ONLINE-EXTRA Nr. 283
Am Sonntag den 10. März 2019 wird in Nürnberg die diesjährige "Woche der Brüderlichkeit" in Nürnberg eröffnet. Sie steht unter einem hochaktuellen Motto, das zugleich Jahresthema der über 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland ist: "Mensch, wo bist du. Gemeinsam gegen Judenfeindschaft". Auch das aktuelle "Themenheft" des Deutschen Koordinierungsrats widmet sich dem Jahresthema und enthält dementsprechend Beiträge zum Antisemitismus aus theologischer, gesellschaftspolitischer und pädagogischer Perspektive. Diesem Themenheft ist auch das heutige ONLINE-EXTRA entnommen, das aus der Feder des Präsidenten des Amtes für Verfassungsschutzes in Thüringen, Stephan J. Kramer, stammt. © 2019 Copyright bei Deutscher Koordinierungsrat
Kramers nachfolgender Beitrag unter dem Titel "Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" ist insofern von besonderem Interesse, als dass sich hier einer der obersten Verfassungsschützer in unserer Republik in klaren Worten zum politisch hochbrisanten Thema Antisemitismus "aus der Sicht des Verfassungsschutzes", wie der Untertitel des Beitrages lautet, positioniert. Spätestens seit der noch nicht so lange zurückliegenden Affäre um den ehemals obersten Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen ist die Tatsache, wie sehr das Amt der Leitung eines Verfassungsschutzes auf Länder- wie Bundesebene ein eminent politisches Amt ist, wieder mehr in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Eigentlich eine Binsenweisheit: Der Schutz einer Verfassung kann nur dann effektiv sein, wenn Leitung und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes selbst sich über die Werte der zu schützenden Verfassung im Klaren sind und deren vielfältige Bedrohungen hellsichtig zu analysieren verstehen. In diesem Sinne lässt die vorliegende Analyse Kramers im Blick auf die Bedrohung durch den wachsenden Antisemitismus kaum etwas zu wünschen übrig. Ein ebenso beispielhaftes wie ermutigendes Signal.
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 283
Die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland ist im Jahr 2017 unverändert hoch geblieben. Durchschnittlich vier solcher Straftaten pro Tag habe die Polizei registriert, berichtete der „Tagesspiegel“. Das sei ungefähr so viel wie 2016. In den meisten Fällen waren dem Blatt zufolge die Täter rechtsextrem oder zumindest rechts motiviert. Das Blatt beruft sich auf eine Antwort der Bundesregierung auf schriftliche Fragen von Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke).
Demnach stellte die Polizei 2017 insgesamt 1453 antisemitische Delikte fest, darunter 32 Gewalttaten sowie 160 Sachbeschädigungen und 898 Fälle von Volksverhetzung. Die Zahlen werden laut „Tagesspiegel“ vermutlich noch steigen, da nicht alle Angaben der Länder bereits endgültig sind und es Nachmeldungen geben dürfte.
Bei 1377 Delikten geht die Polizei von rechts motivierten Tätern aus. 33 Straftaten werden ausländischen Judenfeinden – ohne Islamisten – zugeschrieben, weitere 25 Delikte „religiös motivierten“ Antisemiten, also meist muslimischen Fanatikern ausländischer oder deutscher Herkunft. Bei 17 Taten war es der Polizei trotz erkennbarem Judenhass nicht möglich, ein politisches Milieu zu ermitteln. Nur ein Delikt, eine Volksverhetzung, war nach Erkenntnissen der Polizei links motiviert.
Da viele Betroffene sich scheuten, judenfeindliche Straftaten anzuzeigen, „dürfte die Dunkelziffer beträchtlich höher sein“, sagte Pau. Ein umfassendes und langfristiges gesellschaftliches Vorgehen gegen jedweden Antisemitismus sei daher unerlässlich. Antisemitische Straftaten sollen nach dem Willen des Deutschen Bundestages zukünftig sogar im Bundesverfassungsschutzbericht gesondert ausgewiesen werden. Der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde in Thüringen, Prof. Reinhard Schramm, hat nach antisemitischen Vorfällen an einer Berliner Grundschule von schwierigen Situationen für Juden auch an Thüringer Schulen berichtet. Aufgrund zweier Vorfälle sei er im vergangenen Jahr an zwei Schulen herangetreten. Es waren Einzelfälle, in denen es nicht zu Handgreiflichkeiten kam, bewertete der Landesvorsitzende die Ereignisse.
