Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 315

September 2021

Landauf landab finden bereits das gesamte laufende Jahr zahlreiche Veranstaltungen statt, die anlässlich des ausgelobten Festjahres "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" organisiert wurden und werden. Selten zuvor dürfte es - trotz und entgegen Corona - so viele Angebote - analog und digital - gegeben haben, die zahlreiche Aspekte jüdischen Lebens präsentieren und thematisieren. Schaut man sich das Angebot etwas genauer an, dürften dabei verständlicherweise zeitgenössische Themen sowie Aspekte der jüngsten Vergangenheit dominieren. Schon sehr viel seltener trifft man dabei freilich auf Veranstaltungen, die weiter in die historische Tiefe der mottogebenden 1700 Jahre eindringen und beispielsweise das spätantike oder mittelalterliche Judentum zum Gegenstand haben.

Diesem - wenn man das so sagen darf - Desiderat des laufenden Festjahres steht die elementare Bedeutung der Geschichte des europäischen Judentums in Hoch- und Spätmittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein gegenüber. Beginnend mit dem 12. Jahrhundert sowie in den nachfolgenden Jahrhunderten wurden die Grundlagen dessen gelegt, was wir heute als das aschkenasische Judentum bezeichnen. Beschäftigt man sich mit dieser Zeit, tritt uns ein in mancherlei Hinsicht doch unbekanntes, mitunter befremdliches, gleichwohl faszinierendes Judentum entgegen, dessen theolgisch-religiösen und kulturellen Entwicklungen das europäische Judentum - und nicht nur dieses - maßgeblich prägten. Es war die Zeit, als die dieser Tage zum UNESCO-Welterbe erklärten SchUM-Städte Speyer, Mainz und Worms ihren Rang als jüdische Zentren erwarben, das Jiddische entstand und der osteuropäische Hasidismus seine Geburtsstunde erlebte. Es sind diese Grundlagen und Entwicklungen, die der Judaist und Religionswissenschaftler Karl Erich Grözinger in seinem nachfolgend wiedergegebenen Beitrag sichtbar macht und dadurch aufzeigt, dass das aschkenasische Judentum "zu Recht als eigene kulturelle Größe gilt..., das bis in die Gegenwart eine dominante Rolle im jüdischen Selbstverständnis beansprucht und tatsächlich spielt", wie er am Ende seines Beitrags schreibt.

Grözingers Beitrag ist der jüngsten Ausgabe der verdienstvollen "Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung" (ZfBeg) entnommen, die schwerpunktmäßig dem Thema "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" gewidmet ist. Das uneingeschränkt empfehlenswerte Heft beleuchtet das besagte Themenjahr mit hervorragenden Beiträgen, die nicht zuletzt in ihrer Vielfalt auch etwas dem eingangs beklagten Mangel an historischer Tiefe entgegenwirken, ohne dabei zeitgenössische Aspekte außer Acht zu lassen. Nähere Informationen zum Heft sowie das komplette Inhaltsverzeichnis finden Sie weiter unten in einer entsprechenden Anzeige.

COMPASS dankt der ZfBeg für die freundliche Genehmigung zur Online-Veröffentlichung des Beitrags von Karl Erich Grözinger, der unter dem Titel "Achkenas - ein europäisch-jüdischer Kulturraum" hier als ONLINE-EXTRA Nr. 315 erscheint.

© 2021 Copyright bei Autor, Redaktion
u. Verlag der ZfBeg
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 315


Aschkenas – ein europäisch-jüdischer Kulturraum

KARL E. GRÖZINGER


Die Weite des Raumes


»Unser Lehrer Rabbi Pinchas sagte: Ich hörte von meinem Lehrer, dem seligen Rabbi Falk [...], warum es in der heiligen Gemeinde Worms mehr Verhängnisse als in anderen Gemeinden und Städten gab.

Die Juden sind zur Zeit der Zerstörung des Ersten Tempels
2  in die heilige Gemeinde Worms gekommen. [...] Und nachdem die 70 Jahre des babylonischen Exils vorüber waren, ist Israel erlöst worden und sie haben sich wieder in Jerusalem und im Lande Israel angesiedelt. Aber die Menschen, welche in der heiligen Gemeinde Worms wohnten, sind nicht ins Land Israel zurückgezogen, sondern sie blieben in Worms. Die Menschen aus Jerusalem haben damals an die Wormser Juden geschrieben, sie sollten ebenfalls aus dem Exil zurückkehren, um im Land Israel zu wohnen und so auch an den drei Wallfahrtsfesten2 nach Jerusalem wallfahren zu können. Denn wenn sie in Worms blieben, könnten sie ja nicht nach Jerusalem wallfahren, denn es ist doch ein sehr weiter Weg bis Jerusalem.

Aber die Wormser haben nicht auf sie gehört und haben ihnen folgende Antwort geschrieben:

›Wohnt ihr in Groß-Jerusalem und wir wollen hier in der heiligen Gemeinde Worms, in Klein-Jerusalem, bleiben.‹ Denn sie waren damals bei den Herrschaften hoch angesehen und haben bei den Nichtjuden großen Gefallen gefunden und sie waren auch sehr reich gewesen. Deshalb wollten sie keine Erlösung und wollten nicht aus dem Exil zurückkehren.

Um dieser Sünde willen ist die heilige Gemeinde Worms mit vielen Verhängnissen bestraft worden, mehr als andere Städte und Gemeinden.«
3

Es ist dieser Glaube an das hohe Alter der jüdischen Siedlung am Rhein und die Gewissheit, im kleinen Jerusalem zu sein, welche das Bewusstsein des aschkenasischen Judentums prägte – zugleich mit dem Wissen um die stets lauernde Bedrohung. Die Benennung der mitteleuropäischjüdischen Heimat mit dem biblischen Namen Aschkenas spätestens seit dem 14. Jahrhundert ist dafür ein weiterer sprechender Ausdruck.

