Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 299

März 2020

Seit Anfang des Jahres liegt das neue "Themenheft" des Deutschen Koordinierungsrates vor. Thematisch widmet sich der Band wie stets dem sogenannten "Jahresthema", das den über 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Deutschland in ihrer Arbeit als Orientierung dienen soll. In diesem Jahr lautet dieses Thema und mithin der Titel des "Themenheftes": "Tu deinen Mund auf für die Anderen". Erneut enthält das "Themenheft" viele lesenswerte Beiträge namhafter Autoren, die sich mit den theologischen, politischen, kulturellen und pädagogischen Aspekten dieses Jahresthemas befassen, das auf einen biblischen Vers im Buch der Sprüche (31,8) zurückgeht. (Mehr Informationen zum "Themenheft" sowie Bestellmöglichkeit findet man weiter unten im Fließtext des Beitrages).

Einer der vielleicht überraschendsten und inspirierendsten Beiträge in dem Heft kommt aus der gemeinsamen Feder von Rabbinerin Elisa Klapheck und Abraham de Wolf. Sie befassen sich mit einer jener Arten, den Mund aufzutun, an die man sicher nicht sofort und als erstes denken mag: dem "Murren". Gleichwohl erstaunlich, dass gerade das "Murren" vielfach in der Bibel zu finden ist und demzufolge auch Gegenstand rabbinischer Diskussion war, was sich vor allem in der jüdischen Rechtstradition niederschlug. Was genau dies bedeutet, entfaltet das Autorenpaar u.a. anhand zweier Denker, mit denen jeweils einer von ihnen sich unabhängig vom Thema bereits intensiv beschäftigt hatten: dem Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer (Abraham de Wolf) und der Religionsphilosophin Margarete Susman (Elisa Klapheck).

Der Beitrag von Klapheck und de Wolf führt auf diese Weise schließlich mitten in eine Reihe gegenwartsrelevanter Fragen und macht damit deutlich, wie und warum gerade dem "Murren" die "jüdische Rechtstradition eine Stimme der Ethik und der Würde" verliehen hat. Nach Lektüre des Beitrags könnte man vor diesem Hintergrund das aktuelle "Jahresthema" beinahe wie folgt ergänzen: Tu deinen Mund auf für die Anderen... und murre!

COMPASS dankt dem Deutschen Koordinierungsrat für die Genehmigung zur Wiedergabe des nachfolgenden Beitrages an dieser Stelle!

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Online-Extra Nr. 299


Die Bedeutung des Murrens für die jüdische Rechtstradition


ELISA KLAPHECK / ABRAHAM de WOLF



Das Murren

Es gibt die unterschiedlichsten Arten, den Mund aufzutun und auszusprechen, was los ist. Wir wünschen uns natürlich, klare Worte sprechen zu können – die Wahrheit hochzuhalten und verbal für die richtige Sache einzutreten. Das ist ein Privileg in einer freien Gesellschaft. In der Bibel sind es vor allem die Prophetinnen und Propheten, die dies können. Sie machen uns vor, wie man einem König oder dem unverständigen Volk klare Kante zeigt – wie man der Macht mit der Wahrheit begegnet.

Der allgemeinen Bevölkerung hingegen bescheinigt die Bibel eine andere Art des Mundauftuns. Vielleicht praktizieren die meisten von uns eher diese zweite Art. Es ist eine Form von Mundauftun, die nicht stolz macht, für die man sich bisweilen schämt: das Murren. In der Wüste hatte Moses andauernd damit zu kämpfen. Mit dem Aufmucken der Unzufriedenen – dem Murren irgendwelcher Gruppen, die nicht schätzen können, was sie mit der Freiheit gewonnen haben und immer nur von dem vermeintlich Verlorenen, dem verklärten Vergangenen ausgehen. Verloren schienen die ägyptischen Fleischtöpfe, die ohnehin nur einer ganz kleinen Elite vorbehalten waren. Vergangen war auch die Sicherheit, sich ein beständiges Dasein einzurichten, indem man die Unterdrückung akzeptiert. Das Murren ist der Protest der Unfreien, die keine Sprache haben, um Vorstellungen von Freiheit begründen zu können. Das konnte nur einer wie Moses, der nicht als Sklave aufgewachsen war. Die meisten anderen, die als Sklaven aufgewachsen waren, konnten ihrer Unzufriedenheit über den Systemwandel nur durch Murren Ausdruck verleihen.