Zahlen zu Antisemitismus an Thüringer Schulen gibt es nicht. Deshalb hat der Landeslehrerverband in Thüringen auf Bitte von MDR AKTUELL eine kleine Umfrage bei Schulleitern gestartet. Der Landeslehrerverband wollte von seinen Kollegen wissen, ob sich Thüringer Schulkinder judenfeindlich beleidigen. Es habe nur sehr wenige Rückmeldungen gegeben und darunter sei so gut wie nichts Substanzielles gewesen, so die ernüchternde Bilanz.
Zwei mögliche Erklärungen wurden seitens des Lehrerverbandes bisher in Erwägung gezogen: „Entweder ist das in Thüringen momentan überhaupt kein Thema in den Schulen. Oder aber wir müssen die Wahrnehmung auch wieder schärfen, dass dieses Thema eben nicht einfach unter die Räder kommt, sondern dass man das tagtäglich auf dem Schirm hat.“
Am 13.03.2018 verabschiedete der Thüringer Landtag eine gemeinsame Entschließung der Fraktionen der CDU, Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, um Antisemitismus in Thüringen konsequent zu bekämpfen. Ein umfangreicher Maßnahmenkatalog wird aufgelistet. Unter anderem wird eine spezifischere Erfassung antisemitischer Straftaten durch die Sicherheitsbehörden gefordert, welche stärker die zugrundeliegende Motivation der Täter und Täterinnen beinhaltet. Zusätzlich werden entsprechende Schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden zur Einordnung antisemitischer Straftaten angeregt. Das sind wichtige und richtige Forderungen. Sie allein reichen aber nicht aus.
Das Thema Antisemitismus spielt heute eine wichtige, ja herausragende Rolle in der öffentlichen Debatte in ganz Deutschland. Oft wird ein Wiedererstarken des Antisemitismus beklagt, nicht zuletzt durch die Zuwanderung Hunderttausender Menschen aus der islamischen Welt, in der Antisemitismus oft Teil der Alltagsideologie ist. Die Reaktionen auf die moslemische Variante des Judenhasses reichen von Verharmlosung – Stichwort: die Neuen müssen bloß die Regeln unserer Demokratie lernen und Gedenkstätten für ermordete Juden besuchen, dann wird alles gut – bis hin zur Apokalypse, etwa beim Modedesigner Karl Lagerfeld, der Deutschland vorwarf, Millionen von Antisemiten ins Land geholt zu haben. Auch die Alternative für Deutschland (AfD) verfolgt in ihrem Grundsatzprogramm seit Jahren einen eindeutig anti-islamischen Kurs und versucht damit beim Wähler – nicht nur den Wutbürgern der Gida-Bewegungen – zu punkten.
MENSCH, WO BIST DU? GEMEINSAM GEGEN JUDENFEINDSCHAFT
Es enthält lesenswerte Beiträge namhafter Autoren und Autorinnen, die sich mit den theologischen, politischen, kulturellen und pädagogischen Aspekten dieses Jahresthemas auseinandersetzen. Zu den Autoren gehören unter anderem Rabbiner Andreas Nachama, Reinhard Kardinal Marx, Stephan J. Kramer, Sergey Lagodinsky, Georg M. Hafner, Romani Rose sowie Informationen übrer die Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille 2019.
Das von Schülern des Labenwolf-Gymnasiums in Nürnberg mit Bildern ansprechend gestaltete "Themenheft 2019" ist in der Druckfassung bereits vergriffen, steht aber kostenfrei hier als pdf zum Download zur Verfügung - ebenso wie die Beilage mit praktischen Anregungen Schulen und Gemeinden:
* Themenheft 2019 (pdf)
* Beilage (pdf)
Wachsender Antisemitismus unter Flüchtlingen?
