Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 282

Februar 2019

Am 28. Dezember 2018 starb einer der bedeutendsten und über seine Zunft weit hinaus wirkungsmächtigsten Schriftsteller unserer Zeit, der Israeli Amos Oz. Sein in zahlreiche Sprachen übersetztes literarisches Werk, seine politischen Essays und seine energische Einmischung in gesellschaftliche und politische Diskussionen machten ihn zu einer der prominentesten Stimmen Israels. Ob es um Fragen der israelischen Innenpolitik oder den palästinensisch-israelischen Konflikt ging, Oz vertraute nicht allein auf die geschliffenen Worte seiner Feder, sondern mischte sich als politischer Zeitgenosse stets aktiv in die Geschicke seines Landes ein. Als Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung "Peace Now / Frieden jetzt" plädierte er stets für den Dialog zwischen Palästinensern und Israelis, ohne blauäugig die Risiken und Gefahren für die Existenz seines eigenen Volkes und Landes in dieser nicht enden wollenden Auseinandersetzung zu verdrängen.

Sein 2004 erschienener Bestseller "Eine Geschicht aus Liebe und Finsternis" ist nicht nur eine große Familien-Saga, sondern weit mehr ein Epos vom Leben und Überleben, ein Buch der Enttäuschungen und der Hoffnungen. Kein anderer Roman vermag in dieser Verbindung von persönlicher und nationaler Biographie mit derart topographischer und sozialhistorischer Präzision die politische und geistige Entstehungsgeschichte Israels und dessen Verbundenheit mit dem europäischen Kontinent so kenntnisreich und zugleich poetisch zu vermitteln, wie es Oz mit seinem opus magnum gelungen ist. Anlässlich des Todes von Amos Oz hat die Literaturwissenschaftlerin Eva Schulz-Jander den Roman einer Relektüre unterzogen und lässt mit ihrem nachfolgend wiedergegebenen Rezensionsessay die Vielschichtigkeit dieses Romans noch einmal transparent werden.


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Online-Extra Nr. 282


Amos Oz - Eine Geschichte von Licht und Finsternis.


Eine Relektüre anlässlich des Todes von Amos Oz am 28. Dezember 2018

EVA SCHUZ-JANDER


Dieses Buch vorzustellen, ist eine wahre Herausforderung, deshalb beginne ich mit den Äußerlichkeiten, um mich dann dem Inneren des Buches anzunähern.

I    Äußere Fakten

Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis wurde im Suhrkamp Verlag 2004 veröffentlicht. Im Hebräischen bereits 2002. Übersetzt von Ruth Achlama, der ein ganz großes Lob gebührt, weil keinen Moment zu spüren ist, dass man eine Übersetzung liest.

Das Buch umfasst 765 Seiten in der ersten Suhrkamp Ausgabe und ist in 63 Kapitel eingeteilt. Die Kapitel tragen keine Überschriften.

II    Kapitelthemen

Die einzelnen Kapitel kann man in Themenkomplexe einteilen:

1. Das Buch beginnt mit der Beschreibung des Viertels, Kerem Avraham in Jerusalem in dem Amos Oz aufwuchs und streckt sich über die ersten 7 Kapitel

2. Die nächsten 12 Kapitel erzählen die Geschichte der Familie des Vaters. Die Klausner lebten in Odessa und Wilna, wo die Familie herkommt und Anfang der 30er Jahre nach Palästina einwanderte. Die Klausners waren eine Familie von Intellektuellen und Gelehrten. Joseph Klausner, "schön wie ein Engel Gottes“, (S. 147) und ein bekannter Gelehrter, er hat als erster Jude ein Buch über Jesus geschrieben, „einer der hervorragendsten Juden aller Zeiten, und darum kämpfte, dem Judentum seine ursprüngliche Schlichtheit wiederzugeben und es den Händen aller möglichen spitzfindigen Rabbis zu entwinden.“ (S. 550). "Jesus erschien ihm als der jüdische Moralist par excellence." (S. 104)

3. Die nächsten sieben Kapitel erzählen die Geschichte der Familie Mussman, d.h. die Familie der Mutter, Fania, die aus dem polnischen Rowno stammt und auch Anfang der 30er Jahre nach Palästina kam. Die Mussmans waren wohlhabend, Geschichtenerzähler und Zionisten. Wieder eine ganz andere Form jüdischen Lebens in Europa.