Die Wormser Gründungslegende ist keine Lokalsage. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass um 1740 in der Synagoge von Mohilev in Weißrussland das Bild der hochgebauten Stadt Worms mit dem paradiesischen Lebensbaum Ez ha-Hajjim und dem stets fauchenden Lindwurm links vom Torahschrein abgebildet ist und rechts gegenüber ein Bild von Jerusalem mit dem Baum der Erkenntnis4 – ein fast getreues Abbild der Wormser Legende von Groß- und Klein-Jerusalem, wobei der Baum des Lebens auf der Wormser Seite steht!Mit der Aufnahme dieses Bildes ist die Erstreckung dieses Aschkenas, das Umland von Klein-Jerusalem, bis weit in den Osten abgesteckt.

Die Sprachen: Jiddisch und Hebräisch

Im Jahre 1705/9 ging in Frankfurt am Main ein Buch aus der Druckerpresse mit dem Titel Kav ha-Jaschar, Das Maß des Aufrechten. Das Buch erfuhr in den beiden folgenden Jahrhunderten noch wenigstens 33 Auflagen, darunter mehrere in Frankfurt am Main, in Sulzbach, Fürth, Frankfurt an der Oder, außerdem in Solkowo, Berditschew und Wilna. Der Band erschien als zweisprachige Ausgabe, die obere Seitenhälfte trug den hebräischen Text und die untere den jiddischen.

Der Verfasser des Buches, Zwi Hirsch Koidanover, benannt nach der Stadt Koidanovo östlich von Minsk, war der Sohn von Ahron Schmu’el Koidanover, Rabbiner von Frankfurt am Main und später in Krakau, außerdem in Kurow bei Lublin, in Österreich, im mährischen Nikolsburg, dann in Fürth und Brest-Litowsk. Einige Zeit wirkte er in Hamburg, Altona und Wandsbeck.

In diesem Buch und seinem sprachlichen, bibliografischen wie biografischen Hintergrund hat man eigentlich alles vereint, was zur aschkenasischen Kultur vom 16. bis 19. Jahrhundert zu sagen ist. Zum ersten: Diese Literatur ist zweisprachig, Hebräisch und Jüdisch-Deutsch. Zum anderen: Ein solches Buch wird im Osten wie im Westen gleichermaßen gedruckt und gelesen. Sodann – fast eine Normalität: Der Verfasser und seine Familie waren hier wie dort zu Hause.

Die Zweisprachigkeit solcher Texte will zugleich die mehr und die weniger Gebildeten und vor allem auch die Frauen ansprechen, die eine nicht geringe Rolle im aschkenasischen Lesehunger spielten. Dies zeigt der 1602 in Basel gedruckte Brant-Schpigl oder der im 17. Jahrhundert herausgegebene Zuchtschpigl (Hanau 1610; Prag 1678; Frankfurt am Main 1680). Und natürlich muss man in diesem Zusammenhang noch die sogenannte Weiberbibel, die Ze’ena u-R’ena, nennen. Sie ist ein Midrasch zur Torah und vermittelte in der jüdischen Muttersprache alles, was ein Jude samt den Frauen von seiner Kultur kennen sollte. Das Buch erfuhr zwischen 1622 und 1785 vierundsechzig Auflagen, bis 1900 nochmals weitere 110, im 20. Jahrhundert zusätzliche 40.5 Die Druckorte waren Hanau, Sulzbach, Fürth, Amsterdam, Wilna, Krakau, Lublin, Josefov, Schitomir, Lemberg – kurz, es war in Ost und West ein Bestseller.6 Dieser jiddische Midrasch zur Bibel, die Erbauungsbücher und die altjiddischen Erzählsammlungen – wie das berühmte Ma‘ase-Buch (Basel 1602) oder das von Juspa Schammes aus Worms verfasste Ma‘ase Nissim (Amsterdam 1696) sind jedoch nicht, wie man zuweilen hört, in erster Linie Frauenliteratur, sondern religiöse Volksliteratur, die sich an Männer und Frauen gleichermaßen wandte.



Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung im Kontext
ZfBeg





Heft Nr. 1/2 - 2021
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland



Reinhold Boschki
Julia Münch-Wirtz
Wilhelm Schwendemann

Verantwortliche Schriftleitung

Ulrich Ruh
Redaktion

in Kooperation mit
Daniel Krochmalnik

Das vollständige Inhaltsverzeichnis dieses Heftes können Sie hier einsehen:
Inhalt

Interesse an einem Abonnement (Eur 30,- digital / Eur 40,- print)  Kontakt: info@zfbeg.de





Die Lehre von den göttlichen Namen und die tausendjährige Geschichte der Ba‘ale Schem

Das Bild der Stadt Worms in der Synagoge zu Mohilev entstand zur Zeit des aufblühenden Hasidismus in Osteuropa, einer mächtigen spirituellmystischen Bewegung, die wiederum ihre Lehren und Lehrer mit der rheinischen Muttergemeinde und der benachbarten Stadt Bingen verband. Auch die zweisprachige Gründungslegende7 des osteuropäischen Hasidismus verknüpft die geistigen Ursprünge des Stifters Israel Ben Elieser Ba‘al Schem Tov (1700 –1760) mit Worms. Sie nennt einen gewissen Rabbi Adam Ba‘al Schem Tov als seinen Lehrer, dessen Vorläufer aus Worms kommen. Der Lehrer dieses Rabbi Adam, so erzählt eine andere hasidische Legende, war der in Worms beheimatete Rabbia Elijahu Loans, der Ba‘al Schem von Worms. Dieser Wormser Rabbi, geboren in Krakau, gründete laut dieser Legende eine Bewegung der Verborgenen, die später von dem Ba‘al Schem Rabbi Elijahu von Chelm und schließlich von Rabbi Adam Ba‘al Schem geführt wurde.8 Ein weiteres Legendenbüchlein lässt den Rabbi Adam in Bingen geboren und bestattet sein und in Prag am kaiserlichen Hof seine Wunder wirken.9 Rabbi Adam Ba‘al Schem war, wie alle Ba‘ale Schem, ein Magier vom Typus des Dr. Johann Faust und des Sponheimer Abtes Johannes Trithemius, die allerdings im Gegensatz zu ihren christlichen Rivalen ihre Wunder mit heiligen Gottesnamen wirkten und nicht wie diese mit dämonischen Mächten.