Das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) und andere Stimmen warnen vor einem zunehmenden Antisemitismus durch die Flüchtlingszuwanderung. Viele Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak seien in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der die Vernichtung von Israel und den Juden Staatsdoktrin gewesen sei.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, äußert sich besorgt über einen wachsenden Antisemitismus in Deutschland durch die Einwanderung von muslimischen Asylsuchenden. „Wenn man zwanzig oder dreißig Jahre lang mit einem israel- und judenfeindlichen Bild aufgewachsen ist, dann wird man dieses Bild nicht einfach an der deutschen Grenze aufgeben“, sagte Schuster der F.A.Z. mit Blick auf Herkunftsländer, in denen starke antijüdische Tendenzen existieren. „Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir jedem Flüchtling nahebringen, dass in Deutschland das Grundgesetz die Lebensgrundlage aller Menschen ist und zu unserem Wertekanon die Ablehnung jeglicher Form von Antisemitismus sowie das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels dazugehören.“
Für viele Beobachter stellt sich daher die Frage: Ist der unzweifelhaft existierende muslimische Antisemitismus in Deutschland – erstmals im Sommer 2015 und auch danach war er wieder in seiner ganzen Härte öffentlich auf den Straßen sichtbar – ein einheimisches Gewächs oder importiert? Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. In Deutschland gibt es keine historisch und organisch gewachsene Islamschule deutscher Provenienz, sodass letztendlich positive wie negative Aspekte des muslimischen Lebens in Deutschland ihre Wurzeln immer auch irgendwo im Ausland haben.
Hinzukommt, dass im elektronischen Zeitalter die Medien allgegenwärtig sind. Wenn eine islamistische Website antisemitische Propaganda verbreitet, und ihre Internetadresse mit „.de“ endet, ist das dann einheimischer muslimischer Antisemitismus? Und was wäre, wenn die gleiche Website in einem anderen Land angesiedelt wäre? Wäre der gleiche Inhalt dann importiert?
Man sieht also, dass sich hier keine klare Unterscheidung vornehmen lässt. Eins ist aber klar: Der muslimische Antisemitismus wird aus dem Ausland zu einem erheblichen Teil mit befeuert. Wie Umfragen ergeben, ist die islamische Welt mit Antisemitismus wie mit einer Epidemie durchsetzt.
In einer Umfrage der Anti-Defamation-League aus dem Jahr 2015 (ADL) (ADL Global 100: A Survey of Attitudes Toward Jews in Over 100 Countries Around the World) wird deutlich, dass weltweit 26% der Befragten zwischen sechs und elf der negativen Stereotypen über Juden für wahrscheinlich wahr halten. Dieselbe Umfrage bescheinigt in der Region Mitlerer Osten und Nord-Afrika (MENA) 74% der Befragten mit derselben Einstellung. 75% der Befragten dort sagen, dass sie „Juden hassen, aufgrund der Art wie Juden sich eben benehmen“ und 74% sind der Ansicht, dass „Juden loyaler zum Staat Israel sind als zum Land in dem sie leben“. 65% von ihnen sind der Ansicht, dass „Juden für die meisten Kriege auf der Welt“ verantwortlich sind. Im Ergebnis kommt die Studie zu dem Schluss, dass bei allen getesteten religiösen Gruppen, Muslime mit 49% den höchsten Antisemitismusanteil haben. Besonders bezeichnend dabei ist, dass von den 26% weltweit befragten und als antisemitisch eingestellten Personen, 70% noch nie einen Juden getroffen haben.
