ONLINE-EXTRA Nr. 278
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Seit es ihn gibt steht der Nahost-Konflikt auf der Bühne der Weltpolitik in einem kaum auflösbaren Spannungsgeflecht von interessegeleiteter Machtpolitik, gewaltsamen Auseinandersetzungen und scheinbar unverbeinbaren Existenzansprüchen von Israelis und Palästinensern. Die historisch bedingte Komplexität des Konflikts geht einher mit einer wachsenden Polarisierung und nicht selten damit verbundener Brutalisierung, die vielen Menschen bereits das Leben gekostet und zu einer starren Unversöhnlichkeit der beteiligten Konfliktparteiten geführt hat. Jede Diskussion, jedes Gespräch und jeder Vermittlungsversuch scheint unvermeidlich in einer Sackgasse unvereinbarer Positionen zu enden.
Dies alles spiegelt sich natürlich auch in den öffentlichen Debatten in Gesellschaft und Politik, Kirche und Kultur in den Ländern Europas wieder, nicht selten mit besonderer Schärfe in Deutschland. Kein Wunder, denn jede Auseinandersetzung um Fragen des Nahost-Konflikts ist mit weiteren komplexen Spannungsfeldern verwoben, die aufgrund der jüngeren Geschichte Deutschlands hier von besonders elementarem Gewicht sind: Antisemitismus und Antizionismus im Kontext eines besonderen Verhältnisses zwischen Deutschland und Israel einerseits - sowie Geschichte und Wirkung des christlichen Antijudaismus im Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs zwischen Kirche und Judentum andererseits.
Nachfolgender Text von Andreas Goetze, landeskirchlicher Pfarrer für den interreligiösen Dialog in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, lotet vor dem Hintergrund der angesprochenen Spannungsfelder die "Wahrnehmungen und Haltungen zum Nahost-Konflikt im deutschen Kontext" aus und reflektiert insbesondere deren Auswirkungen auf das interreligiöse Gespräch zwischen Christen und Juden. Was auf der politischen Ebene und zwischen Isrelis und Palästinensern zunehmend zu beobachten ist, sieht Goetze auch im Gespräch zwischen Deutschen und Israelis sowie Christen und Juden als immer schwerer wiegendes Hindernis für Verständigung und Dialog: die wachsende Polarisierung und Unversöhnlichkeit der Positionen und der damit einhergehende Verlust "geschützter Räume", in denen eine emphatische Wahrnehmung des jeweils Anderen und daraus folgend das Gespräch mit ihm möglich wird.
Goetzes Beitrag stammt ebenso wie der kürzlich an dieser Selle publizierte ONLINE-EXTRA-Text von Martin Kloke ("Israel und Palästina: Konflikt ohne Ende?") aus der Zeitschrift "zeitspRUng", der vom Amt für kirchliche Dienste herausgegebenen "Zeitschrift für den Religionsunterricht in Berlin und Brandenburg" und dessen jüngster Themenausgabe "Israel, Palästina und wir" (Berlin, Oktober 2018). COMPASS dankt Andreas Goetze für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Textes als ONLINE-EXTRA Nr. 278!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 278
Seit über 25 Jahren bin ich fast jährlich in Israel und Palästina. Wir haben jüdische, christliche und muslimische Freunde. Die Lage hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, ist aufgeheizter geworden. Die Mauer ist nicht nur als Bauwerk sichtbar, sondern ebenso spürbar in den Köpfen. Ängste von Menschen werden in Hass umgewandelt. Die allgemeine Lage ist von großer Unsicherheit geprägt. Der Nah-Ost-Konflikt scheint festgefahren, Lösungswege und Möglichkeiten zur Konfliktregelung werden aktuell nicht erkennbar vorangetrieben. Gesellschaftliche Gruppen werden vielmehr gegeneinander ausgespielt: Juden gegen Araber, Religiöse gegen Säkulare. Das hat auch Auswirkungen auf interreligiöse und gesellschaftspolitische Dialogbemühungen bei uns in Deutschland. Manchmal scheint es mir, dass die Gräben zwischen vermeintlichen Unterstützern Israels auf der einen und vermeintlichen Unterstützern Palästinas auf der anderen Seite bei uns tiefer sind als in Israel und Palästina selbst: Dort erlebe ich mehr - wenn auch zugegebenermaßen kleine – Dialog- und Begegnungsinitiativen zwischen jüdischen und arabischen Israelis, zwischen Juden, Christen und Muslimen als in Deutschland.
