gelernt“ wurde, wie Juden sich selbst verstehen. (siehe z. B. die Abschnitte III, A und B, IV, B oder VI, N)

Gegenüber den ersten Auflagen sind u.a. folgende Themen der Aktualität wegen hinzugekommen:

„Jüdische Medizinethik am Beispiel von ‚Sterbehilfe’ und Klonen“, „Bibel in gerechter Sprache“, „Elementare Bibeltexte in jüdischer Auslegung“ und in völlig überarbeiteter Fassung: „Israel-Zion: Israelis, Palästinenser und wir Deutschen“.

Der direkte Zugriff zu der Vielfalt der Themen und Fragestellungen wird in diesem Sammelband erleichtert durch das ausführliche Inhaltsverzeichnis und vor allem durch die Verweise im Anschluss an die einzelnen Ausführungen.

„Alles Leben ist Begegnung“, sagt der ein Leben lang lernende Lehrer Martin Buber. So ist es auch uns ergangen: Wie viele Texte sind in Zusammenarbeit, gemeinsamer Sammlung, Prüfung und Redaktion ins Buch gelangt! So ist ein recht buntes Handbuch zur eigenen Orientierung der Lehrenden, ein Nachschlagewerk für die unterschiedlichsten Fragestellungen bei der Begegnung von Juden und Christen, vor allem aber ein Buch für die Vorbereitung auf den Unterricht mit konkreten didaktischen Hinweisen und vielen unterrichtlich einzusetzenden Materialien entstanden.

All denen, die uns Anregungen gegeben, Beiträge zur Verfügung gestellt und kritische Fragen eingebracht haben, sei hier in der Hoffnung gedankt, dass sie sich in dem hier vorgelegten Ergebnis wieder finden und mit uns weiter auf dem Weg des Lernens und Lehrens bleiben. Zwei Autoren soll ausdrücklich gedankt werden: Rabbiner Dr. Andreas Nachama in Berlin und Kirchenrat i.R. Dr. Hans Maaß in Karlsruhe!

Mit dem Buch laden wir Sie ein zu einem Schul-Weg mit dem Judentum!


WAS CHRISTEN VOM JUDENTUM LERNEN KÖNNEN

Anstöße - Materialien - Entwürfe



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Vollständiges Inhaltsverzeichnis:
Inhalt



Herausgegeben von
Albrecht Lohrbächer, Helmut Ruppel, Ingrid Schmidt



kartoniert,
208 Seiten,
13 Abb.
Kohlhammer Verlag 2006
26,- Euro.


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Zentrales Anliegen dieser praxisorientierten Darstellung ist es, in die Haltung des Lernens einzuüben, wie sie vielen Juden von Kind an nahe gebracht wird.

Die einzelnen Beiträge wollen Christen dafür sensibilisieren, diese Grundhaltung dem Judentum gegenüber einzunehmen und so das Judentum nicht mehr aus eingefahrenem christlichen Blickwinkel zu betrachten, sondern die jüdische Lebenswelt in ihrer ganzen Vielfalt von innen her verstehen zu lernen. So können nicht nur Missverständnisse überwunden, sondern auch den Christen ihre jüdischen Wurzeln verständlicher werden. Was Christen vom Judentum lernen können - in diesem Band ist es zusammengefasst und didaktisch kompetent dargestellt.

Die Herausgeber: Albrecht Lohrbächer ist Schuldekan in Weinheim; Helmut Ruppel ist Pfarrer i.R. und Studienleiter in Berlin; Ingrid Schmidt ist Lehrbeauftragte in Berlin.

III. Lernen, wie Juden sich selbst verstehen

A. Wer sind die Juden?

Wer ist Jude?
Was bedeutet Jude-Sein?
Was bedeutet der Name Jude?
Wie kann man Jude werden?