Angesichts dieser Situation kann es nicht ausbleiben, dass Kontakte von in Deutschland lebenden Moslems in die islamische Welt hinein unter anderem auch antisemitische Töne mit zu uns nach Deutschland bringen. Soweit die Analyse. Das kann jedoch nicht bedeuten, dass wir den Flüchtlingen keinen Schutz in unserem Land vor Krieg und Verfolgung gewähren sollten. Ganz im Gegenteil: Wir müssen versuchen die Flüchtlinge nicht nur zu versorgen, sondern ihnen auch unsere gesellschaftlichen Grundwerte zu vermitteln und Vorurteile und Stereotypen abbauen zu helfen.
Das zeigt einmal mehr, dass die deutsche Gesellschaft, der deutsche Staat selbstverständlich nicht von der Pflicht entbunden ist, den muslimischen Antisemitismus, der sich hierzulande leider immer mehr breitgemacht hat, genauso wie jeden anderen Rassismus und Extremismus, welcher Provenienz er auch sei, und gegen wen er sich auch richte, zu bekämpfen. Auch die Aussage der Islamismus habe nichts mit dem Islam zu tun, hat weder etwas mit der Realität zu tun noch hilft sie bei der Analyse und Bewältigung des offensichtlichen Problems.
Ebenso wenig können islamische Verbände in Deutschland sagen: Das geht uns nichts an, denn das ist „Propaganda nicht Made in Germany“. Denn selbstverständlich haben auch Vertreter der islamischen Bevölkerung in Deutschland die Verpflichtung, gegen Antisemitismus, Rassismus jeglicher Art, Fremdenhass und sonstigen Extremismus auch in den eigenen Reihen zu kämpfen. Das gilt ja nicht anders für die Vertreter anderer Religionen und für alle Bürgerinnen und Bürger in unserer Gesellschaft.
Während auf der einen Seite der rechtspopulistischen und nationalistischen Alternative für Deutschland (AFD) eine maßgebliche Rolle beim Erstarken des Antisemitismus aus dem rechtsnationalen Lager zugeschrieben wird, behaupten andere, die AFD inszeniere sich gerne als „judenfreundliche“ Partei, die an der Seite Israels steht. Zuletzt gipfelte dies in der kürzlich erfolgten, öffentlichkeitswirksamen Gründung der Gruppe Juden in der AFD (JAFD). Damit soll angeblich der Beweis angetreten werden, dass die Partei nicht „antisemitisch sein könnte“. Die Frage scheint angebracht, ob hier die sprichwörtlichen Nazis in Nadelstreifen in die Parlamente drängen? Oder ist die Partei das, was sie vorgibt: eine bürgerlich-konservative Kraft rechts der Union? Dieser Frage geht Martin Niewendick in seinem Artikel „Das schwierige Verhältnis der AfD zum Antisemitismus“ in der „Welt“ vom 18.01.2018 nach.
Das Verhältnis zu Juden und Israel ist ein Gradmesser für die Einordnung der Partei innerhalb der politischen Landschaft. Richtig ist wohl, dass die Partei ein Antisemitismus- und Revisionismusproblem hat.
Einer der Zweifel erregt, ist Wolfgang Gedeon. Der ehemalige baden-württembergische AfDPolitiker gehörte wegen offen antisemitischer Äußerungen zu den umstrittensten Vertretern der Partei, bis er aus der AFD-Landtagsfraktion austrat. Das Parteiausschlussverfahren blieb indessen erfolglos. Vielen Kritikern gilt der ehemalige Arzt als Holocaustleugner, und seit einer Entscheidung des Berliner Landgerichts im Januar 2018 darf man ihn auch offiziell so nennen. Das Gericht wies eine Klage gegen den Präsidenten des Zentralrats der Juden, Dr. Josef Schuster ab. Dieser hatte den Politiker Anfang 2017 als Holocaustleugner bezeichnet.