4. Die nächsten Kapitel beschreiben das Leben der neuen Familie Klausner-Mussman Arie und Fania Klausner und ihrem Sohn Amos in Jerusalem.

5. Der Rest des Buches handelt gewisser Maßen vom Scheitern aber nicht Verzweifeln. Vom Scheitern der Hoffnungen und Träume, privater und gesellschaftlicher.

Aber dieses Schema wird stets durchbrochen und kann wirklich nur als ein sehr fragwürdiger aber nutzvoller Leitfaden betrachtet werden. Ständig zieht Oz Verbindungslinien zur Gegenwart Polen & Tel-Aviv, Jerusalem, Litauen, Ukraine, Hulda dem Kibbutz, Arrad in der Wüste, wo er wohnte, die USA, wohin er reist.

III    Neben der Familiengeschichte

Es geht in dem Buch um die Geschichte zweier Familien und umfasst grob den Zeitraum vom späten 19. Jahrhundert etwa die 1880er Jahre bis ins 21. Jahrhundert hinein. Das bedeutet dass dieses Buch auch ein Geschichtsbuch ist und zwar wird hier die Geschichte: Mitteleuropas, der Juden Europas, der Stadt Jerusalem, der Hebräischen Sprache, des Staates Israels und seiner Bevölkerung: Pioniere, Einwanderer, Araber, Holocaust-Überlebende, orientalischer Juden, erzählt.

IV    Und noch etwas

Schließlich ist es ein Buch der Frage nach dem Warum, ein Versuch zu verstehen, nicht zu erklären.

V    Letzte Vorbemerkung

Das Buch trägt die Gattungsbezeichnung „Autobiographischer Roman“, was heißt das? Diese Frage bespricht Oz in Kapitel 5 und macht erst einmal die Unterscheidung zwischen autobiographisch und Bekenntnis. Das Buch ist kein Bekenntnis, er erfindet dazu und erzählt die Geschichte, wie sie hätte sein können. „Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge“ wie Barbara Honigmann es ausdrückt. Die Linie zwischen Konfession und Fiktion, zwischen Dokument und Erfindung wird absichtlich verwischt. Die wahren Hauptfiguren des Buches sind die Eltern. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven; und eine davon ist die des Kindes, Amos. Oz unterscheidet zwischen dem „schlechten Leser“, der wissen will, -- war es wirklich so, hat der Autor das so erlebt, ist das die Wirklichkeit, wie sie war – und dem guten Leser, der sucht nicht den Raum zwischen Autor und Text sondern zwischen dem Text und sich selbst. In anderen Worten, was macht der Text mit mir. Und so ist es ein Buch, vor dem wir als Leser bestehen wollen.




VI    Zu den einzelnen Themen:

1) Jerusalem in den 40er und 50er Jahren

In vielen kleinen, komischen, tragischen, witzigen, ernsthaften und poetischen Episoden, entsteht ein Bild Jerusalems der 40er und 50er Jahre, in dem in jeder Wohnung sich eine Enklave eines entlegenen Ortes in Europa spiegelt. Voller Liebe zum Detail erzählt Oz von dem fernen, geliebten Europa der Immigranten.

Keren Avraham war vor allem von Russen bewohnt und ärmlich. Die Menschen lebten in verschachtelten und in mehreren Welten gleichzeitig. Sie lebten erstens in Europa. Europa blieb der geliebte Bezugspunkt, obwohl es die Juden nicht gewollt hatte. Sie waren die echten Europäer gewesen, als noch niemand Europäer war, sondern Nationalisten. Noch heute trauerten die Bewohner Kerem Avrahams der zurückgewiesenen Liebe zu Europa nach, und nennen ihre Katzen Chopin und Schopenhauer.