Mit christlichem Selbstverständnis kaum vergleichbar ist die Definition, die Juden von sich selbst geben: Jude-Sein ist durch die "Doppelmitgliedschaft" zu beschreiben, d.h. jüdische Existenz ist sowohl definiert durch die Zugehörigkeit zu einem Volk, zu einer Nation, wie auch durch die Zugehörigkeit zu einer Religion. Ein Jude, der für sich eine religiöse Bindung ablehnt, bleibt durch das zweite konstitutive Element an sein Judentum gebunden: Er/sie ist Jude/Jüdin, weil er/sie eine jüdische Mutter hat und so zu einem Volk gehört. Wie weit Jude-Sein sich durch Zugehörigkeit zu orthodoxen, konservativen, liberalen, zu anderen Strömungen oder auch nichtreligiös definiert, ist dann zusätzlich eine Variation innerhalb des genannten Spektrums. Auf jeden Fall ist "Jude-Sein" wegen dieser Zugehörigkeit zum jüdischen Volk .geprägt von der Geschichte der Juden, von der Zugehörigkeit zu einer Kette der Generationen; was den Vätern und Müttern und deren Vorfahren geschah, ist auch "meine" Geschichte. Die Hebräische Bibel ist dabei eine zentrale Klammer, verbindet sie doch Religion und Geschichte des Volkes Israel untrennbar miteinander. "Bibel" ist darum auch für nicht-religiöse Juden ein grundlegendes Buch. Entsprechend bindet die Doppelmitgliedschaft Juden auch an das Land Israel, als dem Land, das Ursprung und Ziel jüdischer Existenz auch in der Diaspora ist. Dort, wo in der Vergangenheit (und bisweilen auch noch in der Gegenwart) mit der Absicht der Assimilation die Reduktion des Jude-Seins zu einer Konfession ,jüdischen oder mosaischen Glaubens" unter Aufgabe der Doppelmitgliedschaft erfolgte, war in der Regel die völlige Assimilation nur noch eine Frage der Zeit. Seit der Gründung des Staates Israel gibt es immer wieder politische und juristische Meinungsverschiedenheiten über die Frage "Wer ist Jude?", somit auch über das Problem, wer das Recht zur Einwanderung in den Staat Israel hat. Im Rückkehrergesetz, in der Fassung von 1970, heißt es: "Im Bezug auf dieses Gesetz ist ein jeder Jude, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder übergetreten ist und keine andere Glaubenszugehörigkeit besitzt."


Was bedeutet der Begriff " Jude "?

Jude geht auf das hebräische Jehuda (Juda) zurück. Jehuda war der vierte Sohn Leas, der ersten Frau Jakobs; er wird später der Stammvater des vierten der zwölf Stämme Israels. Als Lea ihrem Sohn den Namen Jehuda gibt, erklärt sie nach Gen 29,35: "Dieses Mal will ich Gott preisen." So kommt der Name Jehuda von der Wurzel J-H-D = preisen, danken, er ist Bestandteil des Gottesnamens JHWH. "Gott will ich preisen, ihm danken", diese Absicht gehört zum Selbstverständnis von Juden.


Wie kann man Jude/Jüdin werden?

Wer nicht von Geburt als Sohn oder Tochter einer jüdischen Mutter Jude/Jüdin ist, kann dies auch durch Übertritt werden. Diese~ vollzieht sich so, dass die Aufzunehmenden sorgfaltig zu prüfen sind, ob sie nicht aus äußeren Gründen übertreten wollen. Dazu sind sie in aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass Juden zu allen Zeiten Verfolgungen und Leiden unterworfen waren. Wenn die Übertrittswilligen trotzdem auf ihrer Absicht beharren und sich mit Annahme der jüdischen Lehre einverstanden erklären, so werden sie durch ein rabbinisches Gericht, dem drei Gelehrte angehören müssen und das über Zulassung oder Ablehnung eines Kandidaten/einer Kandidatin entscheidet, aufgenommen. Dieses Gericht beaufsichtigt auch die Aufnahmeriten, die in der Mila und Twila, der Beschneidung und dem Tauchbad, bestehen. Die Frau hat sich allein dem Tauchbad zu unterziehen. Die Übergetretenen erhalten im Zuge der Aufnahme auch einen hebräischen Namen. Sie gelten in jeder Hinsicht als Juden und können wie die als Jude Geborenen ihren Schritt nicht mehr rückgängig machen.