Die Einschätzungen zum „Kairos-Palästina-Dokument“ aus dem Jahr 2009 warfen ein Licht auf die innerkirchliche Debatte. Einige haben das spirituelle Zeugnis der nahöstlichen Christen in diesem Dokument betont, das zu Dialog und Gewaltfreiheit aufrufe. Andere sahen darin ein rein politisches Papier, das zudem unausgewogen gegen Israel Position beziehe. Es liegt eine gewisse Spannung zwischen Menschen, die sich im jüdisch-christlichen Dialog engagieren, und Menschen, denen besonders die Aufnahme einer Stimme aus der christlichen Ökumene wesentlich ist.
Im Folgenden möchte ich einige Eckpunkte der Debatte benennen, wie ich sie in den vielen Jahren der Begegnungen und Dialoge in Deutschland wahrgenommen habe. Diese Eckpunkte erheben keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit, verdeutlichen aber, warum sich diese Debatten auch gerade aufgrund des festgefahrenen nahöstlichen Friedensprozesses und der bei uns geführten gesellschaftspolitischen Diskussionen um Antisemitismus und Islamfeindlichkeit verschärft haben.
Grundsätzlich ist m. E. eine doppelte innerkirchliche Bewegung erkennbar: Zum einen rückt das Verhältnis von Kirche zum Judentum ins Blickfeld, zum anderen das Verhältnis der Kirche zur Ökumene. Beide Bemühungen entspringen der gleichen spirituellen Suche nach Erneuerung und Versöhnung in den europäischen Kirchen nach dem zweiten Weltkrieg.
Erstes Blickfeld: Kirche und Judentum und Sorge vor neuem Antijudaismus
Ein erster, sehr bedeutsamer Weg auf der spirituellen Suche nach Erneuerung und Versöhnung in den europäischen Kirchen nach dem zweiten Weltkrieg sind die Beziehungen der Kirchen zum Judentum und die Erneuerung des jüdisch-christlichen Dialogs. Als „Gespräche aus der Schuld“, hat Shalom Ben-Chorin die Anfangsphase des christlich-jüdischen Dialogs nach 1945 in Deutschland bezeichnet. Und in der Tat haben sich die Kirchen erst im Rahmen einer christlichen Theologie nach Auschwitz den Fragen nach dem Verhältnis des christlichen Glaubens zum Judentum gestellt. Sie ließen sich dabei von der theologischen Erkenntnis leiten, dass es ohne den Einbezug der jüdischen Wurzeln zu keinem tiefgreifenden Verständnis des christlichen Glaubens und zu keiner Erneuerung im Verhältnis zwischen Christentum und Judentum kommen kann. Zahlreiche Christinnen und Christen haben damit die Konsequenzen aus der geschichtlichen Tatsache gezogen, dass Kirche und Theologie seit der Abfassung des Neuen Testamentes einem christlichen Antijudaismus gefolgt sind, der im modernen säkularen Antisemitismus und schließlich im verheerenden Versuch einer „Endlösung der Judenfrage“ mündete.
Indem engagierte Menschen nach dem 2. Weltkrieg im jüdisch-christlichen Dialog Juden und ihrer Tradition mit mehr Achtung begegneten und das Judentum als eigenständige und gültige Religion anerkannten, machten sie ernst mit der Erkenntnis, dass Gott in Jesus Christus nicht nur Mensch, sondern ein Jude geworden ist. In bewusster Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft unterstützen kirchliche Erklärungen weitgehend den Staat Israel, seine Sicherheitsinteressen und seinen Wunsch nach Stabilität.