Protestieren

Wir, Rabbinerin Elisa Klapheck und Abraham de Wolf, widmen diesen Aufsatz unserem verstorbenen Freund, dem Wirtschaftsphilosophen Walter Oswalt‘‘. Walter Oswalt hatte vor einigen Jahren eine tolle Rede zu unserer Hochzeit gehalten, auf die wir noch eingehen werden. Er gehörte zu den Grünen der ersten Stunde, wurde in das Stadtparlament, den Römer gewählt und trug dort stark zur Errichtung des Frankfurter Museums Judengasse bei. Außerdem war er aktives Mitglied im liberalen Egalitären Minjan der Jüdischen Gemeinde. Leider ist er vor knapp anderthalb Jahren an einem Gehirntumor gestorben. Er hat die Diskussionen über politische Interpretationen der Bibel im Egalitären Minjan nachhaltig geprägt. Bei einem der Schiurim von Rabbinerin Klapheck zur Paraschat Haschawua, dem Tora-Wochenabschnitt, widersprach ihr Walter vehement, als Elisa das wiederholte „Murren“ der Israeliten in der Wüste kritisch interpretierte und Analogien zur Gegenwart zog. Ähnlich, wie die Kinder Israel die einstigen „ägyptischen Fleischtöpfe“ fälschlich glorifizierten, treffe man heute in osteuropäischen Ländern eine nostalgische Glorifizierung einstiger sowjetischer Fleischtöpfe an. Walter unterbrach und behauptete, dass das Murren etwas sehr Wichtiges sei. Es sei die erste Stufe des Protests. Ohne Murren gebe es keine Änderung zum Besseren. Wir mögen doch bitte die Tora-Stellen über das Murren genau lesen. Wenn es um menschliche Bedürfnisse ging, hätte das Murren jedes Mal zum Erfolg geführt. Indem die Kinder Israel aussprachen, woran es mangelte – Wasser, mehr Abwechslung, mal wieder Fleisch (nicht immer nur das geschmacksarme Manna), usw. – erregten sie zunächst zwar den Zorn Gottes, der hierfür keinen Sinn hatte, doch in so gut wie all diesen Fällen lenkte Gott ein und gab den Unzufriedenen, wonach ihnen gelüstete. Das Murren, so die These unseres Freundes Walter Oswalt, war gerechtfertigt: Gott selbst hat den Unzufriedenen gegeben, was sie brauchten. Recht so!



TU DEINEN MUND AUF FÜR DIE ANDEREN

Das neue Themenheft 2020 des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

Das neue "Themenheft 2020" des Deutschen Koordinierungsrates, das wie stest dem aktuellen Jahresthema gewidmet ist, liegt seit kurzem zum Verkauf vor. Es enthält wie stets viele lesenswerte Beiträge namhafter Autoren, die sich mit den theologischen, politischen, kulturellen und pädagogischen Aspekten des Jahresthemas auseinandersetzen.

Zu den Autoren gehören unter anderem Christoph Markschies, Paul Gerhard Schoenborn, Elisa Klapheck, Irmgard Schwaetzer, Petra Pau sowie Informationen über die Preisträgerin der Buber-Rosenzweig-Medaille 2020.