Auf einen Blick

Jude/Jüdin ist jemand, der oder die von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder übergetreten ist.
Jude-Sein ist Leben aus einer Doppelbindung an ein Volk und an die jüdische Religion.
Jude-Sein ist Leben in der Wechselbeziehung zwischen dem Gott Israels, dem Volk Israel und seiner wechselvollen Geschichte sowie in der Bindung an das Land Israel.

Querverweise:
Was ist Judentum?, Teil III
Aufgabe und Weg der Juden ..., Teil III
Gruppen und Strömungen im Judentum heute, Teil III Talmud, Teil III
Gott, Teil III
Der Mensch, Teil III
Israel, Teil III
"Das auserwählte Volk", Teil V
Israel- Zion ..., Teil VI




IV. Gemeinsamkeiten sehen lernen

B. Assymetrie im Verhältnis von Christen und Juden

In der Begegnung von Juden und Christen ist Asymmetrie ein hervorstechendes, wenn auch oft unbedachtes Merkmal. Wer sie nicht als Christ mit im Blick hat, wird schnell enttäuscht sein und den jüdischen Gesprächspartner als gesprächsunfähig betrachten.

Der Christ stößt, wenn er über sein Christentum nachdenkt, von seinem Christentum spricht, notwendig auf das Judentum: Sein Glaube beruht auf der Hebräischen Bibel und dem jüdischen Jesus. Ein Jude stößt hingegen nicht mit Notwendigkeit auf das Christentum. Während also ein Christ Wissen über das Judentum braucht, kann jemand Jude sein, ohne sich je mit dem Christentum, mit Jesus oder dem Neuen Testament befassen zu müssen.

Judentum ist gekennzeichnet durch die Doppelmitgliedschaft, also durch die Merkmale "Religion" und "Nation"/"Volk"; Christentum ist "nur" Religion. Im jüdisch-christlichen Gespräch haben Christen es also auch mit einer nationalen Komponente, mit Argumenten zu tun, die die Beziehung zum jüdischen Volk und zu seiner Geschichte im Blick haben.

Seit Bestehen des Staates Israels gibt es darum z. B. immer wieder Probleme auf Seiten der Christen, weil sie diesen Teil der jüdischen Geschichte (den Bezug auf das Land und den Staat Israel) nicht selten aus dem Gespräch ausklammern möchten.

Wenn Juden und Christen gemeinsam die Hebräische Bibel lesen, ist die Asymmetrie ebenfalls präsent: Für Christen enthält das Alte Testament religiöse Offenbarung, für Juden immer auch nationale Geschichtsschreibung.

Schließlich ist noch ein Aspekt, der die Asymmetrie bedingt, anzumerken: Grundlage aller Gespräche ist für Christen die gemeinsame Hebräische Bibel, für Juden hat bei der Wahrheitsfindung in der Regel die mündliche Überlieferung in Talmud und Midrasch Vorrang.


Querverweise:
Wer sind die Juden?, Teil III
Was ist Judentum?, Teil III
Viele Kapitel von Teil V




V. Vorurteile, Lügen und Missverständnisse verlernen


D. "Gott der Rache"?

Das Vorurteil oder Missverständnis

Wenn Christen von Gott reden, so ist meist - unausgesprochen oder ausgesprochen - ein antijüdischer Gegensatz mit im Spiel: Gott, wie er von Jesus gepredigt und im Neuen Testament dargestellt wird, sei ein liebender Gott, im Gegensatz zu dem des Alten Testaments und des Judentums, der als Rache-, Richter- und Kriegsgott in Erscheinung träte.