Der wichtigste Autor der Haside-Aschkenas, El‘asar aus Worms (ca.1165 –1238), beanspruchte, laut einer Legende zugleich der wirkliche Lehrer der sefardisch-katalanischen Kabbala und der Meister der rheinisch-hasidischen Theologie zu sein,10 eine Verbindung der jüdischen Philosophie mit den Lehren der talmudischen Zeit. Diese Verbindung bildete die Grundlage für die noch zu nennenden großen jüdischen Theologen des späten Mittelalters und der Neuzeit in Osteuropa.

Ela‘sar legte mit seinen Lehren die Grundlage für das einzigartige Phänomen des aschkenasischen Ba‘al Schem. Sie waren ein zentraler Teil der Theologie der Haside Aschkenas. Laut ihnen hat Gott mit seinen Namen, zu denen letztlich sogar jeder einzelne hebräische Buchstabe gehört, die ganze Welt erschaffen – Gottes Schöpfermacht ruht ja in seinen und seiner Engel Namen. El‘asar hat in einer Reihe esoterischer Schriften die Macht der Gottesnamen beschrieben, mit deren Hilfe der Mensch, wenn er sie denn richtig kennt und einzusetzen weiß, Teilhaber am göttlichen Wunderwirken werden konnte, derart, dass der Mensch erst dann zum Ebenbild Gottes wird, wenn er mit Hilfe der göttlichen Namen auch das höchste der Gottesgeschöpfe erschafft, nämlich ein Menschlein, einen Golem:


»Wer den Sefer Jezira studiert, muss sich zuvor reinigen [und] weiße Kleider anlegen. […] Es obliegt diesem Menschen, jungfräuliche Erde von einem Ort in den Bergen zu nehmen, wo niemand bisher gegraben hat. Und er soll die Erde mit lebendigem Wasser verkneten, und er soll einen Golem machen und soll die Alphabete von 221 [Pforten] permutieren, jedes Glied für sich, jedes Glied mit dem entsprechenden Buchstaben, der im Sefer Jezira erwähnt ist. […] Und stets der Buchstabe des [göttlichen] Namens mit ihnen, das ganze Alphabet. […] Jedes Glied mit dem Buchstaben, mit dem es geschaffen wurde. Er soll dies tun, wenn er rein ist.«11

Und so ist es nicht verwunderlich, dass die älteste aschkenasische Legende von der Erschaffung eines solchen Homunkulus gerade dem Vater der Haside Aschkenas zugeschrieben wird:


»Rabbi Schmu’el derHasid erschuf einmal einen Menschen und schrieb [das hebräische Wort] ’Emet auf seine Stirn. Dieser von ihm erschaffene Mensch konnte jedoch nicht sprechen, da die Fähigkeit, Sprache zu verleihen, allein in der Hand des ewig Lebenden liegt. Und dieser Mensch begleitete und diente R. SchmuelHasid wie ein Diener seinem Meister.«12

Der Ba’al Schem – ein aschkenasischer Beruf

Auf dieser Theologie, nach welcher ein Mensch Herr des göttlichen Namens, also ein Ba‘al Schem, werden konnte, entwickelte sich das schon genannte, in Aschkenas einmalig vertretene Amt des Ba‘al Schem, der als Wundertäter und Heiler eine feste Stellung im Denken und später auch in der Soziologie der jüdischen Gemeinden eingenommen hat. Die von Speyer und Worms ausgehende mystisch-magische Berufszunft hat sich in ganz Aschkenas verbreitet und war bei Christen wie Juden gleichermaßen anerkannt, da den Beruf auch zünftige Rabbiner ausübten. Im 18. Jahrhundert hatte sie ihr Zentrum in Frankfurt am Main, mit deren letztem aschkenasischen Vertreter, dem Ba‘al Schem von Michelstadt (1768/71–1847).13 Im Osten war der letzte Inhaber dieses Titels der bekannte Begründer des dortigen Hasidismus.14

Erbe und Innovation aschkenasischer Theologie

Die Theologie von den Gottesnamen hat allerdings nicht nur diese magische Außenseite, sondern sie hat bis tief hinein in das theologischspekulative Denken der aschkenasischen Theologen gewirkt. El‘asar hat diese Lehre von den wunderwirkenden Gottesnamen zugleich mit der orientalisch-jüdischen Philosophie des Sa‘adja Ga’on (882– 942) und neuplatonisch-sefardischer Philosophie verbunden. Demnach hat sich der unendliche und unerkennbare Gott mittels einer Erscheinungsgestalt, dem Kavod (Herrlichkeit Gottes), offenbart. Dieser Kavod war begrenzt und erkennbar und entsprach somit wieder dem alten biblischen und rabbinisch-talmudischen Gottesbild. Den Offenbarungs-Kavod hat El‘asar des Weiteren als Verkörperung der Gottesnamen gesehen. Dadurch wurde der Gottesname zu einer Offenbarung des verborgenen Gottes und somit zu einem Emanat, einem Ausfluss aus der Gottheit, der nunmehr auf dem Wege weiterer Emanationen den aus Gottesnamen gewobenen Text der Schöpfung hervorbrachte.

Mit dieser Verbindung zweier an sich widersprüchlicher Traditionen hat El‘asar die Grundstruktur aschkenasischer Theologie geschaffen, so zum Beispiel von Jehuda Ben Bezalel (Maharal) von Prag (1512–1609), Moses Isserles (Remu; 1525–1572) in Krakau, Chajjim aus Woloschyn (1749–1821) und schließlich des osteuropäischen Hasidismus mit seiner reichen und vielfältigen Theologie und Mystik.15

Der Begründer des osteuropäischen Hasidismus, Israel Ben Eli‘eser, selbst ein professioneller Ba‘al Schem, hat die seine Bewegung begründende Theologie auf der rheinischen Verbindung von Philosophie und Alphabetologie aufgebaut:


»Es ist ja wohl bekannt, dass der Buchstabe ’Alef die Weisheit und das Denken ist […] und mit diesem hat Gott die Himmel erschaffen, denn alle 22 Buchstaben des Alphabets sind Kleider, der eine für den Anderen. Denn das ’Alef kleidete sich in den Buchstaben Bet, Bet ist ja zwei Mal ’Alef, Gimmel ist drei Mal ’Alef und so weiter. […] Und die Buchstaben ergossen sich von oben nach unten, und damit erschuf Er alle Geschöpfe, das heißt, durch die 22 Buchstaben, von ’Alef bis Taw.
Und jedes [Geschöpf], das durch einen Buchstaben erschaffen wurde, der dem Emanator (Ma’azil) näher steht, ist höher, so dass das, was aus dem letzten Buchstaben, dem Taw, erschaffen wurde, das niedrigste aller Geschöpfe ist. […]

Die Geistigkeit Gottes ist im Buchstaben ’Alef. Und Er hüllte sich in ihn und erschuf ein Licht aus dem Buchstaben ’Alef, und das ist das Licht der Emanation (’Azilut). […] In den 22 Buchstaben von ’Alef bis Taw ist seine Geistigkeit, Er sei gesegnet, […] denn der Heilige, E.s.g., hat sich in diese 22 Buchstaben gehüllt und gekleidet und erschuf die Erde, d.h. die materiellen Dinge der Erde, durch 400 Verhüllungen16, von ’Alef bis Taw, welches die unterste Erde ist, unter der nichts mehr folgt.«17

Für Israel Ben Elieser stellt sich die Welt als ein emaniertes Alphabet dar, in dem die Geistigkeit der Gottheit verhüllt ist. Die Buchstaben sind nach dieser Auffassung also nicht nur Schöpfungswerkzeuge Gottes, sondern sie sind mehr als dies, nämlich die Welt und zugleich göttliches Emanat.

Mit ihrer doppelten Theologie verbanden die rheinisch-jüdischen Theologen das von der Vernunft gebotene Gottesbild der Philosophen mit der anthropomorphen und magischen Theologie der talmudischen Antike. Damit ist ein Grundstein für die aschkenasische Theologie gelegt, die man als harmonistische Theologie bezeichnen kann. Auch die späteren aschkenasischen Theologen folgten dem von den Haside Aschkenas aufgezeigten Weg, die überkommene Tradition mit den neuen Gedankensystemen zu verbinden. Diese Verbindung verschiedener Traditionen zieht sich wie ein roter Faden durch das aschkenasische Denken.

Ein herausragendes Beispiel für diese Harmonisierungstendenz ist der sagenhafte Maharal von Prag (Jehuda Ben Bezalel; 1512/26 –1609)18, den man als den berühmtesten Schöpfer eines Golem kennt. Er bedient sich der Fragen und Antworten der sefardisch-jüdischen Philosophie und verbindet sie mit der aschkenasischen Namentheologie, so dass für ihn der Gottesname, der in seiner Fülle in der Torah enthalten ist, als das erste Emanat aus dem einzig wahren Sein der Gottheit hervorströmte und die Welt hervorbrachte – die Torah als Gottes Name, Gottes Verkörperung und Schöpferin der Welt.

Die für die aschkenasische Theologie typisch gewordene philosophisch-alphabetologisch überhöhte Torah, in welcher der Mensch Gott begegnet, ist die adäquate theologische Antwort auf die für das aschkenasische Judentum so zentrale Beschäftigung mit der Torah in ihrem weitesten Sinn. Dies kann man schon bei El‘asar aus Worms sehen, der in seiner Person den Theologen mit dem Halachisten verbunden hatte.

Ein weiterer herausragender aschkenasischer Denker, dieses Mal aus dem polnischen Krakau, war Moses Isserles (Remu; 1525–1572). Er hat diesen harmonisierenden Grundstein des aschkenasischen Denkens nicht nur in der Theologie weiter gefestigt, sondern auch in der Halacha, indem er den sefardischen Schulchan Aruch des palästinischen Josef Karo (1448 –1575) durch seinen Kommentar zu dem schlechthin gültigen aschkenasischen Rechtskodex machte. Aber auch in der Theologie wurde er zum Begründer der aschkenasischen Orthodoxie.

Isserles hat seine große rechtgläubige Harmonie als eine Verbindung des aristotelischen Philosophen Maimonides (1135/8–1204) mit der Kabbala und dem altrabbinischen Midrasch gestaltet. Dabei hat er, für das aschkenasische Judentum bezeichnend, die Verbindung von Glaube und Halacha zu den Insignien der aschkenasischen Orthodoxie gemacht. Wie bei den zuvor genannten Denkern blieb bei dieser Verbindung die Philosophie nicht mehr das rationale Denksystem, die Kabbala nicht mehr esoterische Mystik; sie alle wurden zusammen zu einer orthodoxen Theologie, Isserles nennt sie Hochmat ha-Elohut19, Gottes-Gelehrsamkeit, umgeschmolzen, deren Orientierungsstruktur die talmudische Haggada war. Beispielhaft für diese Verschmelzung ist der folgende Abschnitt:


»Die Auffassung der Kabbalisten in Sachen der Sefirot ist dieselbe wie die der ›Wirkattribute‹, welche die Philosophen beschrieben. Sie sind die Namen, welche bei der Schöpfung neu entstanden, wie Maimonides […] darlegte. […] Es ist ja bekannt, dass die Kabbalisten schrieben, dass die Sefirot den Namen entsprechen, denn jeder Name weise auf eine Sefira hin, durch welche Gott, E.s.g., Seine Welt lenkt, und dass alle Namen je einer Sefira zugehören, je nach dem was er aussagt, […] So sind die Namen dasselbe wie die Wirkattribute, welche zugleich die Sefirot sind. Also sind die Sefirot die Wirkattribute [des Maimonides] und damit die göttlichen Kräfte und Wirkungen, die bei der Schöpfung offenbar wurden.«20

Dies ist eine perfekte Verschmelzung der maimonidisch-aristotelischen Lehre von den Wirkattributen mit der kabbalistischen Sefirot lehre und El‘asars Lehre von den Gottesnamen. Das Studium dieser Weisheiten, so sagt Isserles an anderer Stelle, ist ein Ersatz für das die Sünden des Menschen sühnenden Opfer.21