Europa war ihnen ein verbotenes verheißenes Land, ein Sehnsuchtsort – mit Glockentürmen und kopfsteingepflasterten alten Plätzen, mit Straßenbahnen und Brücken und Kathedralen, mit entlegenen Dörfern, Heilquellen Wäldern Schnee und Auen. … Es war in ihnen der sinnliche Duft einer echten Welt, einer sorglosen Welt, fern der staubigen Wellblechdächer und mit Schrott und Disteln übersäten Brachflächen und der ausgedorrten Hänge Jerusalems. (S. 9)

Nichts wird behauptet in diesem Buch, es wird alles gezeigt, gefühlt, gerochen oder gehört. Wenn Oz den Unterschied zwischen Jerusalem und Tel Aviv anspricht, dann beschreibt er den Gang der Menschen in diesen beiden Städten so:


Nicht nur unterschied sich das Licht in Tel Aviv damals noch mehr vom Jerusalemer Licht als heute – auch die Schwerkraftgesetze waren völlig andere. In Tel Aviv hatten die Leute einen anderen Gang: sie hüpften und schwebten wie Neil Armstrong auf dem Mond. Bei uns in Jerusalem ging man immer ein wenig wie ein trauernder bei einer Beerdigung oder wie jemand, der verspätet ein Konzertsaal betritt. (S. 14).

Aber auch das kultivierte Jerusalem der britischen Mandatszeit „wo sich kulturliebende Juden und Araber mit kultivierten Briten trafen“ existierte nur in ihren Träumen, ebenso wie Eretz Israel mit seinen braungebrannten, asketischen Pionieren “jenseits unseres Horizonts in Galiläa“ waren ganz andere Juden als diese Diasporajuden in Kerem Avraham.

Und dann gab es noch „den Rest der Welt“:


„Der Rest der Welt hieß bei uns gewöhnlich »die ganze Welt«, […] Die ganze Welt war fern, anziehend, wunderbar, aber sehr gefährlich und uns feindlich gesinnt: Sie mochte die Juden nicht, weil sie klug, scharfsinnig und erfolgreich waren, aber auch lärmend und vorwitzig.„ (S. 11)

Die Familie Klausner wohnt in einer kleinen Kellerwohnung, weit ist hier nur der geistige Horizont. Der Vater, Arie Klausner arbeitet als Bibliothekar, hofft sein Leben lang auf eine Stelle an der Hebrew University, die er nie bekommt. Er beherrscht 17 Sprachen, alle mit Russischen Akzent. Er liebt Sprachen.


Vater liebte es, mir all möglichen Beziehungen zwischen Wörtern darzulegen, Ihre Herkunft, Verwandtschaft, als wären die Wörter auch eine Art weitverzweigter Verwandtschaft, die aus Osteuropa gekommen ist mit einem Haufen Cousins zweiten und dritten Grades, angeheirateten Tanten, Großnichten Schwägern und Schwägerinnen, Enkeln und Ur-Enkeln—… (S. 44)

Er ist ein Verstandesmensch, „Rational sogar noch im Schlaf“ sagt die Mutter von ihm. Seine Gefühle kann er, trotz der 17 Sprachen, nicht ausdrücken. Die Mutter, Fania erzählt dem Sohn Geschichten voller Mystik und Magie, bevölkert von Riesen Hexen und Feen. In der Familie wird viel geredet und alle teilen die Sucht nach Büchern. Der kleine Amos wollte, wenn er groß ist „ein Buch werden“. (S. 35)  Dichter wie Agnon, Tschernikowski, Bialik. Frischmann gehören zu den Bekannten der Klausners, sie sitzen alle zusammen oder einzeln am Tisch von Joseph Klausner. Der kleine Amos kannte sie alle, ehe sie zu Straßennamen wurden. Im Viertel wird viel geredet über alles, jeder ist ein Philosoph und Weltverbesserer, man trifft sich und redet und der kleine Amos ist dabei.

Die Personen bleiben uns für immer im Gedächtnis. Da ist zum Beispiel die Großmutter Schlomit, die eine Kampf von heldenhaften Ausmaßen gegen die Mikroben in der Levante führte, mehrmals am Tage viel zu heiß badete und schließlich in der Badewanne an einem Herzinfarkt starb, ein Opfer der Mikroben, der Levante. Oder Mora Isabella, die Katzenhirtin und Lehrerin der ersten Klasse, die ihre kleine zwei-Zimmer Wohnung tagsüber in zwei Klassenräume verwandelt, eine Privatschule, „Heimat des Kindes“, in der sie mit ihren neun Katzen zusammen wirkte als „Direktorin, Schatzmeisterin, Lehrbeauftragte, Feldwebel, Schulschwester, Hausmeisterin, Putzfrau und Klassenlehrerin der ersten  Klasse in allen Fächern.“ (S. 410)