Das diesmal von Schülern des Evangelischen Kreuzgymnasiums Dresden mit Bildern ansprechend gestaltete "Themenheft 2020" kann hier im Shop des Deutschen Koordinierungsrates für Euro 5,- zzgl. Porto/Versand bestellt werden:

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Gerechte Forderungen

Die jüdische Rechtstradition hat früh gelernt, verschiedene Motivationen des Murrens zu unterscheiden. Das Murren derjenigen, die die Perspektive der Freiheit verwerfen und den Rückfall in überkommene Lebensformen betreiben; in der Tora wird das dargestellt als der Bau des goldenen Kalbes oder als Panikmache beim Anblick des versprochenen Landes, um die Leute zur Rückkehr nach Ägypten zu bewegen: Dieses Murren muss man argumentativ kaltstellen! Aber diejenigen, die den Systemwechsel vom einstigen Sklavenhaus zum Rechtsstaat verstanden haben und erkennen, dass er auch mehr Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten für die eigene, vormals schlechter gestellte Gruppe bereithält: Die muss man mithilfe der jüdischen Rechtstradition unterstützen! Die Tora, vor allem das 4. Buch Mose, enthält unzählige Szenen, in denen gemurrt wird, in denen aber zu unterscheiden ist, ob es um ein destruktives Murren geht, das ins Nichts führt, oder um ein produktives Murren, das in die richtige Richtung weist, indem es an einer besseren Zukunft baut.

Ein positives Murren geht zum Beispiel von den Töchtern Zelofechads aus. (Num. 27, 1-11; 36, 1- 12) Sie murren, weil sie durch die alten patri - archalischen Gepflogenheiten als Frauen übersehen worden waren. Doch aus der Haltung ihres Protests formulierten sie neue Rechte, Frauenrechte: hier als Begründungen dafür, warum auch Töchter Land erben sollen. Der Geschichte der Töchter Zelofechads und ihrer Forderung, das Land ihres Vaters zu erben, liegt sicherlich eine veränderte wirtschaftssoziale Wirklichkeit zugrunde. Möglicherweise hatte sich in der Zeit, als dieser Text in der Tora entstand, das Gefüge der Stämme in wirtschaftlicher Hinsicht geändert – wurde das Stammesland nicht mehr als ein Gemeinschaftseigentum von Stammesoberen regiert, sondern mehr als Privateigentum von den einzelnen Familien des Stammes bewirtschaftet. Das könnte ein Grund gewesen sein, warum die Töchter Zelofechads, der selbst keinen Sohn hatte, nicht einsehen, warum das Familienerbe, also das Land ihres Vaters, nach dem alten Stammesrecht dem Bruder des Vaters zugeteilt werden soll – und nicht vielmehr sie, die Töchter, direkte Erbinnen ihres Vaters werden könnten.

Was auch immer die realen gesellschaftspolitischen Hintergründe waren – Gott gab den Töchtern Zelofechads Recht. Mehr noch, Gott korrigiert in der Tora seine Gesetze in Bezug auf das Erbrecht. Von da an können auch Töchter erben, wenn es keine Söhne gibt. Aus dem Murren wurde eine differenzierte Argumentation, die der geänderten Wirtschaftsrealität entsprach und zu einer Rechtserneuerung führt. Die entscheidende Botschaft für uns: Die Töchter protestieren. Gott gibt ihnen Recht und korrigiert seine Gesetze auf eine Weise, die der gesellschaftlichen Entwicklung gerecht wird. Ohne Murren hätte es diese Veränderung nicht gegeben. Ohne Murren keine Reformen, keine Verbesserungen, keine Gerechtigkeit. Oft fängt es nur mit einem diffusen Gefühl der Unzufriedenheit an und entwickelt sich erst nach und nach zu einer argumentativen Begründung.

Dem steht ein ambivalentes Murren gegenüber aus der Episode, in der Miriam zusammen mit Aaron gegen Moses aufbegehrt. Es geht um Moses äthiopische Ehefrau, die „Kuschiterin“ (Num. 12). In diesem Streit sagen die beiden Geschwister auch, dass sie denselben Rang Gott gegenüber einnehmen wie Moses. Mehr erfahren wir jedoch nicht. Wir wissen nicht, warum Miriam gegen Moses protestiert. Aber offenbar setzt ihr die Angelegenheit derart zu, dass sie einen furchtbaren Ausschlag auf der Haut bekommt und zeitweilig als „aussätzig“ gilt. Ganze rabbinische und feministische Diskurse haben versucht herauszufinden, was Miriam empört. Verbirgt sich hinter der „Kuschiterin“ vielleicht eine nubische Königin? Wir wissen heute, dass südlich von Ägypten ein Reich existierte, das lange von Königinnen regiert wurde. Ist mit der „Kuschiterin“ eine solche Königin, das heißt ein aristokratisches Element angedeutet, das zusammen mit Moses in die Wüste gezogen ist, und an dem sich Miriam stört – oder vielleicht mit dem sie sich identifiziert? Pocht Miriam auf einen aristokratischen Status? Sieht sie sich selbst als Teil der israelitischen Oberschicht? Oder umgekehrt: Ist sie egalitär eingestellt und pocht deshalb auf ihre Gleichrangigkeit mit Moses?

