Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 308

Januar 2021 / Editorial

Seit 25 Jahre wird der 27. Januar in der Bundesrepublik Deutschland als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ begangen. Es war 1996, als der damalige Bundespräsident Roman Herzog diesen Tag zum nationalen Gedenktag proklamierte. Die Wahl des Datums ist keineswegs willkürlich, verweist es doch auf die  Befreiung der Überlebenden des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945. Am 1. November 2005 erklärte zudem die Vollversammlung der Vereinten Nationen den 27. Januar zum „International Day of Commemoration in Memory of the Victims of the Holocaust“. Seit 2006 wird an diesem Tage mit Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen, Konferenzen und Gebeten weltweit an die Opfer der nationalsozialistischen Judenvernichtung erinnert.

Für die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus nehmen die ehemaligen KZ- und Vernichtungslager eine zentrale Rolle ein. Überwiegend fungieren sie heute als Gedenktstätten, an denen auf wissenschaftlicher Grundlage und mit Hilfe teils umfangreicher pädagogischer Programme die ehemaligen Orte des Grauens als authentisches Zeugnis dienen und so zum Baustein für eine Architektur des Erinnerns werden sollen. Dass den Gedenkstätten diese Rolle zufällt, war nicht immer so, ist mitunter politsche umstritten und sieht sich im Wandel der Zeiten immer wieder neuen Herausforderungen gegenüber.

Dies wird im nachfolgenden Beitrag deutlich, in dem der Münsteraner Historiker Timm C. Richter die Entwicklung der NS-Gedenkstätten darstellt und ihre Perspektiven beleuchtet. Er berichtet vom "pietätlosen Umgang mit Orten von NS-Verbrechen" in der unmittelbaren Nachkriegszeit, von einer Haltung in den 60-er Jahren "zwischen Pathos und Kitsch", skizziert dann den Paradigmenwechsel, der in den 80er Jahren einsetze und reflektiert schließlich die aktuelle "Gefahr der Musealisierung und Normalisierung" der Gedenkstätten.

Richters Beitrag "Tatort – Gedenkort – Lernort. Die Entwicklung der NS-Gedenkstätten und ihre Perspektiven" ist dem Anfang diesen Jahres erschienenen "Themenheft" des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit entnommen, das thematisch der Frage nach der Bedeutung visueller Medien für die Erinnerungs- und Gedenkkultur gewidmet ist: "... zu eurem Gedächtnis: Visual history". Nähere Informationen zu dem empfehlenswerten Heft sind weiter unten zu finden.


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Online-Extra Nr. 308


Tatort – Gedenkort – Lernort


Die Entwicklung der NS-Gedenkstätten und ihre Perspektiven


TIMM C. RICHTER


Im November 1944 stehen alliierte Truppen an den Grenzen des Deutschen Reiches, wo an unzähligen Orten Menschen gequält und ermordet werden … und bei Lublin entsteht die erste NS-Gedenkstätte: das Staatliche Museum Majdanek. Auch andernorts entstanden unmittelbar nach der Befreiung zumeist auf Initiative der Opfer und mit Unterstützung der Alliierten erste provisorische Gedenkstätten, wie z.B. in der Senne, wo Anfang Mai ein Obelisk mit roten Sternen und einer roten Fahne zur Erinnerung an die Opfer des mörderischen Kriegsgefangenenlagers Stalag 326 aufgestellt wurde, oder in Flossenbürg, wo eine „Sühnekapelle“ und eine „Aschenpyramide“ an die Ermordeten des dortigen KZ erinnerte.

Bei all diesen frühen Gedenkstätten ging es darum, Orte zur gemeinsamen Trauerbewältigung für die Überlebenden zu schaffen. Heute existieren auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ca. 300 NS-Gedenkstätten, die – wegen der Vielschichtigkeit des Begriffs – von großen Gedenkstätten mit jährlich über einer Million Besucher*innen (etwa in Dachau) bis zum Gedenkstein reichen. Die Arbeit der Gedenkstätten hat in den letzten Jahren eine Aufwertung erfahren, doch der Weg dorthin war nicht stringent und oft steinig.