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Die Ausgabe 2/2018 widmet sich dem Nahostkonflikt. Neben Hintergrundinformationen zur Entstehung des Konflikts wird vor allem viel Unterrichtspraxis geboten. Der Komplexität des Geschehens geschuldet stehen dabei Schüler*innen ab der 6. Jahrgangsstufe aufwärts im Mittelpunkt. Die Geschichten und Planspiele kreisen um Heranwachsende, die sich in ihren Gefühlen vor Entscheidungen gestellt sehen.
Das Amt für kirchliche Dienste ist Herausgeber des „zeitspRUng“, einer Zeitschrift für alle, die in der EKBO Religionsunterricht erteilen.
Zweites Blickfeld: Kirche und Ökumene und die Verpflichtung zu Frieden und Gerechtigkeit
Die Beziehungen der Kirchen zur weltweiten Ökumene sind ein zweiter, ebenso bedeutsamer Weg auf der spirituellen Suche nach Erneuerung und Versöhnung in den europäischen Kirchen nach dem zweiten Weltkrieg. Durch das Gespräch vor allem mit den Kirchen in der sogenanten „Dritten Welt“ wurde in den christlichen Kirchen Europas verstärkt ihre unreflektierte Unterstützung gegenüber kolonialistischen Ambitionen ihrer Regierungen im Zeitalter europäischer Expansion erkannt. Angeregt durch verschiedene Befreiungstheologien haben auch offizielle europäische und amerikanische kirchliche Stellungnahmen die vorrangige Option für Gerechtigkeit und Frieden und damit für die Armen und Entrechteten betont und ihren Willen zum Ausdruck gebracht, die biblischen Schriften aus der Perspektive der Machtlosen und Unterdrückten zu lesen.
Weil ungerechte Strukturen, die die Menschenrechte grundlegend einschränken, im Widerspruch zur Botschaft der erbarmenden Liebe Gottes gegenüber allen Menschen stehen, erklärten im Zusammenhang des Nah-Ost-Konflikts zahlreiche kirchliche Konferenzen ihre Solidarität mit der lokalen Christenheit als einem Teil des palästinensischen Volkes und setzten sich für dessen Recht auf Selbstbestimmung ein. Aufgrund ihres Bewusstseins für die Bedeutung der Ökumene unternehmen die Kirchen alle Anstrengungen, die Identifikation mit den Interessen von Staaten und anderen Mächten und damit die traditionelle Verbindung von „Thron und Altar“ zu überwinden und dagegen nun ihre Solidarität mit denjenigen zu zeigen, die sich gegen Unrecht und Ungerechtigkeit einsetzen.
Diejenigen, die sich dafür einsetzten, dass die Stimme aus der Ökumene Gehör findet, maßen den Sorgen um den Antijudaismus eine hohe Bedeutung bei. Sie zogen aber aus der Betrachtung der Geschichte die Lehre, keinen Menschen durch Schweigen und Wegschauen im Stich zu lassen; zu analysieren, „auf welcher Seite Macht und Ohnmacht liegen", um dort, wo Leiden strukturell bedingt ist, diese strukturellen Bedingungen zu kritisieren. Theologen, die sich besonders im ökumenischen Dialog engagierten, betonten daher die universale Perspektive von Frieden und Gerechtigkeit. Die Liebe Gottes zu einem Volk kann nicht Ungerechtigkeit zu einem anderen beinhalten. Die biblischen Landverheißungen werden daher ganz bewusst in den Kontext von Recht und Gerechtigkeit gestellt und das Land als Gabe, als Lehen Gottes betont, das nicht Besitz einer Nation darstellt, sondern eine Aufgabe, entsprechend nach Gottes Gebot im Land zu leben.
So wurde und wird aus ökumenischer Perspektive der „Sitz im Leben“ der biblischen Landverheißungen betont: Die Bedeutung dieser Verheißungen liege darin, dem bedrängten Volk, ohne Hoffnung, ohne Land im Exil, Hoffnung und Mut zuzusprechen, dass Gottes gnädiges Heilshandeln noch nicht zu Ende ist. Je mehr ein israelischer Nationalismus gerade auch durch christliche Gruppen mit dem Hinweis auf die Bibel religiös legitimiert wurde, desto stärker wurde die universale Perspektive der Propheten von Gerechtigkeit und Recht in der Bibel als Gegenpol herausgearbeitet. Und der Blick auf die bedrängten christlichen Glaubensgeschwister in der Region schärfte insgesamt das Bewusstsein dafür, dass jede Form der Verbindung von Religion mit Herrschaft und Nationalismus zur Abwertung bis hin zur Unterdrückung Andersgläubiger führt.