Die Apotheose der Verbindung von Torah, Namentheologie, Philosophie und Kabbala bietet die Torahmystik des großen Reformators der aschkenasischen Jeschiva, also der Talmudakademie, Hajjim aus Woloschyn (1749–1821). Nach seiner Auffassung findet der Mensch im traditionellen Studium der Torah Gott selbst, denn »die höchste verborgene Wurzel der heiligen Tora ist unendlich weit oben, […] denn der Heilige, gesegnet sei Er, und die Tora sind Eines, sie ist die Seele und die Lebenskraft, das Licht und die Wurzel aller Welten.«22

Die theologischen wie halachischen Zentren wanderten in Aschkenas vom Westen in den Osten und kehren von dort wieder in den Westen zurück. Dafür kann es kein augenfälligeres Zeugnis geben als den Vater der jüdischen Aufklärung in Berlin, Moses Mendelssohn (1729–1786). Wider Erwarten ist dieser Prophet einer natürlichen überkulturellen Religion der Vernunft zugleich ein nachhaltiger Verfechter der Torah als dem für sein Judentum unverzichtbaren Gesetz. In seinem Buch Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum nennt er diese anscheinend widersprüchliche Verbindung in einem einzigen Atemzug:


»Es ist wahr: Ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargetan und bewährt werden können. Nur darin täuscht ihn [den ungenannten Gegner] ein unrichtiger Begriff vom Judentum, wenn er glaubt, ich könnte dies nicht behaupten, ohne von der Religion meiner Väter abzuweichen. Ich halte dieses vielmehr für einen wesentlichen Punkt der jüdischen Religion und glaube, daß diese Lehre einen charakteristischen Unterschied zwischen ihr und der christlichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: Ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung, Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen […]«23

Wieder wurden Philosophie und Torah zusammengehalten. Allerdings hat Mendelssohn die aschkenasische Verherrlichung der Buchstaben als lebensspendenden Zeichen durch eine Verherrlichung des zeichenhaften Zeremonialgesetzes ersetzt. Das wirkmächtige Lebens-Symbol musste seinen Ort vertauschen, weil Mendelssohn in der christlichen Verherrlichung des in Worte gegossenen Dogmas die Gefahr des Götzendienstes witterte. Der belebende Gottesgeist des Buchstabens der alten Tradition ist bei ihm in das Zeremonialgesetz gewandert.24



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Die Moralliteratur

In der populären Moralliteratur hat das aschkenasische Judentum ebenfalls den Weg der Umwandlung unterschiedlicher Vorgaben in eine eigene harmonistische Frömmigkeit beschritten. Wo die sefardische Moralliteratur den Weg der Seele und des Intellekts aus diesen irdischen Banden als Königsweg der Ethik sieht, verweist die aschkenasische Unterweisung auf die Bewältigung des irdischen Daseins.

Wie in der Theologie ist auch in der Moralliteratur die eigentlich auf die Transzendenz ausgerichtete Kabbala bemerkbar, aber ihre Rezeption geschieht gleichfalls im Sinne einer von ihren Grundanliegen durchaus verschiedenen Frömmigkeit. Selbst der osteuropäische Hasidismus des 18./19. Jahrhunderts, der beispielhafte mystische Denker hervorgebracht hatte, verfolgt eine Tendenz, die Martin Buber einmal Ethik gewordene Kabbala genannt hatte. Allerdings hatte schon die lurianische Kabbala25, deren Schöpfer Jizchak Lurja ben Schlomo Aschkenasi (1534 – 1572) hieß, weil sein Vater wohl aus Polen stammte, hier Vorarbeit geleistet. Denn diese Kabbala hat eine dezidiert sündenorientierte Bußtheologie verkündet, weshalb im Hasidismus der Ba‘al Schem zum Sünden aufdeckenden Propheten wurde.26

Die im aschkenasischen Raum verbreitete Erbauungsliteratur lebt vielmehr von dem Bewusstsein, dass der Mensch in dieses Erdendasein geworfen ist und hier eine Aufgabe zu erfüllen hat, für die er sich dereinst verantworten muss. Den Grundton für diese aschkenasische Ethik gab das wiederum im Kreis der rheinischen Hasidim entstandene Sefer Hasidim vor, das in diesem Heft von Daniel Krochmalnik besprochen wird. Auch hier liegt der Kern der Frömmigkeit nicht in der intellektuellen Entfaltung oder in der Befreiung der Seele aus der Materie oder im mystischen Kontakt zur göttlichen Welt. Deren Hauptwesenszug ist demnach der Kampf des Menschen gegen seinen eigenen bösen Trieb, der Kampf gegen die eigene Neigung und Begierde.

Diese Ausrichtung auf die Bewährung im irdischen Leben wird umso deutlicher, wenn man andere Beispiele der aschkenasischen Literatur betrachtet, etwa das weit verbreitete Orhot Zaddikim (Weg der Aufrechten) aus dem 14. Jahrhundert, welches das irdische Dasein des Menschen als eine einzige Bewährungsprobe und Prüfung durch Gott versteht. Ein bedeutendes Beispiel dieser Moralbücher ist auch das eingangs schon genannte Buch Kav ha-Jaschar. Und gerade hier ist diese Tendenz besonders deutlich, obwohl dieses Buch ganz massiv unter dem Einfluss der Kabbala steht. Diesem aschkenasischen Moralbuch, das mit seinen zahlreichen Gleichnissen und Erzählungen zugleich ein Unterhaltungsbuch ist, fehlt trotz des Einflusses der Kabbala der mystische Blick und die Verankerung der Frömmigkeit im Intellektuellen oder Psychologischen, die für die südeuropäische Moralliteratur so typisch war.

Der Autor des Kav ha-Jaschar, Zwi Hirsch Koidanover, verwendet die Texte der Kabbala und deren Vorstellungen, um mit ihrer Hilfe das Leben der Menschen in der Welt zu lenken, um zu drohen, zu ermuntern und zu verheißen – nicht für ein mystisches oder intellektuelles Ziel. Die mystischen und philosophischen Höhenflüge der südeuropäischen Autoren verlieren in ihrer Rezeption in der aschkenasischen Volksliteratur ihre spirituelle Tiefe und treten in den Dienst einer demutsvollen, fast beschaulichen Frömmigkeit. Zu ihr gehören das züchtige, gesittete Leben im Haus, am Tisch, in der Kleidertracht, ebenso die bescheidene Mitarbeit am Gemeindewohl, Zufriedenheit und Gottvertrauen, geduldiges Tragen der Leiden und die Verehrung der sichtbaren heiligen Dinge des Judentums, der Tefillin, der Schaufäden und der Mesusa, der Synagoge, Friedhof, Torah und deren Lehrer.