Pietätloser Umgang mit Orten von NS-Verbrechen

Der Umgang mit Orten von NS-Verbrechen in der BRD war zunächst höchst pietätlos. So wurden auf dem Gelände des KZ Dachau Vertriebene unterbracht, das Gelände des Lagers Esterwegen von der Bundeswehr genutzt, auf dem des KZ Neuengamme ein Gefängnis errichtet, die Gelände der KZ Flossenbürg und Wewelsburg überbaut, und in der Senne noch 1970 eine Landespolizeischule errichtet – die Rote Fahne war längst entfernt.

Anders in der DDR, wo bereits früh an ehemaligen Tatorten Gedenkstätten entstanden, allerdings instrumentalisiert für den eigenen Geschichtsmythos: Kommunist* - innen wurden heroisiert, andere Opfergruppen marginalisiert. In der BRD waren es zunächst die christlichen Kirchen, die an verschiedenen Orten, etwa in Dachau oder Esterwegen, Kapellen errichteten – in der mittelalterlichen Tradition der „Beinhäuser“ und „Schlachtkapellen“. Die christliche Sakralkultur mit ihrer Ikonographie schloss alle „gottlosen“ Opfer zunächst aus, wenn auch vordergründig nicht intendiert. Mehr noch: Die christliche Botschaft bot der Gesellschaft von Täter*innen und Mitläufer*innen die Möglichkeit, sich selbst zu vergeben.



...ZU EUREM GEDÄCHTNIS: VISUAL HISTORY

Das "Themenheft 2021" des Deutschen Koordinierungsrates ist wie stets dem aktuellen Jahresthema der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gewidmet, das in diesem Jahr lautet: "... zu eurem Gedächtnis: Visual history".

Das in neuem Layout vorliegende Themenheft enthält viele lesenswerte und reich bebilderte Beiträge, die sich mit den verschiedenen Aspekten des Jahresthemas auseinandersetzen, bei dem es vor allem um die Bedeutung visueller Medien für die Erinnerungs- und Gedenkkultur geht. Außerdem enthält das Themenheft wie üblich Informationen über den Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille 2021.

Dem Thema entsprechend hat auch die Bildebene des Themenheftes eine größere Bedeutung als bisher. U.a. hat Tabea Günzler, Studentin an der Hochschule der Medien in Stuttgart, wo 2021 die „Woche der Brüderlichkeit“ eröffnet wird, mit ihrer Kamera ihren Blick auf Erinnerungsorte in Stuttgart festgehalten.

Das 72 Seiten umfassende Themenheft kann für Euro 5,- im Shop auf der Homepage des DKR erworben werden:

* Themenheft 2021 Inhalt + Editorial (pdf)
* Themenheft 2021 bestellen (Link zum DKR-Shop)



1960er-Jahre: Zwischen Pathos und Kitsch

In den 1960er-Jahren entstanden erste größere KZ-Gedenkstätten: Bergen-Belsen, Dachau, Flossenbürg, Neuengamme; allerdings zu einer Zeit, der die „Bewältigung der NS-Bewältigung“ (Norbert Frei) noch im Vordergrund stand. Unter dem berüchtigten Motto „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ machte man der Gesellschaft der Täter*innen und Mitläufer*innen das Angebot, sich aufgrund eigener Kriegserfahrungen in die Gruppe der Opfer einzureihen. Der Kontext des Ortes blieb somit auf der Strecke. Die Menschen, die an diesen Orten gelitten hatten, traten in den Hintergrund, ja einigen wurde sogar abgesprochen, Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein: Sinti und Roma, sog. Behinderten, Homosexuellen, Deserteuren und sog. Asozialen. In diesem gesellschaftlichen Klima entwickelte sich ein ritualisiertes Gedenken zwischen „Pathos und Kitsch“ (Ruth Klüger); das Wort „Kranzabwurfstelle“ machte die Runde. Kritik kam zunächst nur von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und den Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Somit blieb die am 1. September 1962 erfolgte Eröffnung der Gedenkhalle Schloss Oberhausen weitgehend unbemerkt. Sie sollte gut 20 Jahre die einzige Gedenkstätte bleiben, die sich historische Aufklärung zum Ziel gesetzt hatte.