Zwei Blickpunkte im Spannungsbogen
Mir ist wichtig zu betonen: Beide(!) hier angedeuteten Bemühungen (zum Verhältnis von Kirche und Judentum sowie von Kirche und Ökumene) entspringen der gleichen spirituellen Suche nach Erneuerung und Versöhnung in den europäischen Kirchen nach dem zweiten Weltkrieg. Beide haben in ihrer Sicht auf die Dinge ihre „blinden Flecke“, die an bestimmten Punkten das Recht und den Sinn des anderen Blickpunktes nicht erkennen. Das führt zu einer verschärften Emotionalisierung in der Debatte.
Eine Folge ist: Menschen, die versuchen, beide Anliegen zusammenzuhalten, finden sich angesichts eines solchen Verlangens nach Identifikation schnell zwischen den Stühlen wieder, gelten beiden Seiten als „illoyal“ und müssen sich vor den Anwälten der jeweiligen Bemühungen für ihre Position rechtfertigen. Denn Solidarität mit Israel oder Solidarität mit einer Stimme aus der Ökumene schien der einen oder der anderen Bemühung zuwiderzulaufen und die zaghaften Versuche der eigenen spirituellen Erneuerung auf dem jeweiligen Gebiet zu gefährden. Das hat Auswirkungen auf die Wahrnehmungen im deutschen Kontext.
Zwischen Kritik und antisemitischen Tendenzen
Judenfeindliche Äußerungen bei Protesten gegen die Politik des Staates Israel auf der einen Seite, unkritische Unterstützung israelischer Politik auf der anderen Seite. Die Lage in Nahost ist kompliziert, aber die „Pro-Israel“ wie die „Pro-Palästina“-Demonstrationen fallen vielfach aus der Rolle. Jeder sieht sich nur als Opfer, den anderen als Aggressor. kaum eine Selbstkritik ist spürbar, kaum eine emphatische Sicht auf den Anderen, seine berechtigten Anliegen, seine Hoffnungen und Leiden.
Eine irrführende Grundlage ist die oftmals unausgesprochene Gleichung Judentum = Zionismus = Staat Israel. Diese von Verteidigern wie Kritikern unterstellte Gleichung behindert eine offene politische Debatte. Unter Zuhilfenahme dieser Gleichung setzt sich dadurch jede Kritik an der jüdisch-nationalistischen Politik des Staates Israel unweigerlich der Gefahr aus, als eine antijüdische oder gar antisemitische Haltung etikettiert zu werden. Aus jüdisch-israelischer Sicht kann so das Judentum leicht mit dem Staat Israel identifiziert werden. Doch das Judentum ist weder mit dem Staat Israel noch mit dem Zionismus gleichzusetzen. Judentum ist so vielgestaltig wie der Zionismus facettenreich. Auch die politischen Ansichten in den islamischen Welten sind so bunt und vielgestaltig wie es auch in den jüdischen Lebenswelten die unterschiedlichsten Positionen zur Politik des Staates Israel gibt.
Aber auch zahlreiche Kritiker setzen aufgrund dieser irrführenden Gleichung die israelische Politik mit dem Judentum in eins und kritisieren nicht eine bestimmte Form des Zionismus, sondern pauschal alle Juden. Eine kritische Haltung gegenüber dem ethnisch-exklusiven, national-religiösen Zionismus, der gegenwärtig die Politik und das Denken weiter Teile der israelischen Gesellschaft bestimmt, ist legitim. Ebenso Anfragen an die zunehmende „Sakralisierung“ der ursprünglich säkularen jüdischen Nationalbewegung, die die „Rückkehr in Gelobte Land“ nicht im Völkerrecht (nationale Selbstbestimmung), sondern in der Bibel und ihren Verheißungen zu begründen sucht. Doch Juden, die in Deutschland leben, für die Politik des Staates Israels in Haftung zu nehmen und „ Tod den Juden“ zu rufen oder vom „Gaza-Holocaust“ zu sprechen, ist schlicht Antisemitismus.