„An der Antisemitismus-Zionismus-Frage wird sich weisen, aus welchem Holz die AfD geschnitzt ist“, schrieb Gedeon im Jahr 2017. Er forderte von seiner Partei eine klare Distanzierung vom „israelischen Zionismus“. In einem seiner Bücher findet sich der Satz: „Wie der Islam der äußere Feind, so waren die talmudischen Ghetto- Juden der innere Feind des christlichen Abendlandes.“
Er ist freilich nicht der einzige AfD-Politiker, der mit antisemitischen Aussagen provoziert, wie Niewendick herausgearbeitet hat. 2015 hatte der AfD-Lokalpolitiker Gunnar Baumgart unter anderem den Holocaust-Leugner Ernst Zündel in Schutz genommen und auf Facebook einen Artikel gepostet in dem behauptet wird, dass „kein einziger Jude“ durch „Zyklon B oder die Gaskammern“ ermordet worden sei. Der Brandenburger Jan-Ulrich Weiß hatte 2014 eine von Kritikern als antisemitisch beurteilte Karikatur über den jüdischen Bankier Rothschild verbreitet. Und Peter Ziemann aus Hessen schwadronierte 2013 über „satanische Elemente der Finanz- Oligopole“.
Auch die stellvertretende AfD-Fraktionsvorsitzende Beatrix von Storch tut sich schwer mit dem Kampf gegen Judenhass jenseits öffentlicher Beteuerungen, wie Niewendick in seinem Beitrag in der Welt weiter zu berichten weiß. Zusammen mit ihrem Mann betreibt sie ein Vereinsnetzwerk, zu dem auch das Onlineportal „Freie Welt“ gehört. Dort wird das klassische antisemitische Märchen von der jüdischen Weltverschwörung aufgewärmt.
Über den US-amerikanischen jüdischen Investor George Soros liest man etwa: „Von der US-Wahl bis zur Ukraine: Oligarch George Soros mischt überall mit.“ Dieser sei ein „international tätiger Strippenzieher“. Und der heutige französische Präsident und „Ex-Rothschild-Banker“ Emmanuel Macron „löst Merkel als Hauptmarionette der Finanzglobalisten ab“, heißt es auf der Webseite. Der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland nannte Hitler und die Nazis einen Vogelschiss in der deutschen Geschichte. Björn Höcke, der AfDFraktionsvorsitzende im thüringischen Landtag, forderte eine 180-Grad-Wende bei der Betrachtung des Dritten Reiches. Das Holocaust- Denkmal in Berlin hat er als Mahnmal der Schande bezeichnet. In seinem neuen Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“ spricht derselbe Björn Höcke von „den hunderttausenden Alten, Frauen und Kindern, die im Inferno des anglo-amerikanischen Bombenterrors umkamen“ oder von einer „Konkurrenz um die grausigste Verfolgungsgeschichte, um die ein lukrativer Markt entstanden ist, auf dem das Gewicht des eigenen Leids die Waagschale nach unten drückt. Das lockt dann natürlich auch die Falschmünzer an“. Auch bewertet er die „Vergangenheitsbewältigung“ als „überführten moralischen Impuls“ zum „Zwecke politischer Gängelung und Paralyse unserer nationalen Identität“. Die Erinnerungsarbeit um den Holocaust wird für ihn damit nicht zur „produktiven Verarbeitung von Wunden“, sondern zur „Neurotisierung der Deutschen“. Solche Äußerungen aus der AfD sind nicht nur teilweise der Sprachgebrauch von klassischen Neo-Nazis und Rechtsextremisten, da muss man doch wohl von einer Relativierung des Holocausts sprechen. Hier wird gezielt mit Grenzüberschreitungen provoziert. Seine Beteuerungen, es nicht so gemeint zu haben, überzeugen im Gesamtkontext nicht und müssen als „Windowdressing“ bezeichnet werden.
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Wenn heute von alltäglichem Antisemitismus in Deutschland gesprochen wird, dann konzentriert sich die Debatte in der Regel auf Antisemitismus aus dem Bereich des Rechtsextremismus und der Muslime. Was ist aber mit dem linken Antisemitismus?