Wir wissen es nicht. Aber wir spüren, wie bedauerlich es ist, dass Miriams Murren zu keinen Worten gelangt – dass sie über das Pochen auf ihren Status nicht hinauskommt, dass ihre Unzufriedenheit nicht in einen konkreten Vorschlag mündet wie bei den Töchtern Zelofechads. Wir ahnen geradezu, dass Miriams Murren in Bezug auf ihre dunkelhäutige Schwägerin auch für uns heute interessant sein könnte: In welchem Verhältnis stehen wir zu den Anderen? Und vielleicht liegt eine eigene Aussage darin, dass uns die Tora Miriams tiefere Motive nicht mitteilt.


Elisa Klapheck und Abraham de Wolf

Empfehlenswerte Lektüre der beiden Autoren:



               



Die jüdische Rechtstradition und die Demokratie

Die Kunst besteht darin, das Murren für die Weiterentwicklung der Rechtstradition nutzbar zu machen. Gleich nach dem Auszug aus Ägypten: In Mara, der ersten Station, nachdem der tyrannische Pharao in den Fluten untergegangen war, begannen die Kinder Israel zu murren, weil es angeblich kein Wasser gab. So kam es zur ersten Krise zwischen ihnen und Gott. Gott besorgt ihnen Trinkwasser. Aber vielleicht wichtiger noch: Er beginnt, sie Recht und Gesetz zu lehren. (Ex. 15, 25) Das heißt, er enthebt sie der dumpfen Sprachlosigkeit der Unfreiheit – dem Grummeln und unzufriedenen Murren. Er gibt ihnen eine Sprache, in der sie, statt unzufrieden zu murren, das Gefüge ihrer Gesellschaft begreifen lernen und im Wege des Rechts zu verbessern. Den Rabbinen zufolge lehrte Gott an diesem Ort die Noachidischen Gebote, das heißt sieben Gesetze eines zivilisatorischen Mindeststandards. (bSan 56 a-b) Das erste Gebot besteht für eine Gesellschaft darin, sich selbst ein Rechtswesen zu geben. Danach ist das Murren an sich nicht verwerflich, sofern die Unzufriedenheit dahin geht, im Rahmen des Rechts die jeweilige Gesellschaft weiterzubringen.

Wie schon eingangs gesagt, verdanken wir unserem Freund Walter Oswalt nicht nur interessante Inspiration zum Thema Murren, sondern auch eine uns nachhaltig beeindruckende Hochzeitsrede. Als wir heirateten, arbeitete Abraham de Wolf an einem Porträt über den Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer und Elisa Klapheck an einer Monographie über die Religionsphilosophin Margarete Susman. Walter konzipierte die Rede so, als würden in unserer Verbindung zugleich Margarete Susman und Hugo Sinzheimer in einen Diskurs treten. Zwar konnten die beiden nicht unterschiedlicher sein, trotzdem wurde uns anhand von Walters Rede klar, dass sie innerlich durch etwas verbunden waren, das auch uns beschäftigt: die Rolle des jüdischen Gesetzesdenkens.