Die Beobachtung, dass solche antisemitistische Denkmuster in der Kritik an der Politik des Staates Israel auftauchen, ist nicht neu. Dazu gehört auch die Bestreitung des Selbstbestimmungsrechtes des jüdischen Volkes ebenso wie Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten. Und spielt ein Begriff wie „Israellobby“ mit dem alten Mythos einer jüdischen Weltverschwörung und jüdischer Kontrolle über Medien, Wirtschaft, Regierung? Es ist nötig, über solche Fragen ins Gespräch zu kommen. Meine Erfahrung jedoch ist, dass der Vorwurf des Antisemitismus dieses Gespräch nicht eröffnet, sondern abbricht. Sprachlosigkeit und Parallelwelten sind die Folge, innerkirchlich ebenso wie jüdisch-muslimisch. Und wenn alle kritischen Rückfragen zur israelischen Politik tendenziell für antisemitisch gehalten werden, banalisiert das den Antisemitismus selbst.
Nur „Pro-Israel“ oder „Pro-Palästina“ mit all ihren Etikettierungen hilft also nicht weiter. Im Gegenteil: dies verstärkt den Konflikt, fördert Hass und Gewalt. Der ist dann auch in Schulen spürbar, die insbesondere in Berlin vielfach weder differenziert über Religionen informieren noch den Nah-Ost-Konflikt behandeln und so keine Räume schaffen, einfachen „Schwarz-Weiß-Muster“ inhaltlich zu begegnen.
Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer hat schon 1976 für die innerkirchliche Diskussion festgestellt: „Den Frieden fördert nur, wer für beide Seiten denkt. Und darum gilt allerdings auch das Merkwürdige: Wer für Israel denkt, kann nicht antiarabisch sein (…), sondern für Israel denken – weil wir Christen mit den Juden eng verbunden sind und da wirklich eine Schuld abzutragen haben – heißt, für die Araber, für die Palästinenser, dieses geschundene Volk mitzudenken und denen auch zu helfen“.
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Interreligiöser Dialog in schwierigen Zeiten
Diese empathische Haltung im Dialog findet aktuell immer weniger geschützte Räume. Aufgrund bestehender Konflikte in unserer Gesellschaft haben es interreligiöse Dialogbemühungen nicht leicht. Dazu zählen aggressive Umgangsformen zwischen glaubensverschiedenen Schülerinnen und Schülern und unter Jugendlichen und ein offener und verborgener Antisemitismus, der in der Mitte der Gesellschaft bis hin zum links- und rechtsextremen Rand ebenso wahrzunehmen ist wie in manchem muslimischen Kontext. Dazu gehört auch eine oftmals ausgrenzende und diffamierende Einstellung gegenüber Religionsgemeinschaften und insbesondere gegenüber Musliminnen und Muslimen, die oft verbunden ist mit fehlender Dialogbereitschaft und einem Mangel an interkulturellen und interreligiösen Kompetenzen.
So kann es geschehen, dass sich politische Einschätzungen über religiöse Themen legen und die Atmosphäre belasten. Ein nennenswerter jüdisch-muslimischer Dialog ist auf der Ebene der Gemeinden nicht erkennbar. Werden von jüdischer Seite aufgrund des Antisemitismusverdachts keine wirklichen muslimischen Gesprächspartner erkannt, versteht man auf muslimisch-arabischer Seite nicht, warum Anfragen zu Synagogenbesuchen nicht beantwortet werden. Dabei gibt es bemerkenswerte Initiativen: Die jüdisch-muslimische Ringvorlesungen im Jüdischen Museum oder das Projekt „meet2respect“, durch das Rabbiner und Imame in Schulklassen eingeladen werden, um stereotype Vorurteile zu irritieren. Vielfach ist das Erstaunen groß, wie viel jüdische und muslimische Frömmigkeitspraxis gemeinsam haben.