Dass es in Deutschland Judenfeindlichkeit gibt – an diesen Skandal hat man sich mehr oder weniger gewöhnt, er gehört – auch in offener Form – zur neuen politischen Normalität, und selbst unter den bürgerlichen Eliten ist er zu Hause. Aber »linker Antisemitismus«? Besitzen Linke nicht eine hochgradige moralische Empfindsamkeit, ein untrügliches Gespür für Ausgrenzung und Verfolgung? Wie konnte ein linker Antisemitismus entstehen, der im »Zionismus den Feind der Menschheit« sieht? Wie konnte die RAF nach der Geiselnahme der israelischen Olympiamannschaft mit unüberbietbarer Niedertracht diesen Satz in eine »Strategieschrift« meißeln: »Israels Nazi- Faschismus verheizt seine Sportler wie die Nazis die Juden – Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik. « Oder mit Joschka Fischer gefragt: Warum landeten »jene, die mit der Abkehr von der Elterngeneration als Antifaschisten begonnen hatten«, bei der judenfeindlichen »Sprache des Nationalsozialismus«?
In der Tat, nach linkem Antisemitismus muss man nicht lange suchen, wie Thomas Assheuer in seinem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit (11/2013) schon vor Jahren anhand der o.a. Fragen herausgearbeitet hat. In der Antiglobalisierungsbewegung Attac fand sich die Karikatur eines fetten Kapitalisten, der einen abgemagerten blonden Arbeiter in Zinsknechtschaft nimmt. Oder dies: Bei einer Tagung des IWF vollführten linke Aktivisten unter den Masken von Donald Rumsfeld und dem israelischen Ministerpräsidenten Scharon einen Tanz ums Goldene Kalb. In Hamburg verhinderten »Antizionisten« gewaltsam eine Aufführung von Claude Lanzmanns Israel-Film. „Und wenn Abgeordnete der Partei Die Linke im Bundestag über Israel reden, dann bekommt ihre Tonlage oft genug etwas affektiv Feindseliges, ganz so, als ginge der DDR-Kommando-Antizionismus mit der dumpfen Israelverachtung alter BRD-Linker eine schlagende Verbindung ein“, schreibt Assheuer.
Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik ist als einer der Ersten den Wurzeln des linken Antisemitismus nachgegangen, sie reichen zurück ins 19. Jahrhundert, zurück zu den Frühsozialisten, zum Beispiel zu Louis-Auguste Blanqui (1805 bis 1881). Blanqui war ein revolutionärer Feuerkopf, er kämpfte gegen »industriellen Feudalismus « und für die Gleichheit aller. Doch mit Unterscheidungen hielt er sich nicht lange auf; Kapitalismus und Judentum waren für ihn ein und dasselbe, und in den Bankiers Rothschild sah er die »Thronbesteigung der Juden«. Blanqui: »Die Semiten sind der Schatten auf dem Gemälde der Zivilisation, der böse Geist der Erde. All ihre Geschenke sind die Pest. Sie sind eine minderwertige Rasse.«
Den stalinistischen Antisemitismus (»wurzellose Kosmopoliten«) muss man ebenso erwähnen wie den verordneten Antizionismus in der DDR. Interessant ist die Israel-Begeisterung der Neuen Linken in der frühen Bundesrepublik. Sie suchte eine neue politische Identität, sie war historisch aufgeklärt und liebäugelte mit dem Kibbuz-Sozialismus. Bewusst oder unbewusst hatten die Kinder der NS-Täter die Schuld ihrer Eltern übernommen. Mit diesem negativen Gefühlserbe im Gepäck fuhren sie nach Israel, gingen in Kibbuzim, glaubten an Wiedergutmachung und hofften, im Land der Holocaust-Überlebenden werde ein doppelter Traum in Erfüllung gehen: der Traum vom Sozialismus und die Befreiung vom Alb deutscher Vergangenheit.