Eine Jerusalemer Vater-Sohn Geschichte sollte hier nicht fehlen, und zwar die, wie der blasse Stubenhocker Bibliothekar und sein Sohn ebenso blass und altklug versuchen einen Garten anzulegen im trockenen, Jerusalem:


Vater ging voran, in hohen Schuhen, bewaffnet mit Hammer, Schraubenzieher, einer Küchengabel, einer Rolle Bindfaden und einem leeren Jutesack sowie dem Brieföffner von seinem Schreibtisch. Ich folgte ihm, hellauf begeistert und aufgeregt voll landwirtschaftlichen Frohsinns, in den Händen eine Wasserflasche, zwei Gläser und einen kleinen Kasten, der Heftpflaster, ein Fläschchen Jod mit einem Stäbchen zum Auftragen, ein Stück Mull und einen Verband enthielt,… Bis Mittag kämpfte Vater heroisch gegen das Bollwerk der steinharten Erde an: gebeugt, mit schmerzendem Rücken, schweißüberströmt, nach Luft ringend wie ein Ertrinkender. (Kapitel 32, S 347;349)  

Schließlich besiegen sie die Erde und ein kleines Beet wird angelegt. Aber unerfahrene, theoretische Gärtner müssen zusehen, wie die zarten Pflänzchen umknicken und eingehen.


Vielleicht hatten wir es mit dem Gießen tatsächlich etwas übertrieben. Oder mit dem Düngen. Vielleicht hatte meine Hitler-Vogelscheuche, von der die Vögel sich überhaupt nicht beeindrucken ließen, die kleinen Keime zu Tode erschreckt. So erstarb denn der Versuch, in Jerusalem einen kleinen Kibbuz zu gründen. (S. 355)    

2) Geschichte der Klausners in Odessa und Wilna

Die Geschichte der Klausners erstreckt sich von Odessa nach Wilna, von Litauen nach Palästina. Bis ins 18. Jahrhundert zurück kann die Familie Klausner auf berühmte Rabbiner und Gelehrte zurückblicken. Zwei Linien gibt es, die Schriftgelehrten und die Landwirte und Fuhrleute, zu denen Joseph Klausner und sein Bruder Alexander, der Großvater von Oz gehörte. Joseph, der schon mit 11 ein Gelehrter war, und Alexander, der dem Leben Zugewandte. Alle waren Zionisten, politische Zionisten und nicht Kulturzionisten, auf die sie herabschauten. So gingen Joseph und seine Frau Zipora auch schon 1919 nach Palästina. Alexander und Schlomit die Großeltern von Amos Oz flohen erst Mal vor den Familien nach New York, kehrten zwei Jahre später nach Odessa zurück, hier führte Schlomit einen Salon für Künstler, dann flohen sie mit ihren Kindern David und Arie vor dem Bürgerkrieg – Rote und Weiße –nach Wilna, von wo sie 1933 vor den Nationalsozialisten, und ohne David, der schon Dozent an der Universität war, nach Palästina flohen. Die übliche, jüdische europäische Geschichte von Flucht und Vertreibung. Vater Arie studierte Geschichte, Semitische Philologie, Bibelwissenschaften und Hebräische Literatur bei seinem Onkel Joseph Klausner. Hier lernte er Fania Mussman kennen, die kurz vorher von der Prager Universität gekommen war, um Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie heirateten.



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3) Geschichte der Mussmans in Rowno, Ukraine

Die Mussmans sind die großen Erzähler, während die Klausners dozieren wie es eben Gelehrte tun, erzählen die Mussmans; erzählen ihre eigenen Geschichte, die der Russen Polen, Ukrainer und Juden , die alle zusammen in der damals polnischen Ukraine lebten. Mit großer Ruhe und Selbstverständlichkeit breitet Oz ihre Geschichte aus, als säße er mit Freunden zusammen, und jeder erzählt, man unterbricht sich und erzählt weiter. Das Buch hat etwas von der mündlichen Erzähltradition, Oz fällt mühelos von einem Tonfall in den anderen und bringt die Ausdrucksweise von Großeltern, Tanten, Nachbarn und Eltern zu Gehör.