Hugo Sinzheimer, der als Vater des deutschen Arbeitsrechts gilt, hatte in der Gesetzgebung, das entscheidende Instrument für gesellschaftliche Selbstbestimmung erkannt: in der Möglichkeit neue Gesetze zu schaffen. Sein Engagement galt der Emanzipation der Arbeiter im Wege von Arbeitsrecht und Tarifverträgen. Als SPD-Politiker und Gewerkschaftsanwalt entwarf Sinzheimer in bedeutenden Schriften eine „Wirtschaftsdemokratie“. Wie wenige andere prägte er den rechtsstaatlichen Übergang vom Kaiserreich zur Demokratie. In der Weimarer Nationalversammlung wirkte er im Verfassungsausschuss an der Formulierung des Abschnitts über das Wirtschaftsleben mit und prägte die berühmten Sätze „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste.“ Sinzheimer wurde nach dem Ersten Weltkrieg zum ersten Professor für Arbeitsrecht und zum Mitbegründer der Akademie der Arbeit in Frankfurt. Diese war der Universität angegliedert und ermöglichte Arbeitern ohne Abitur und Gewerkschaftlern ein Studium, das sie befähigen sollte, ihr arbeitsrechtliches Engagement durch solide Wissensgrundlagen zu untermauern.

Susman schrieb in dieser Zeit unter anderem in der „Frankfurter Zeitung“ bedeutende philosophische Artikel, in denen sie den revolutionären gesellschaftlichen Wandel vom Kaiserreich zur Demokratie von einem religiöspolitischen Standpunkt begleitete. Gerade in ihren Schriften über das Judentum erhellte sie einen inneren Zusammenhang zwischen Revolution als gesellschaftspolitischer Sühne und dem Gesetz Gottes.

Hugo Sinzheimer und Margarete Suman gehörten derselben Generation an. Sinzheimer war 1875 in Worms als Sohn eines jüdischen Textilindustriellen geboren. Margarete Susman kam 1872 in Hamburg in einer gut situierten deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie zur Welt. Als junge Frau erwog sie einen Übertritt zum Christentum, entschied sich jedoch kurz vor der Taufe dagegen. Das setzte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Judentum in Gang, in deren Mittelpunkt immer wieder auch die Bedeutung des „Gesetzes“ stand. Im „Gesetz“ sah Susman die Möglichkeit einer „Sühne“, einer Teschuwa, die sie als revolutionären Wandel deutete. Nach dem Ersten Weltkrieg stand sie auf der Seite der Novemberrevolution, war eng mit dem Begründer der Münchner Räterepublik, Gustav Landauer, befreundet und schrieb große Aufsätze über die Rolle des Judentums im gesellschaftlichen Wandel. Bereits in ihrem Aufsatz „Die Revolution und Juden“ (1919) erhellte sie den inneren Zusammenhang zwischen jüdischem Gesetzesdenken und Revolution: „Und auch die vom Gesetz Abgefallenen verbindet noch die gemeinsame Abkunft aus dem Gesetz. Aus ihm stammt auch die eigentümliche Verantwortung, die jeder Jude für jeden anderen Juden fühlt. Und in ihm liegt weiter der Schlüssel für das seltsamste Rätsel, daß jeder Jude als der Mensch der Gesetzestreue, der konservative Mensch schlechthin, zugleich der eigentlich revolutionäre, radikale, der reine Mensch der Zukunft ist … Und diese Richtung aus dem göttlichen Gesetz selbst auf die Zukunft, auf die absolute Erfüllung ist dem Juden aus seiner Geschichte unauslöschlich eingeprägt … Und so mußten sie gerade um des göttlichen Gesetzes und seiner Erfüllung willen allen menschlichen Verfestigungen gegenüber revolutionär werden: Weil das Gesetz nicht von dieser Welt ist, darum muß es zuletzt allen stockenden irdischen Ordnungen gegenüber zur Revolution zwingen.“