1980er-Jahre: Paradigmenwechsel

In den 1980er-Jahren lässt sich dann ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel beobachten. Vor allem gesellschaftliche Außenseiter* innen, diffamiert als „Barfußhistoriker* innen“ oder „Nestbeschmutzer*innen“, sowie Geschichtswerkstätten begannen, die NS-Geschichte ihrer Heimatorte zu erforschen – getreu dem Motto: „Grabe, wo du stehst“ (Sven Linquist). In bewusster Abgrenzung zur „geistig-moralischen Wende“ und einer national-konservativen Gedenkkultur unter Helmut Kohl, befasste man sich mit unbequemen Themen, vergessenen Tatorten und verdrängten Opfern. So entstand eine dezentrale Gedenkstättenlandschaft, in der die Opfer wieder in das Zentrum der Erinnerungskultur rückten. Bestärkt durch die TV-Serie „Holocaust“, Claude Lanzmanns Dokumentation „Shoah“ und NSG-Verfahren wie dem Majdanek-Prozess, begann die „Ära der Zeugen“ (Habbo Knoch). Das verstärkte Interessen an und die Arbeit mit Zeitzeug*innen, in Form von Interviews oder Gesprächen, hatte zur Folge, dass der Gedenkstättenbegriff erweitert wurde. Nun wurden auch Orte des jüdischen Lebens Gedenkstätten: 1980 die Alte Synagoge in Essen, 1991 die Villa Merländer in Krefeld. Aber auch die Täter*innen wurden nun Gegenstand von Gedenkstättenarbeit, wie etwa seit 1987 in der „Topographie des Terrors“ auf dem Gelände des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin oder seit 1999 die Ordnungspolizei im Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster. Die neu entstandenen Gedenkstätten waren Orte nicht nur des klassischen Gedenkens, sondern auch der Wissenschaft, der Dokumentation und der Pädagogik. Authentisch an Ort und Stelle luden sie zum Forschen, Gedenken, Erinnern und Lernen ein. Die Gedenkstätten wurden an der partizipatorischen und didaktischen Schnittstelle zwischen Zivil - gesellschaft, Schulen, Universitäten und Erinnerungskultur zu interaktiven Lernorten. Im Zuge dieses neuen Schwerpunktes zog in die Geschichtsvermittlung, sei es museal durch Ausstellungen oder in der pädagogischen Arbeit, ein neues Stilmittel ein: die Visualisierung von Geschichte. Allerdings wurde vielfach, wohl in bewusster Abgrenzung zur Zeit des Verdrängens und Verschweigens, auf eine mit suggestiven Schreckensbildern gespickte „Überwältigungspädagogik“ gesetzt, die besonders bei Schulklassen eher zur Traumatisierung als zur Emotionalisierung geeignet war. Dabei hatten sich zumindest die staatlichen Bildungsträger bereits 1976 mit dem „Beutelsbacher Konsens“ ein „Überwältigungsverbot“ auferlegt.


Gefahr der Musealisierung und Normalisierung

Seit dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert gelten die interaktiven Lernorte als etabliert, was allerdings nicht dazu verleiten darf, die „Mission“ als erfüllt anzusehen. Noch immer wird nicht aller Opfer des Nationalsozialismus adäquat gedacht. Sinti und Roma sowie Homosexuelle haben zwar mittlerweile jeweils einen zentralen Gedenkort in Berlin, allerdings sind diese „prominent“, nicht „historisch“. Zudem steht der Gedenkstättenlandschaft mit dem Verstummen der Zeitzeugen*innen ein epochaler Einschnitt bevor, Dadurch wird sich nicht nur die Form des Gedenkens und der pädagogischen Arbeit ändern, sondern die Gedenkstätten verlieren mit den letzten Überlebenden auch ihre „Aura der Authentizität“ und stehen in der Gefahr, zu „musealen Reliquiensammlungen“ (Detlef Garbe) zu werden. Mehr noch: in der Gefahr, dass mit einer Musealisierung auch eine „Normalisierung“ der NS-Verbrechen einhergehen könnte.