Aber der Sechstagekrieg 1967 änderte alles. Die Besetzung des Westjordanlandes bedeutete eine Kehrtwende – Israel bot keine Projektionsfläche mehr, es war plötzlich »böse«, und die Palästinenser erschienen als die neuen Juden. Der Sechstagekrieg, schreibt der Historiker Michael Brenner, »hatte im Bewusstsein der Linken aus dem israelischen David einen Goliath gemacht – die Juden waren nicht mehr Opfer, sondern wurden plötzlich zu Tätern. Als Opfer mochte man die Juden, als Täter waren sie dagegen angreifbar. « Die bundesdeutschen Linken wurden zu »sekundären« Antisemiten, sie benutzten genau die Stereotype, die die Geschichte der Judenfeindschaft bereitstellte.
Als sich 1969 der SDS mit dem bewaffneten Kampf der Palästinenser gegen Israel solidarisierte, zerbrach auch die lose Solidargemeinschaft aus Intellektuellen und Apo. Der Schriftsteller Jean Améry attackierte die Protestbewegung scharf, für ihn verbarg sich hinter einer »ehrbaren« Israelkritik ein »ehrloser« linker Antisemitismus wie »das Gewitter in der Wolke«. Auch in der Kritischen Theorie schlug die anfängliche Sympathie für die Studentenbewegung um in ein blankes Entsetzen. Der Philosoph Theodor W. Adorno, der vor den Nazis nach Amerika hatte fliehen müssen, sah einen Teil der radikalisierten Linken auf dem Weg in fiel nicht zufällig. Tatsächlich wies der linke »Befreiungsnationalismus« eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem rechten Agitationsmuster auf. Im Zentrum stand auch hier das »Volk«, das die Wahrheit immer schon in sich trage und vom kapitalistisch-amerikanischen »Gesetz« befreit werden müsse. Das »Volk« waren die Palästinenser, und Israel war der Brückenkopf des »Dollarimperialismus«, der es mit »Schalom plus Napalm« jederzeit »ausradieren kann«.
Antisemitismus findet sich in der heutigen Zeit ganz besonders in der Form über die Delegitimierung des Staates Israel.
Oft ernten Juden Sympathie, jedenfalls in den Medien, die sich zunehmend trauen, Themen wie das Mobbing jüdischer Schüler in ihre Berichterstattung aufzunehmen. Die Bundesregierung und mehrere Bundesländer haben Beauftragte für den Kampf gegen den Antisemitismus eingesetzt – eine zweifelsohne wichtige Initiative. Ob diese eine Trendwende, durch einen nunmehr wirksamen Kampf gegen Antisemitismus bewirken werden, bleibt abzuwarten. Bisher sind schon die beiden Berichte und Handlungsempfehlungen der Antisemitismus Kommission des Deutschen Bundestages aus den Jahren 2011 und 2017 nicht zur Umsetzung gekommen.
Allerdings geht die deutsche Antisemitismusdebatte zumeist an einigen Kernwahrheiten vorbei, sei es, weil diese nicht erkannt werden, sei es, weil sie für peinlich gehalten werden. Deshalb ist es an dieser Stelle wichtig, einige wichtige Aspekte beim Namen zu nennen.
1. Es gibt keinen neuen Antisemitismus. In der einen oder anderen Form ist Judenhass Teil der kulturellen und religiösen Tradition in der christlichen ebenso wie in der moslemischen Welt. Gewiss gibt es unterschiedliche Ausprägungen im Orient wie im Okzident. Gewiss ändert sich oft, wenngleich nicht immer, die Terminologie. Die treibenden Kräfte aber sind seit Jahrhunderten dieselben.
2. Niemand wird als Antisemit geboren. Allerdings werden antijüdische Ressentiments bereits sehr jungen Kindern eingeimpft, lange bevor der Staat mit aufklärerischer Sicht der Dinge eingreifen kann. Oft sind schon ABC-Schützen tief davon überzeugt, dass Juden „böse“, „Ausbeuter“, „Gottesmörder“, „Gegner des Propheten“ und so weiter sind. So tiefsitzende Vorurteile durch erzieherische Maßnahmen im Schulwesen zu überwinden, ist in den meisten Fällen nicht möglich.