Gemeinsam war Susman und Sinzheimer, wie unser Freund Walter Oswalt hervorhob, ein Gesetzesdenken, das sich aus einer besseren messianischen Zukunft begründete und zugleich in der gesellschaftlichen Gegenwart verwirklichte. Beide gaben den Murrenden ihrer Zeit eine Perspektive. Wie viele Juden reagierten sie auf die sozialen Umwälzungen ihrer Zeit, indem sie sich, obwohl aus wohlhabenden Elternhäusern kommend, für die Anderen einsetzten: die aufbegehrenden Arbeiter, die Unterdrückten, diejenigen die bislang keine Stimme, keine Sprache hatten. Beide entwarfen im Horizont ihrer jüdischen Herkunft emanzipatorische Perspektiven und mit der Vorstellung einer messianischen Dimension des Rechts Optionen für eine verwirklichbare, bessere Zukunft Deutschlands. Auch wenn sie nicht unmittelbar an der Bibel und der rabbinisch-talmudischen Literatur anknüpften, setzten sie mit modernen Zugängen die jüdische Rechtstradition fort. Susman und Sinzheimer überlebten die Schoa im Exil. Susman flüchtete 1934 in die Schweiz. In Zürich schloss sie sich dem Kreis des religiösen Sozialismus an. In den Jahren des Krieges arbeitete sie an dem Buch, das oft als ihr „Hauptwerk“ bezeichnet wird. Es erschien 1946 unter dem Titel „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“ und enthält die erste größere religiöse Deutung der Schoa. Das Buch mündet in die Feststellung, dass zur Idee der Menschheit von vornherein auch das Judentum gehört. Eine Menschheit, die an der Vision einer allumfassenden, realen Emanzipation aller Unterdrückten festhält, komme nicht ohne das in der Welt mitwirkende Judentum aus. Sinzheimer flüchtete 1933 mit seiner Familie in die Niederlande und wurde dort Professor für Rechtssoziologie. Er überlebte die Jahre der deutschen Okkupation in einem Versteck bei Amsterdam und schrieb in dieser Zeit ein Buch mit dem Titel „Theorie der Gesetzgebung“, das er als sein „Hauptwerk“ sehen wollte. Es ist eine Abhandlung über den Menschen – über die Idee des Menschen mit seinen Potenzialen und Idealen, die sich nur als ein in der Zukunft zu Verwirklichendes fassen lassen. „Der Mensch hat die Gabe der ‚Vorsehung‘, d.h. er ist des Vorblicks auf Kommendes fähig.“ – „Überblicken wir das Gesagte, so sehen wir: Der legislative Akt erfordert ein Vorausschauen des Kommenden, die Tat, die ihm den Weg bahnt, den Leitstern, der ihr als Richtwert voranleuchtet.“

Susman lebte noch bis 1966 und wurde 94 Jahre alt. Sinzheimer starb 1945 kurz nach der Befreiung der Niederlande an Entkräftung. Es soll te Jahrzehnte dauern, bis beider geistige Leistung neue Wertschätzung fand. Sowohl das Gesetz Gottes bei Susman als auch die juristischen Auseinandersetzungen Sinzheimers entfalteten ein Rechtsverständnis, wonach die Gesetze nicht das Bestehende repressiv zementieren und einer Unterdrückung Vorschub leisten sollen, sondern umgekehrt: dem gesellschaftlichen Wandel eine Bahn schaffen und gesellschaft - liche Weiterentwicklung ermöglichen müssen. Beide beleuchteten die emanzipatorische Seite des Rechts. Wie es im Arbeitsrecht nicht nur um ein größeres Stück des Kuchens gehen sollte, hoffte Sinzheimer darauf, dass Demokratie und Rechtsstaat einer erweiterten Selbstbestimmung Gestalt geben. In einer Rede vor der Weimarer Nationalversammlung 1919 sagte er: „Es genügt dem Menschen von heute nicht mehr, dass er zum Parlament wählen kann und in Versammlungen Kritik übt. Er will alle Kreise seines Lebens, die sein persönliches Geschick bestimmen, unmittelbar beeinflussen.“