Hier bietet „Visual History“ die Chance, die verstummten Zeugen weiter sprechen zu lassen, was vom Video bis zum Hologramm reichen kann. Der besonders wichtige, weil individuelle Zugang der Empathie erfolgt weiterhin durch Egodokumente (Briefe, Tagebücher) und persönliche Gegenstände aus dem Besitz dieser Menschen, die veränderten Seh- und Konsumgewohnheiten macht es aber erforderlich, auch neue Wege zu gehen, technisch wie methodisch. Allerdings darf dies nur Mittel zum Zweck sein und nicht die eigentliche Erzählung überdecken. Bei zeitgenössischem Filmund Bildmaterial ist zudem zu beachten, dass wir hier die Geschichte meist durch die Augen der Täter*innen und Mitläufer* innen sehen; die Szenen nicht selten inszeniert sind und rassistische Stereotype transportieren. Vor allem aber ist die Versuchung groß, nun durch Inszenierungen und „erlebnisfördernde“ Technologien in eine „Überwältigungspädagogik“ zurückzufallen. Glücklicherweise sind NS-Gedenkstätten hier aber sehr zurückhaltend. So hat das Jüdische Museum Dorsten bei seiner neuen Dauerausstellung ganz bewusst auf Schockbilder verzichtet.



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Wie sieht nun die Zukunft der NS-Gedenkstätten aus? Nun, sie werden auch weiterhin einen humanitären Auftrag haben. Zwar werden in absehbarer Zeit Überlebende diese Orte nicht mehr aufsuchen können, aber es gibt Nachfahren und Angehörige der Opfergruppen, denen eine Raum für Trauer und Gedenken geboten werden muss. Zudem tragen Gedenkstätten durch ihre Dokumentation weiter zu Klärung von Schicksalen und Anerkennung der Opfer bei.

Die Gedenkstätten werden sich auch der „Visual History“ bedienen, allerdings nur dosiert und unter strengsten quellenkritischen Maßgaben. Sie leisten ihren Beitrag dazu, dass die NS-Vernichtungspolitik im Allgemeinen und die Shoa im Besonderen präzedenzlos in der deutschen Erinnerungskultur bleibt.

Gedenkstätten werden aber vermehrt „Raum für die Auseinandersetzung mit geschichtlichen und aktuellen Themen zwischen Erinnerungskultur und Demokratieförderung am historischen Ort“ (Leitbild Villa ten Hompel) sein, was allerdings nicht mit einer allgemeine Menschenrechts - pädagogik oder „Demokratieerziehung“ zu verwechseln ist. Bereits die „Internationale Gedenkstätten-Charta“ von 2012 hat festgestellt, dass eine „gemeinsame Erinnerungskultur [...] nicht per Dekret erzwungen werden“ kann und darf. Zum einen, weil eine anthropologische Deutung der Geschichte immer auch die Gefahr birgt, die Shoah – wenn auch unbewusst – zu relativieren. Zum anderen hat jeder Gedenkort seine eigene Geschichte, die eigens erzählt werden muss. Über diese und die Geschichte der Menschen, die dort verfolgt, gequält und ermordet wurden, erhalten Besucher*innen einen Zugang zur NSGeschichte. Sie sollen dabei angeregt – nicht gezwungen! – werden, sich mit den gewonnenen Eindrücken auseinanderzusetzen und der Frage zu stellen: „Was hat dies mit mir zu tun?“. Mit solcher Reflexion sollen nicht nur Empathie für die Verfolgten geweckt, sondern auch Handlungsspielräume veranschaulicht und schließlich Werte vermittelt werden.

Die Zukunft der NS-Gedenkstätten wird angesichts dieser neuen Herausforderungen nicht ohne Friktionen bleiben, aber solange Rechtsextremist*innen wie Björn „Bernd“ Höcke eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern, sind die deutschen Gedenkstätten auf einem guten Weg.




Der Autor

TIMM C. RICHTER

 ... geb. 1970, freiberuflicher Historiker, u.a. am Geschichtsort „Villa ten Hompel“ (Stadt Münster).

Veröffentlichungen u.a.: Gedenken und Sammeln. Ein Leitfaden zur Dokumentation in Gedenkstätten, hrsg. v. Förderverein Villa ten Hompel e.V.; Soldaten im Moor. Militärgerichtlich Verurteilte in den Emslandlagern 1939-1945, Die Emslandlager 1933-1945, hrsg. v. Bernd Faulenbach u. Andrea Kaltofen. S.20

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