Die Erzählungsliteratur


Werfen wir nun noch einen Blick auf die andere, weitverbreitete Gattung der aschkenasischjüdischen Literatur – auf das Geschichten-Buch. Das bedeutendste und bekannteste dieser spätmittelalterlichen hebräischen und jiddischen Märchen- und Legendenbücher ist das im Jahr 1602 in Basel und danach mehrfach im Osten wie im Westen erschienene Ma‘ase-Buch. In ihm findet sich außer Geschichten aus dem Talmud und der Midraschliteratur ein ausführlicher Zyklus von Lokalsagen aus Worms, Speyer, Mainz und Regensburg. Dies zu betonen ist besonders wichtig, weil bis dahin die Helden der jüdischen Volkserzählung meist nur die Helden der Bibel oder des Talmud waren. Die eigene europäische Exilsgegenwart wurde bis dahin nicht durch solche Ortsund Heiligenlegenden geweiht.

Mit dem 19. Jahrhundert setzte insbesondere im Osten eine wahre Sturzflut von erzählerischer Volksliteratur ein, zu deren Anfängen die beiden Grundtexte hasidischer Erzählliteratur gehörten, die Preisungen des Ba‘al Schem Tov und die Erzählungen des Nachman aus Bratzlaw27, die ihrerseits massive Überschneidungen mit den Legenden vom Michelstädter Ba‘al Schem aufweisen.28

Jüdisches Recht zwischen West und Ost

Die drei SchUM-Gemeinden Speyer, Worms und Mainz haben nicht nur in spiritueller Hinsicht die Grundlagen der aschkenasischen Kultur gelegt. Die Einheit des Kulturraumes Aschkenas ist nicht nur in der erzählerischen und theologischen Literatur, sondern auch in rechtlichen Gegebenheiten zu sehen. Die Gemeinschaft des Rechtes im jüdischen Aschkenas zeigen vor allem die zahlreichen Takkanot, also die jüdischen Gemeindestatuten. Diese Takkanot wurden im Osten wie im Westen in dem gemeinsamen Idiom des Jiddischen oder Jüdisch-Deutschen niedergeschrieben. Und nicht nur die Sprache verbindet die alten Takkanot vom Osten bis zum Westen. Es ist auch ihr Inhalt, der trotz der Weite des aschkenasischen Raumes die geografischen Distanzen überwindet. Zahlreiche Einzelbestimmungen für die Synagoge, den Handel und das Strafrecht sind im Osten und Westen gleich oder doch sehr ähnlich.

Die Tradition der Takkanot, also halachischen Rechtsverordnungen einzelner jüdischer Gemeinden oder Gemeindegruppen, hat ihren wesentlichen Ausgang von den ab dem 13. Jahrhundert promulgierten Takkanot-SchUM. Sie hat sich alsbald auf dem gesamten aschkenasischen Raum ausgebreitet. Die Takkanot bezogen sich auf alle Bereiche des jüdischen Lebens, eine Trennung von Religion und bürgerlichem Leben gab es für sie nicht.

Als besonders eindrucksvolles Beispiel mögen hier die Takkanot Krakau dienen. Im Jahre 1595 hat sich eine der ältesten und größten jüdischen Gemeinden Polens, nämlich die von Krakau, eine umfassende Gemeindeordnung gegeben. In diesem Gemeindestatut werden alle Fragen gesetzlich geregelt, die das jüdische Leben im damali - gen Polen bestimmten: die Gemeindeämter, deren Wahlmodus und Vollmachten, Straf- und Zivilprozessordnung, Siedlungs- und Handelsrecht, Standesfragen, Steuergesetze und auch Belange der öffentlichen Moral. Als Beispiel daraus möge ein Paragraph dieses Gesetzeswerkes dienen. Der Inhalt dieses § 74 wie auch seine Sprache zeigen, wie ein hochoffizielles, öffentlich-rechtliches Gesetz einer jüdischen Gemeinde mitten im polnischen Kernland formuliert ist:


§74
»Es sei ba‘ale bosim29, es sei bocherim30,
es sei Jungen, es sei Hiane es sei Fremde,
soll nit teren31 ojf der Gas schpilen, hen32
be33 Kroko hen be Kosmir, hen be Strodem,
hen bekhol chelke ha-‘ir34, mikol sche-ken35
in der Forine36 nit, noch Froj, noch Man.
Un in der Gas ojch nit areme Lajt –
wen es nit zuschtejt zu schpilen […]«37

Wörtlich derselbe Text hätte in Frankfurt am Main oder sonst einer deutschen Stadt geschrieben werden können.38 Die Juden in Polen waren, vor allem ab dem 13. Jahrhundert, sprachlich-kulturell deutsche Juden und haben ihre Sprache und Kultur mit nach Osten genommen. So haben sie auch die Struktur und die Organisation ihrer Gemeinden nach den Mustern der alten Heimat gestaltet. Dasselbe Bild kann man an weiteren, unter anderem an den mährischen Gemeindeordnungen sehen.