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Die neuen Murrenden

Susmans Gesetzestheorie war eine moderne Theorie der Sühne – nicht christlich als Strafe verstanden, sondern jüdisch als Teschuwa, als religiöse Pflicht für gesellschaftlichen Wandel. Zu Sinzheimers Zeit transformierten Arbeitsrecht und Tarifverträge die Gesellschaft. Die heutige Situation ist jedoch dahingehend anders gelagert, dass von Menschen ausgeübte Arbeit immer überflüssiger zu werden scheint. Neue Technologien schaffen eine neue Form von Sklavenarbeit, die der Menschen nicht mehr bedarf, bei der die neuen Sklaven Software- Programme und Roboter mit künstlicher Intelligenz sind. Heutiges jüdisches Gesetzesdenken muss einer neuen Form von Unfreiheit entgegenwirken, in der Menschen in einer Konsumzone sich bequemen, nicht mehr selber über das Gefüge dieser Zone zu entscheiden. Die jüdische Rechtstradition stellt uns dabei vor die Herausforderung sicherzustellen, dass es weiterhin die Menschen bleiben, die die letzten Entscheidungen fällen und tragen – nicht die Technik. Das heutige Murren hat ernste Gründe, weil man nicht mehr weiß, wer was entscheidet, wieviel Entscheidungsspielraum überhaupt besteht und wieviel Wirklichkeit von Algorithmen, Computerprogrammen, sozialen Medien vorbestimmt wird, ohne dass wir es bemerken. Zugleich sind alte, physische Arbeitsbereiche in andere Kontinente ausgesourct worden, wo unter furchtbarsten Bedingungen die Konsumgüter unserer Komfortzone hergestellt werden. Mit unserem Freund Walter Oswalt und einigen anderen Frankfurter Juden gründeten wir den Verein „Torat HaKalkala“ als ein Forum, um über wirtschafts- und sozialethische Fragestellungen im Zeichen der heutigen Globalisierung zu diskutieren. Eine Antwort, die sich aus der jüdischen Rechtstradition ergibt, verlangt die Schaffung transnationaler Entscheidungsstrukturen, in denen wir mit den Anderen kommunizieren können und die Anderen zugleich mehr Gestaltungsspielräume in ihrer Wirtschaftsexistenz erhalten. Das versucht z.B. das Bündnis für nachhaltige Textilien, das in den transnationalen Lieferketten ethische und ökologischen Mindeststandards aushandelt und mit entsprechenden Zertifikaten deren Einhaltung garantiert. Globalisierung und Digitalisierung sind gewaltige Trends, die uns unmittelbar mit den Anderen in einst fernen Ländern innerhalb eines Netzwerks der gegenseitigen Abhängigkeiten verbinden – aber zugleich die Macht haben, Vorstellungen zunichte zu machen, dass wir an den inneren Entscheidungsstrukturen teilhaben könnten. Solcher Entmündigung hat die jüdische Rechtstradition entgegenzuwirken. Von billiger Kleidung und Spielzeug aus den Sweatshops Asiens bis demnächst zur facial recognition software aus China, millionenfach an der eigenen Bevölkerung und in Hong Kong erprobt und verbessert, haben wir es heute mit mehreren Dimensionen der Dinglichkeit zu tun. Wie schaffen wir die Verbindung zu jenen Anderen, die in ganz anderen Erdteilen murren und schreien und einer Rechtstradition bedürfen, die ihre Emanzipation ermöglicht? Und wie hören wir das Murren in unserer Gesellschaft, in der durch neue Rationalisierungen ganze Arbeitsbereiche wegfallen? Dem Murren hier wie dort – also nicht nur hier – hat die jüdische Rechtstradition eine Stimme der Ethik und der Würde zu geben.



Die Autoren

ELISA KLAPHECK und ABRAHAM DE WOLF


Rabbinerin Prof. Dr. Elisa Klapheck, geboren 1962 in Düsseldorf, ist Rabbinerin der liberalen Synagogengemeinschaft „Egalitärer Minjan“ in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main und Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn. Sie veranstaltet "Jüdisch-Politisches Lehrhaus" in Frankfurt und gibt die Reihe „Machloket / Streitschriften“ heraus.

Abraham de Wolf, geboren 1959, ist Rechtsanwalt und Sprecher des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Außerdem ist er Vorsitzender von „Torat HaKalkala, Verein zur Förderung der angewandten jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik e.V.“ in Frankfurt am Main.


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