Die Geschichte der Mussmans beginnt mit dem Leben des Großvaters der Mutter, Ephraim Mussman, der 13-jährig 20 Tage nach seiner Bar Mitzwah mit dem 12-jährigen Mädchen Chaja verheiratet wurde und zur Überraschung aller auf den Vollzug der Ehe an diesem Abend bestand, was alle inklusive den Rabbiner, überforderte. Die Mutter von Oz kannte diesen Ephraim nur als weisen Alten, der mit 50 schon aussah wie Gott, den ganzen Tag in seiner Mühle saß und „Außer sich Erbarmen tat er den ganzen Tag nichts“. (S.222). Er gewöhnte sich daran, wie ein slawischer Heiliger aufzutreten, eine Mischung zwischen dem „alten Tolstoj und dem Weihnachtsmann“. Die Geschichte der Mussmans ist auch die Geschichte von polnischen Prinzessinen, die irre werden, vom slawischen Alkoholismus, russischem Sentimentalismus, und der slawischen Seele des 19. Jahrhunderts. Die Großeltern mütterlicherseits, die wir auch wieder in Palästina treffen hatten drei Töchter Chaja, Fania, die Mutter von Oz, und Sonia. Ein Teil der Familiengeschichte erzählt die Mutter, einen anderen die Tanten Chaja und Sonja, alle in einem anderen Duktus. Die Mussmans sind praktische Menschen, und recht fortschrittlich, die Töchter erhalten eine höhere Bildung, Chaja und Fania studieren in Prag. Die Mussmans sind keine Gelehrten wie die Klausner, aber praktisch und sehr weise. „Niemals kann man das Leben nach Büchern ordnen“. (S. 242-243).

Sie sprechen fast eine biblische Sprache in ihrer Weisheit. Hier einige der Weisheiten der Mussmans: Von einem Dienstmädchen wird gesagt „es sei noch tauber als Gott der Allmächtige“. Oder: „Papa sagte, Reichtum ist Sünde und Armut ist Strafe, aber Gott möchte anscheinend, dass zwischen Sünde und Strafe keinerlei Verbindung besteht.. Der eine sündigt, und der andere wird bestraft. So ist die Welt eingerichtet." (S. 238)

Von diesem Vater erzählt die Mutter ihrem Sohn: „Mein Vater, dein Großvater, hatte Beharrlichkeit und Weitsicht, ein großzügiges Wesen und ach besondere Lebensweisheit. Nur Glück hatte er nicht.“ Das kann man von fast allen Mussmans sagen. Sie hatten das was, sie in ihrer Weisheit „ein umgekehrtes – ein schwarzes Glück" (S. 260) nannten.

Die Töchter Mussman erhalten eine fortschrittliche Erziehung. Sie gehen auf das jüdische Gymnasium, das Tarbut Gymnasium (Tarbut: hebr. Kultur, Bildung). Im fernen Rowno, das keiner von uns mehr kennt, lernen sie Hebräisch, lesen, schreiben und sprechen, lesen Zeitungen, hebräische Literatur und Bibel Mishna aber auch polnische Literaturgeschichte, europäische, und Kunst. Sie werden zu Zionistinnen, „es gab eine große Begeisterung für alles, was mit der jüdischen Nation zu tun hatte.“ Erzählt Tante Sonia. Sie lernen Eretz Israel lieben und streben der perfekten Nation entgegen.


„Die Tarbut Erziehung war human, progressiv, demokratisch und auch künstlerisch und wissenschaftlich. Man lehrte uns anderen Völkern Respekt entgegenzubringen. Jeder Mensch ist Ebenbild Gottes, auch wenn er es dauernd vergisst." (S.288)

Die Mussmans waren schon lange im Land bevor sie dort eintrafen. Einmal im Land, die Mutter kam 1934, Sonia als letzte 1938, merken sie, dass das, was sie im Tarbut Gymnasium über Eretz Israel gelernt hatten in keiner Weise der Realität entspricht. Und so sehnen sie sich nach dem, was es nie gegeben hat. Tante Sonja wieder: „Ich schaue aus dem Fenster und trauere. Nicht über das, was war und nicht mehr ist, sondern um das, was nie war.“ An dieser Trauer können Menschen sterben.