Dieser rechtliche Gleichschritt der Juden im Osten wie im Westen von Aschkenas zeigt sich ein weiteres Mal, als die christlichen Behörden ab dem 19. Jahrhundert begannen, das jüdische Religionswesen zu überwachen und zu regulieren. Ausgehend vom Westen wurden nunmehr in hochdeutscher Sprache sogenannte Synagogenordnungen erstellt. Ein besonders sprechendes Beispiel für diesen Gleichschritt ist Mähren, in dem sogar ein aus dem Westen importierter Oberrabbiner in Nikolsburg, nämlich der nachmalige Frankfurter Samson Raphael Hirsch (1808 –1888), die Konfessionalisierung des Judentums nach kirchlichem Vorbild vorantrieb, ebenso die Synagogenordnung der Stadt Kremsier, welche auch an einer hessischen Synagogentür hätte hängen können.39

Schließlich muss in diesem Kontext auch die Frage nach dem Kulturbereich gestellt werden, der gemeinhin als der dominanteste im aschkenasischen Judentum gilt, wiewohl man diesem einseitigen Bild widersprechen muss, wie aus dem oben schon Gesagten deutlich geworden sein sollte.40 Es war wieder die Mutter-Region am Rhein, in Lothringen und der Champagne, die für alle jüdische Traditionsgelehrsamkeit von Aschkenas entscheidend blieb. Hier entstand im 11. Jahrhundert die Schule der sogenannten Tosafisten, also der Glossatoren. Sie gaben vor allem zum Verständnis der talmudischen Texte, der hebräischen Bibel und der religionsrechtlichen Kodexliteratur entscheidende neue Impulse. Die Arbeit der Tosafisten an den Rechtstexten war von einer grundlegenden pragmatischen Vernunft geprägt. Die Argumentationsweisen zu Beurteilung der vorgelegten Rechtsfälle brauchen sich vor einem modernen Rechtverfahren nicht zu verbergen.

Noch entscheidender ist, dass man in dieser Region neue Grundlagen für das Verständnis der überkommenen heiligen Texte legte. Den Kommentatoren war nämlich bewusst, dass die Texte der jüdischen Tradition aus anderen Kultur- und Sprachräumen kamen und dass es dafür lexikografischer, syntaktischer und vor allem formal stilistische Beobachtungen bedurfte.41 Diese Beobachtungen an den alten Texten führten zu einem festen Regelwerk, das fortan die Lektüre und Interpretation dieser Texte bis in die Gegenwart bestimmten. Für die Bibel muss man hier nur den hinlänglich bekannten Raschi (1040 –1105) nennen, der einige Zeit in Worms studierte, und vor allem dessen Enkel Sa-mu’el ben Me’ir (Akronym: Raschbam; 1080 –1174).42 Samu’el Ben Me’ir betrieb eine Auslegung der Bibel nach deren Wortsinn unter Beiseitelassung der Midrasch- Kommentierungen der antiken Vergangenheit. Das heißt, die jüdische Rechts- und Textwissenschaft im rheinisch-französischen Raum hat eine rationale Hermeneutik begründet oder teilweise fortgeführt, die man als pragmatisch-hermeneutische Vernunft charakterisieren kann. Diese Vernunft hat die überkommene Tradition und die aus ihr folgenden Fragen des Rechts nach rationalen Deute- und Entscheidungsverfahren bearbeitet. Was diese pragmatische Vernunft allerdings nicht tat, war die philosophisch-theologischen Deutehorizonte zu hinterfragen. Das heißt, es wurde nicht nach der selbstverständlich vorausgesetzten Wahrheit der den alten Texten zugrundeliegenden Theologien oder Weltanschauungen gefragt, wie dies in den philosophischen Textauslegungen im sefardischen Raum des Mittelalters geschah. Dies sieht man sofort, wenn man die konsequente Wortsinnauslegung von Samuel Ben Me’ir (Raschbam) zur biblischen Schöpfungsgeschichte betrachtet. Diese Auslegung des Raschbam ist eine wunderbare Textexegese, die aber nicht wie die orientalischen und sefardischen jüdischen Philosophen die weitergehende Frage nach dem Wesen und der Herkunft der Schöpfung, nach der Natur des Schöpfers oder nach der menschlichen Fähigkeit, diesen Schöpfer zu erkennen, stellte.

Diese Philosophen aus derselben Zeit bearbeiteten solche grundlegenden Fragen mit dem ihnen reichlich zur Verfügung stehenden platonischen oder aristotelischen Instrumentarium. Die rheinisch-jüdischen Rechtsgelehrten und Exegeten des 11. Jahrhunderts stellten solche Fragen nicht.

Das aschkenasische Judentum gilt nach alledem zu Recht als eigene kulturelle Größe in der Palette der verschiedenen jüdischen Kulturen, das bis in die Gegenwart eine dominante Rolle im jüdischen Selbstverständnis beansprucht und tatsächlich spielt, wie nur ein Blick in die synagogalen Gebetbücher zeigt, bei denen stets ein Nusach-Aschkenas, aschkenasischer Ritus, etwa von einem Nusach Sefarad unterschieden wird.