3. In der alteingesessenen deutschen Gesellschaft gibt es heute nicht unbedingt mehr Feindschaft gegen Juden, als es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten der Fall war. Er wird nur offener ausgesprochen, wobei der Hass auf Juden sich gern als „Kritik“ an Israel tarnt. In vielen Teilen der Gesellschaft ist es eine Selbstverständlichkeit gegen Israel zu sein, so wie es im Kaiserreich und in der Weimarer Gesellschaft zum guten Ton gehörte, Juden zu hassen. Vergessen wir nicht: Das Wort „Antisemiten“ wurde von einem Antisemiten erfunden und wurde mit Stolz, nicht mit Scham ausgesprochen. Was wir heute erleben ist, dass der Antisemitismus durchaus vorhanden ist, der Begriff aber durch Euphemismen ersetzt wurde, die nun wieder mit Stolz, nicht mit Scham benutzt werden.
4. Neu gegenüber früheren Perioden der langen deutschen Geschichte ist, dass die deutsche Politik den Antisemitismus ablehnt und die meisten deutschen Politiker ihn ehrlich verabscheuen. Das ist keine hinreichende Bedingung, um den Antisemitismus auszumerzen, aber doch ein wichtiger Ansatz, um seiner Verbreitung zumindest gewisse Grenzen zu setzen.
Zum einen ist ein Bündnis möglichst aller demokratischen Kräfte erforderlich: Der Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Kunst, Kultur, Wirtschaft und der Behörden. Zum anderen sind, in Gesellschaft und Politik, massive Aufwertungen der Werteerziehung zu Respekt, Empathie und Toleranz im Erziehungswesen sowie eine sich dem Thema nicht verschließende Medienlandschaft wichtige Instrumente zur Eindämmung der Verbreitung antisemitischer Ideen. Sie sind aber allein nicht ausreichend. Es ist essenziell, dass der Rechtstaat mit allen ihm zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mitteln gegen den Antisemitismus vorgeht. Prävention, Intervention und Repression müssen konsequent angewandt werden. Dazu gehören nicht nur eine konsequente Aufklärung und Strafverfolgung von antisemitischen Taten, sondern auch – im Rahmen des sachlich Gebotenen und des rechtlich zulässigen – eine konsequente Beobachtung derjenigen Kreise, die einen Nährboden für Antisemitismus bilden.
All dies erfordert große personelle und finanzielle Anstrengungen. Wobei es zu bedenken gilt, dass eine Beobachtung einschlägiger Kreise durch den Verfassungsschutz nicht nur antisemitische, sondern auch viele andere Straftaten gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verhindern würde. Voraussetzung für ein erfolgreiches Vorgehen auf dieser Ebene ist aber nicht nur die Bereitstellung von Finanzmitteln, sondern auch eine entsprechende Organisation und personeller Ausbau staatlicher Sicherheitsbehörden, sowie eine konsequente und nachhaltige Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen im Bereich der Prävention sowie der allgemeinen Jugend- und Sozialarbeit.
Die Autorin
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...wurde 1968 in Siegen geboren. Nach dem Abitur studierte er Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Marburg, Frankfurt und Bonn. Bis 2015 schloss er an der Fachhochschule Erfurt sein Studium zum Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge und Soziale Arbeit, Master ab. Er war persönlicher Mitarbeiter und Büroleiter verschiedener Bundestagsabgeordneter, arbeitete für die Conference on Jewish Material Claims Against Germany Inc., Frankfurt am Main und hatte verschiedene Funktionen beim Zentralrat der Juden in Deutschland inne. Unter anderem war er persönlicher Referent des Präsidenten des Zentralrats der Juden Ignatz Bubis und gleichzeitig Prokurist der Jüdischen Allgemeinen. Von 2000 – 2004 war er Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland und von 2004 – 2014 Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, gleichzeitig Direktor des Büros des European Jewish Congress, Berlin. Kramer beriet Politiker und Wirtschaft und war 2014 – 2015 Direktor des Office combatting Antisemitism in Europe, American Jewish Committee, Berlin/Brüssel. Seit 1. Dezember 2015 ist er Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen.
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