4)  Die Familie Klausner-Mussman in Jerusalem aus der Sicht des Sohnes

Oz erzählt von dem Leben des kleinen Jungen Amoz, auf dessen Schultern die Eltern all ihre enttäuschten Erwartungen laden. „Alles, was meine Eltern in ihrem Leben nicht erreicht hatten, luden sie auf meine Schultern.“ (S. 393) Er ist ein Wunderkind, und versucht ihre Erwartungen zu erfüllen: „Mein Verlangen, sie zu verzaubern, ist viel stärker als die Lust, sie zu entsetzen. Ich bin einer von unseren Weisen, nicht Dschingis Khan“ (S. 390). Amos Oz blickt ironisch auf den kleinen Amos Klausner zurück. Das Buch geht der Frage nach, wie können zwei gute Menschen, die einander nur Gutes wollen, eine schreckliche Katastrophe herbeiführen? Über 800 Seiten hinweg umkreist das Buch den Selbstmord der Mutter. Erst am Ende wird er erzählt. Die Eltern entfremden sich, das Kind spürt es und beobachtet das Verstummen der Mutter. Mit diesem Buch hat der Sohn der Mutter ein zweites Leben geschenkt, sie wieder zum Leben erweckt.

Im Januar 1952 kauft die Mutter ein Busticket nach Tel-Aviv, wo sie sich in der Wohnung ihrer Schwester mit einer Überdosis Tabletten das Leben nimmt. Lange hat sie versucht, den dunklen Wolken in ihrem Leben die Stirn zu bieten, aber es gelang ihr nicht, die Verzweiflung war stärker. Behutsam forscht der Sohn, der damals grade 12 Jahre alt war, nun den Ursprüngen dieser Traurigkeit nach, um zu verstehen, „warum die Heirat zweier Menschen, die einander Gutes wollen, in einer Tragödie endete“. Den Hergang dieser Tragödie erzählt er erst im letzten Kapitel, fast sachlich erzählt er. Aber in Kapitel 60 lässt er uns teilhaben an der Ohnmacht, derer, die sie lieben, und das Unvermeidliche nicht aufhalten können. Etwa eine Woche vor ihrem Tod, geht es ihr plötzlich viel besser, sie ist fröhlich, zieht sich schön an, und will „die zwei Männer meines Lebens“ zum Mittagessen ins Restaurant einladen. An diesem Morgen bevor der 12-jährige Junge in die Schule geht, umarmt sie ihn zum letzten Mal. Nachdem der Sohn von der Schule nach Haus kam, gingen sie gemeinsam, um den Vater abzuholen, und das Kind spürt, dass die Traurigkeit, wieder von seiner Mutter Besitz nimmt und wie ein Leitmotiv begleitet seine unbeantwortete Frage „Bist du in Ordnung Mutter?“ den ganzen Tag. Der Ruf des Kindes ist wie der des Vogels Elise, der kontrapunktisch das Leid und die Trauer der Mutter mit seinem fröhlichen Gesang, die ersten 5 Noten von Beethovens „An Elise“, begleitet. Bist du in Ordnung Mutter und das Ti-da-di-da-di des Vogels klingen in gewissem Maße wie das Leitmotiv des Sterbens der Mutter. Der Junge hört den Vogel zum ersten Mal, als seine Mutter beweglos, tage- und nächtelang auf dem Stuhl sitzt und ins Leere blickt. In Kapitel 60 erreicht das Erzählen eine Dimension, die über die Tatsachen hinaus geht und das Innerste der Seelenqual nach außen stülpt.