Argumente

1. Rache im Sinne von Rachsucht, von maßloser Vergeltung ist im Alten Testament und im Judentum verboten:
 "Du sollst dich nicht rächen und nicht nachtragen den
Kindern deines Volkes." (Lev 19,18)

 2. Typisch für die Haltung des Judentums zu den Rachegelüsten des Menschen ist dies:

"Jedes jüdische Kind, das traditionelle Erziehung genossen hat, wird auf die Frage, warum am letzten Tag des Pessachfestes nur das halbe Hallelgebet gesagt wird, sofort den sprichwörtlich gewordenen Satz zitieren: ,Meine Geschöpfe ... ertrinken im Meer und ihr singt ein Lied?' Dies ist nämlich die Antwort, die ... Gott den Engeln gegeben haben soll, als diese ob der Niederlage der Ägypter ein Lied anstimmen wollten. Dementsprechend soll auch die Freude der Israeliten am siebten Tag des Pessachfestes, an dem der Durchzug durch das Schilfmeer stattfand, eine gedämpfte sein. Es findet sich ja auch im Pentateuch selbst die Anordnung (Dtn 23,8): ,Verabscheue nicht den Ägypter, denn ein Fremdling warst du in seinem Land.' Also: Keine Rache für das Ertränken der Neugeborenen und den Frondienst. Ganz in diesem Sinn erfolgte nach dem biblischen Bericht vor jeder der 10 Plagen eine Art Friedensangebot Gottes an Pharao und nur die Nichtakzeptierung dieses Angebotes machte eine weitere Plage erforderlich, sozusagen als notwendiges Übel. (Es ist daher heute noch Brauch, am ,Seder-Abend', der ersten Pessach-Nacht, bei der Aufzählung der zehn Plagen je einen Tropfen aus dem vollen Weinbecher zu schütten; jeder vergossene Tropfen symbolisiert eine vergossene Träne des Mitleids und Mit-Leidens)".16

3. "Der moralisch verwerflichen Rachsucht steht nun die Rache im Sinne gerechter Bestrafung gegenüber: ,Mein ist die Rache, die Heimzahlung' , spricht Gott (Dtn 32,35). In erster Linie hat das Bundesvolk diese Rache zu gewärtigen, falls es den Bund nicht einhält (Lev 26,25): ,Und ich werde über euch das Schwert bringen, das die Rache des Bundes übt.' ...

An all den Bibelstellen, an denen ,rächen' inhaltlich identisch ist mit ,strafen', kann die Bevorzugung des ersten gegenüber dem zweiten Ausdruck nur stilistischer Natur sein: die drastischere Wendung ,rächen' findet sich weniger in juristischen als in poetischen Zusammenhängen, bei Gefühlsaufwallungen, so z. B. an derjenigen Stelle, die der Bezeichnung ,Gott der Rache' zugrunde liegt (Ps 94,1): ,Gott der Rache, Ewiger, Gott der Rache, erscheine! Erhebe dich, Richter der Erde, vergilt Lohn den Hochmütigen. Wie lange sollen Frevler, o Ewiger, wie lange die Frevler jauchzen? ...' Hier spricht nicht ein kalter Jurist, sondern ein mit den Unterdrückten mitleidender Mensch, der an den persönlichen Gott, den Vater der Waisen und Richter der Witwen' (Ps 68,6), appelliert“17

4. "Der Hinblick und Hinweis auf die Schriftstellen ..." (wie z.B. Dtn 32,43; Ps 79,10), "die uns die Versicherung und Verheißung bringen, dass Gott alles sieht, was wir dulden und die Vergeltung jeder unserer Misshandlungen sich vorbehält, diese Zuversicht gab uns die Kraft, die Gemordeten und nie die Mörder, die Gehenkten und nie die Henker, die Beraubten und nie die Räuber zu werden, und inmitten einer verkennenden, höhnenden und misshandelnden Bevölkerung den Fürsten die Treue, den Mitbevölkerungen menschliches Mitgefühl zu bewahren und unser Zusammenleben mit den Bevölkerungen nur durch Wohl tun und Menschlichkeit zu bezeichnen. Diese Aufrufe zu Gott haben uns menschlich und milde erhalten, und dies ist die Frucht dieser zu Gott als Rächer der Unschuld aufschauenden Gebete“.18