Das Gespräch bleibt schwierig, aber ist umso notwendiger. Aus christlicher Perspektive bleibt die Sorge für den Staat Israel und die dort lebenden Menschen ebenso wesentlich wie die Solidarität mit den palästinensisch-christlichen Geschwistern. Wenn Kritik zum Ausdruck kommt, dann kann sie nur auf der Basis einer grundsätzlichen „doppelten Solidarität“ kommuniziert werden.
Es ist in der aktuellen, den Anderen im „Schwarz-weiß-Denken“ ausgrenzenden Debatte eine geistliche und gesellschaftspolitische Herausforderung, friedenspolitisch und konfliktsensibel unterwegs zu sein und geschützte Dialog-Räume zu eröffnen. Dabei geht es darum, zunächst Räume in sich selbst aufzuschließen, dann auch im Gespräch mit den Anderen, in dem der Andere mit seinem Narrativ, seiner Geschichte, seinen Hoffnungen, Leiden und Verletzungen, seinen Sehnsüchten und auch seiner Engstirnigkeit Raum in mir erhält. „Empathie-Lernen“ als grundlegendes Element einer Spiritualität des gerechten Friedens möchte ich das nennen. Dafür brauche ich Zeit, Verständnis und vor allem eine neue Wahrnehmungs- und Hörbereitschaft, damit sich grenzüberschreitend Horizonte eröffnen können.
Es gilt, einen Blick für den Anderen zu bekommen, sich offen die Geschichten beider Seiten anzuhören. Es ist bedeutsam, sich sowohl über das Leben unter Besatzung zu informieren als auch die traumatischen Erfahrungen und das daraus resultierende Sicherheitsbedürfnis der Israelis wahrzunehmen. Am besten, indem man selbst nach Israel und Palästina reist, den Menschen dort begegnet und sich vor Ort selbst ein Bild macht. Es ist ebenso wichtig, der wachsenden „Sakralisierung“ (dem Anwachsen national-religiöser Haltungen) auf beiden Seiten zu begegnen und sich gegen die Instrumentalisierung von Religion für politische Interessen einzusetzen.
Es bleibt immer noch viel zu tun. An Unrecht, ob in der Vergangenheit oder Gegenwart, darf und kann man sich nicht gewöhnen. Sonst verlieren wir unsere Zukunft. Denn: Es ist geschehen, und deshalb kann es wieder geschehen. Die in unserer Gesellschaft durch alle Bildungsschichten spürbaren antisemitischen Haltungen und die erkennbare Islamfeindlichkeit, die Zunahme an rechter Gewalt, die juden- und israelfeindlichen und antisemitischen Haltungen in Teilen der muslimischen community zeigen an, wie wichtig hier Wachheit und Aufmerksamkeit sind, wie notwendig Bildung und Begegnungen weiterhin sein werden. Nur indem wir am interreligiösen Dialog festhalten und ihn ausweiten, können wir dazu beitragen, dass Vorurteile und Rassismus abgebaut werden und ein Verständnis – bei allen bleibenden Unterschieden – zueinander wächst.
Der Autor
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Dr. Andreas Goetze ist seit vielen Jahren im interreligiösen Dialog, zu Themen des Nahen Ostens und als Geistlicher Begleiter im Bereich Spiritualität engagiert. Seit 2012 ist er der landeskirchliche Pfarrer für den interreligiösen Dialog in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Dr. Goetze studierte in Heidelberg, Tübingen, Mainz und Frankfurt a. M. Evangelische Theologie, Nebenfächer Philosophie und Judaistik, islamwissenschaftliche Studien und Studien zum orientalischen Christentum in Jerusalem und Beirut, Vikar in Jerusalem, spiritueller Reiseleiter für das Heilige Land. Religionswissenschaftliche Promotion zu den Anfängen des Islams unter dem Titel „Religion fällt nicht vom Himmel“, deren Anliegen die Verbindung der historisch-kritischen Perspektive mit der spirituellen Dimension des Glaubens ist. Letzte Veröffentlichung (zusammen mit Roland Herpich): Toleranz statt Wahrheit? Herausforderung interreligiöser Dialog. Jüdische, christliche und muslimische Perspektiven (Wichern-Verlag 2013)
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