5) Von Amos Klausner zu Amos Oz

Mit 14 ½ kehrt der Sohn dem Vater den Rücken und zieht in einen Kibbutz. Er will sich befreien von der Last Europas, der Last der Diaspora, von der Last Jerusalems. "Im Alter von 14 ½ Jahren erhob ich mich und brachte Vater um, brachte ganz Jerusalem um, änderte meinen Namen und zog allein in den Kibbuz Hulda, um dort auf den Ruinen zu leben.“ (S.664) Er wollte nicht mal mehr ein Jude sein, sondern ein sozialistischer Revolutionär. Er ändert seinen Namen von Klausner zu Oz. Da Namen im Hebräischen immer etwas bedeuten, Klausner – erinnert an Klause, eingeschlossen mit Büchern und Gedanken und dafür standen die Klausners, Oz bedeutet Kraft, Stärke. Er will braungebrannt, muskulös sein, Traktor fahren und keine Gedichte mehr schreiben, ein neues Leben beginnen, sich in einen Bauern und Landarbeiter verwandeln. Dort trifft er Nilly seine Frau. „Nilly strahlte eine verschwenderische, ungehemmt und unbegrenzt sprühende Lebensfreude aus.“ (S. 738) Aber sehr schnell merkt er, dass man seine Vergangenheit nicht hinter sich lassen kann. In dem Zeit-Interview mit Gisela Dachs (DIE ZEIT 28.10.2004 Nr.45) sagt Oz dazu:


Ein altes Sprichwort sagt: Du kannst die Vergangenheit ignorieren, aber die Vergangenheit ignoriert dich nicht. Du kannst entweder davonlaufen oder dich umdrehen und auf sie zurückschauen, aber du kannst sie nicht ausradieren. Das ist etwas das für beide, Israelis und Deutsche, sehr wichtig ist. Man muss nicht zum Sklaven der Vergangenheit werden, aber in diesem einen Teil Europas muss man niederknien und die Vergangenheit auf die Schulter laden. Dann kann man hingehen, wo immer man will.

6. Kleine Fäden

Erwähnen möchte ich doch noch, das worüber ich nicht gesprochen habe, etwas würde fehlen, ohne diese Faktoren, diese kleinen Fäden, die das Buch zusammenhalten und es so unwiderstehlich machen.

a) Den Einbruch der Politik ins Private: etwa in der Nacht zum 30. November 1947 als das Kind aufwacht weil gespenstische Ruhe in der Stadt herrscht. Die Abstimmung der Uno-Vollversammlung über die Teilung Palästinas nähert sich dem Ende. (S. 515-522)

b) Die sprachliche Kluft zwischen den Einwanderern, die ein altmodisches, aus Büchern gelerntes Hebräisch sprechen, und der im Land Geborenen. Über das Hebräisch wird so viel erzählt, vom Vater, dem Kind, den Mussmann Tanten, so dass die Sprache, wie Jerusalem, zum Personal dieses Buches gehört.

c) Den Humor, die Ironie, die Amos OZ diesem Kind und Jungen gegenüber, entfaltet, der Humor mit dem er von dem Hoffen und Scheitern, den vergeblichen Versuchen, sich in dem neuen Land zu Haus zu fühlen erzählt; die Offenheit, mit der er über Privates spricht, ohne Grenzen zu überschreiten, dieser einmalige Stil verdient einen eigenen. Aufsatz.  

d) Das Intime des frühen Israels, jeder kennt jeden, Ben Gurion wird besucht, wie jeder andere Eingewanderte. (Kapitel. 53) Die Mussmanns trafen sich um zu diskutieren mit Menachem Begin, Golda Meir schließlich waren sie alle aus dem Russischen gekommen mit den gleichen Idealen. (Die Netanyahu Jungs hat der kleine Amos unterm Tisch getreten.)

Dieses Buch sprengt einfach die Grenzen einer Rezension, viele haben es mit der Bibel verglichen deren Themen auch unerschöpflich sind. Wie die Bibel, ist es ein Buch, das ich immer wieder aus dem Regal nehme und wieder lese, wieder neu lese. Inzwischen habe ich das dritte Exemplar, immer wieder verliehen, kehrt es nie zurück, keiner gibt es freiwillig aus der Hand.




Die Autorin

EVA M. SCHULZ-JANDER



Dr. phil., wurde in Breslau geboren und immigrierte mit ihren Eltern in die USA. In Houston, Montpellier und Berkeley studierte sie Romanistik, Germanistik und Philosophie und promovierte 1965 über Paul Valéry. Seit 1967 lebt sie in Deutschland.

Sie war Geschäftsführerin der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Kassel und 21 Jahre lang Vorstandsmitglied des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR), davon 15 Jahre dessen katholische Präsidentin. Sie ist Dozentin an der Volkshochschule Region Kassel. 

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