5. Gerade in den Psalmen sind Rachewünsche dichterischer Ausdruck für die Sehnsucht, dass das Böse und die Bösen nicht das letzte Wort haben dürfen. Es sind Wünsche von Verfolgten, Armen und Menschen, die sich in Todesangst befinden - wer wollte ihnen auferlegen, ihre Ängste und Aggressionen zu verdrängen, statt "sie im Gebet vor Gott (!) auszusprechen, sie gewissermaßen in Seine Hände zu legen, damit sie nicht urplötzlich die eigenen Hände zur Tat treiben! ,.19

6. Auch im Neuen Testament findet sich bei verschiedenen Autoren der Gedanke des "Gottes der Rache", so z.B. Hebr 12,29; Mt 21,41; Röm 12,19.
"Die Frage ... liegt auf der Hand, warum sich mit dem Alten Testament, und nur mit dem Alten Testament, die Vorstellung eines ,Gottes der Rache' im negativen Sinne verbindet“. 20

Vielfach waren es in der Geschichte die Christen, die tatkräftig Rache an den Juden für die angebliche Kreuzigung Jesu übten. War und ist die Verschiebung des Rache-Vorwurfs auf das Alte Testament und die Juden etwa nur eine Entlastung für das eigene Tun?

7. Umgekehrt ist Feindesliebe, das Gebet für die Feinde und Gottvertrauen statt Rachegefühlen eine breit dokumentierte Haltung jüdischer Märtyrer durch die abendländische Geschichte hindurch. Stellvertretend für viele sei hier ein Gedicht der Schoa-Überlebenden Ilse Blumenthal-Weiß zitiert:21

Ich kann nicht hassen.
Sie schlagen mich. Sie treten mich mit Füßen.
Ich kann nicht hassen. Ich kann nur büßen
für dich und mich.
Ich kann nicht hassen.
Sie würgen mich. Sie werfen mich mit Steinen.
Ich kann nicht hassen. Ich kann nur weinen Bitterlich.


Folgerungen

I. Es gibt keine - vorurteilsfreie - Begründung für die Aussage, im Alten Testament oder im Judentum sei Gott ein Gott der Rache.

2. Der jüdische Gelehrte Leo Prijs kommt zu dem Schluss: "Denn beide" (zu ergänzen: die jüdische und die christliche Religion) "haben nicht gegenseitigen Hass und Rachsucht, sondern Nächstenliebe auf ihre Fahne geschrieben, und der beiden gemeinsame Gott hat, nach der Allegorie des Hoheliedes, nicht Rache, sondern Liebe auf sein Panier geschrieben...“ 22


Querverweise:

Gott, Teil III
"Auge um Auge, Zahn um Zahn ..."?, Teil V
"Abba" / "Vater" - ein einzigartiges Gottesverhältnis Jesu?, Teil V
... erzählen von Gottes Feme und von seiner Nähe, Teil VI
Jesus, der Jude, Teil VI


ANMERKUNGEN



16 Leo Prijs, Die jüdische Religion, München 1977, S. 110f.
17 Leo Prijs, a.a.O., S. 111, S. 113.
18 Elie Munk, Gebete, zit. nach Leo Prijs, a.a.O., S. 1 14f.
19 Erich Zenger, Mit meinem Gott überspringe ich Mauern, Freiburg 1987S. 17.
20 Leo Prijs, a.a.O., S. 116.
21 Aus: Siegmund Kaznelson (Hg.), Jüdisches Schicksal in deutschen Gedichten, Berlin 1959, S. 378.


Die Herausgeber

ALBRECHT LOHRBÄCHER - HELMUT RUPPEL - INGRID SCHMIDT

Albrecht Lohrbächer ist Schuldekan in Weinheim; Helmut Ruppel ist Pfarrer i. R. und Studienleiter in Berlin; Ingrid Schmidt ist Lehrbeauftragte in Berlin.