ANMERKUNGEN



1 587 vor der Zeitrechnung.
2 Pessach, Schawuot und Sukkot.
3 Schammes, Juspa (1696): M’ase Nissim, in: Grözinger, Karl E. (Hg.) (2018): Jerusalem am Rhein. Jüdische Geschichten aus Speyer, Worms und Mainz, Worms, S. 22–23.
4 So beschrieben von: Lisiztky, El (2014): Wegen der Mohilever Schul, in: Milgroym, online verfügbar unter: https://ingeveb.org/texts-and-translations/mogilev-shul. Siehe Weber, Annette (2014): Auf der Spur des Drachen. Zur Darstellung der Stadt Worms mit dem Lindwurm in der Synagoge von Mohilev in Weissrussland, in: Grözinger, Karl E. (Hg.): Jüdische Kultur in den SchUMStädten. Literatur-Musik-Theater, Wiesbaden, S. 21–36.
5 Siehe Schmeruk, Ch. (1988): Perakim fon der jiddischer Literatur-Geschichte, Tel Aviv, S. 177–178.
6 Siehe Neuberg, Simon, Art. »Ze’ena u-Re’ena«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, 2011–2017, online verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1163 [Zugriff: 06.02.2021].
7 Grözinger, Karl E. (1997): Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov, Schivche Ha-Bescht, Wiesbaden.
8 Ausführlich bei Grözinger, Karl E. (Hg.) (2018): Jerusalem am Rhein. Jüdische Geschichten aus Speyer, Worms und Mainz, Worms-Verlag, S. 159–162.
9 Siehe ders. (2018): Der Heilige Jude von Bingen, Rabbi Adam Ba'al Schem. Die Legende und eine Einführung, Bingen; Ebd. (2017): Tausend Jahre Ba'ale Schem. Jüdische Heiler, Helfer, Magier, Wiesbaden.
10 Grözinger, Karl E. (Hg.) (2018): Jerusalem, S. 124–129.
11 Siehe Grözinger, Karl E. (2017): Tausend Jahre Ba'al Schem, S. 39; Idel, Moshe (1990): Golem: Jewish magical and mystical traditions on the artificial anthropoid, Albany, S. 56; Grözinger, Karl E. (2015): Kafka und die Kabbala, Frankfurt am Main, S. 177–179.
12 Siehe ders. (2017): Tausend Jahre, S. 77.
13 Siehe ders. (2010): Der Ba‘al Schem von Michelstadt, Ein deutsch-jüdisches Heiligenleben, Frankfurt am Main.
14 Siehe ders. (2017): Tausend Jahre, S. 39; Ders. (2004): Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 1, S. 348–354. Zur Geschichte des Typus siehe ders. (2006): Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 2, S. 714–753; Ders. (2017): Tausend Jahre, S. 65–271.
15 Siehe dazu ders (2020): Das spirituelle Profil des aschkenasischen Judentums, in: Aschkenas, Bd. 30/2, S. 181–215.
16 400 ist der Zahlwert des Buchstabens Taw.
17 Bei Jakob Josef aus Polna’a in Toledot Ja‘akov Josef, Brooklyn o.D., Bereschit, S. 8d; ausführlich, Grözinger, Karl E. (2006): Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 766–773.
18 Zu ihm siehe ders. (2009): Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 3, S. 233–280.
19 Dazu ders. (2004): Jüdisches Denken, Bd. 1, S. 438–446.
20 Isserles, Moses: Torat ha-‘Ola, III, 4, S.4a-b; siehe Grözinger, Karl E. (2009): Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 291–292.
21 Siehe Grözinger, Karl E. (2009): Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 284.
22 Siehe ebd. S. 332.
23 Mendelssohn, Moses (1989): Schriften über Religion und Aufklärung, Darmstadt, S .407f.
24 Vgl. Grözinger, Karl E. (2009): Jüdisches Denken, Bd. 3, S. 413– 414; Vgl. Krochmalnik, Daniel (1998): Das Zeremoniell als Zeichensprache. Moses Mendelssohns Apologie des Judentums im Rahmen der aufklärerischen Semiotik, in: Simon, Josef; Stegmaier, Werner (Hg.): Zeichen und Interpretation, Bd. 4, Frankfurt am Main, S. 238–285.
25 Zu ihr Grözinger, Karl E. (2006): Jüdisches Denken, Bd. 2; Scholem, Gershom (1967): Hauptströmungen der jüdischen Mystik, Frankfurt am Main; Necker, Gerold (2008): Einführung in die lurianische Kabbala, Frankfurt am Main.
26 Vgl. Grözinger, Karl E. (2006): Jüdisches Denken, Bd. 2, S. 734–738.
27 Siehe Grözinger, Karl E. (1985): Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov; M. Brocke: Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw, München.
28 Siehe ders. (2010): Der Ba‘al Schem von Michelstadt, Ein deutsch-jüdisches Heiligenleben, Frankfurt am Main, S. 35–78.
29 Hausväter.
30 Junggeselle, Student.
31 dürfen.
32 sei es.
33 in.
34 in allen Teilen der Stadt.
35 umso weniger.
36 Schenke.
37 gemäß ihrem Tun; siehe Grözinger, Karl E. (1992): Jüdische Literatur zwischen Polen und Deutschland, in: Die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den jüdischen Gemeinden in Polen und Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Wiesbaden, S. 56.
38 Siehe Litt, Stefan (Hg.) (2014): Jüdische Gemeindestatuten aus dem aschkenasischen Kulturraum 1650–1850, Göttingen; Wolf, Gerson (1880): Die alten Statuten der jüdischen Gemeinden in Mähren samt den nachfolgenden Synodalbeschlüssen, Wien.
39 Dazu siehe, Grözinger, Karl E. (2020): Synagogenordnungen als Zeichen und Instrumente für eine Neudefinition jüdischer Identität im Mähren des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Aschkenas, 30/1, S. 61–77.
40 Siehe ders. (2020): Das spirituelle Profil.
41 Hierzu vgl. Grözinger, Karl E. (2020): Die mittelalterliche rheinisch-nordfranzösisch-jüdische Theologie zwischen Philosophie und Tradition, in: V. Gallé: »Über den Gebrauch der Vernunft«. Theologie, Philosophie und Kunst im Zentrum Europas um 1000, Worms, S. 75– 88.
42 Zu ihm siehe Liss, Hanna (2020): Jüdische Bibelauslegung, Tübingen 2020, S. 74–98.



Der Autor

KARL E. GRÖZINGER

Prof. Dr., Jhg. 1942, ist Judaist, Semitist und Religionswissenschaftler. Nach dem Studium der evangelischen Theologie an den Universitäten Tübingen, Berlin und Heidelberg – wobei er ein einjähriges Studium der Bibelwissenschaften, Biblischen Archäologie und Judaistik an der Hebräischen Universität Jerusalem absolvierte – war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Heidelberger Qumran-Forschungsstelle. 1975 Promotion in Frankfurt/M, Habilitation Habilitation („Musik und Gesang in der Theologie der frühen jüdischen Literatur, Talmud, Midrasch, Mystik“). 1996 begründete er an der Universität Potsdam die Vereinigung für Jüdische Studien e. V., deren 1. Vorsitzender er bis 2001 war. Mitbegründer des Studiengangs Jüdische Studien in Potsdam, Direktor des daraus hervorgegangenen Kollegiums und Instituts für Jüdische Studien/School of Jewish Studies und Begründer des für Brandenburg verbindlichen Studiengangs LER (Lebensgestaltung, Ethik Religionskunde). Im Jahre 2007 wurde er emeritiert. Grözinger publizierte zu allen wichtigen Entwicklungsstufen der jüdischen Religionsgeschichte und veröffentlicht 2019 den fünften und letzten Band seiner Geistesgeschichte des Judentums: Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie, Mystik.  


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