ONLINE-EXTRA Nr. 341
© 2023 Copyright bei der Autorin * Die genaue Quellenangabe lautet:
Am heutigen 9. November jährt sich das Gedenken an die Reichspogromnacht im Jahre 1938 zum 85. Mal. Noch vor wenigen Wochen hätte wohl niemand vorausgesehen, dass dieser Gedenktag 2023 in einem Umfeld begangen wird, in dem Brandsätze auf Synagogen fliegen, die Wohnhäuser von Juden mit dem Davidstern markiert werden, auf deutschen Straßen beinahe täglich antsemitisches Gejohle zu hören ist und jüdische Eltern Angst haben, ihre Kinder in die Schulen zu schicken. Nach dem Massaker am 7. Oktober an jüdischen Zivilsten in Israel war statt breitflächiger Anteilnahme, „Kälte und Empathielosigkeit“ (Meron Mendel) zu beobachten. Und mit dem Beginn des militärischen Kampfs der Israelis gegen die Hamas im Gaza-Streifen begann eine weltweite Welle antiisraelischer und antisemitischer Demonstrationen und Übergriffe - auch in jenem Land, dem unsrigen, das den Holocaust historisch zu verantworten hat.
Vor diesem Hintergrund ist in den letzten Wochen einmal mehr eine Debatte um die vielfältigen Ursachen und Wege der Bekämpfung der mannigfaligen Formen des Antisemitismus entbrannt. Einer der Aspekte, der dabei besonders in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte, waren die Schulen. Und dies in zweifacher Hinsicht. Zum ersten - natürlich - geht es um die Bedeutung von demokratischer Bildung und Erziehung zur Zivilcourage, es geht um Wissen und Erkennen von historischen Zusammenhängen, um die Grundlagen politischer und historischer Bildung als elementarer Voraussetzung für eine Immunisierung wie auch Mobilisierung gegen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit. Und zurecht wird in diesem Kontext auf die mangelnde Austattung der Schulen mit entsprechendem Material und Personal wie auch die unzureichende Ausbildung der Lehrer, wenn es etwa um den Nahost-Konflikt geht hingewiesen. Zum zweiten aber gibt es noch einen weiteren Aspekt, wenn es um Antisemitismus und Schulen geht - und das ist die Perspektive der Betroffenen, der jüdischen Schüler/innen und Lehrer/innen, die zur Zielscheibe antisemitischer Vorurteile und Feindseligkeiten werden.
Dieser letztgenannten Problematik widmet sich der nachfolgende Beitrag der Sozilogin Julia Bernstein, Professin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Science. In ihrem Artikel, der erstmals in dem jüngst erschienen Band "Entgrenzungen: Beiträge zum 28. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft"* publiziert wurde, fasst Bernstein wesentliche Befunde einer soziologisch-qualitativen Studie über Antisemitismus an Schulen in Deutschland zusammen. Im Vordergrund stehen dabei die Erfahrungen von Jüdinnen und Juden in der Konfrontation mit dem Antisemitismus, wofür Bernstein zahlreiche Beispiele gibt. Insbesondere der Schuldabwehr- und israelbezogene Antisemitismus erscheinen in diesem Zusammenhang als Problem, das nicht nur von Schülerinnen und Schülern, sondern mitunter auch von Lehrkräften ausgeht. In der Folge entsteht für Betroffene eine Situation, die im Wesentlichen von der Empfindung geprägt ist, allein gelassen zu werden. Am Ende ihres Beitrages geht Bernstein schließlich noch auf die Herausforderungen ein, die dieser Befund für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus zur Folge hat.
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Alisha M. B. Heinemann, Yasemin Karakasoglu, Tobias Linnemann, Nadine Rose, Tanja Sturm (Hg.): Entgrenzungen: Beiträge zum 28. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Verlag Barbara Budrich, Leverkusen/Berlin 2023, 400 S., Euro 89,90
Online-Extra Nr. 341
Einleitung
Antisemitismus ist als Themenfeld an Schulen von doppelter Bedeutung. Zum einen ist die Schule als Bildungs- und Sozialisationsinstanz auf das Thema Antisemitismus verwiesen. Er soll, in historischer oder gegenwärtiger Form, zum unterrichtlichen oder pädagogischen Gegenstand werden, über den Kinder oder Jugendliche etwas lernen, um sich selbst den Leitwerten der demokratischen Gesellschaft gemäß gegen Antisemitismus wenden zu können (dazu etwa Grimm/Müller 2020). Zum anderen ist die Schule ein gesellschaftlicher Teilbereich, in dem Antisemitismus selbst als Problem hervortritt. In diesem Zusammenhang rückt der Fokus auf die Verbreitung und Verankerung des Antisemitismus in Einstellungsmustern und Handlungen von Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern, und darauf, wie diese auf die Bildungsprozesse wirken. Ausgehend von einer Studie über Antisemitismus an Schulen (Bernstein 2020a) wurde dieses Verhältnis zwischen Problem und darauf bezogenem Umgang in den letzten Jahren weitergehend empirisch untersucht (Chernivsky/Lorenz 2020; Wolf 2021; Rüb 2023).
Um sowohl das Problem Antisemitismus an Schulen als auch darauf bezogene Umgangsweisen von Lehrkräften zu rekonstruieren, werden im Folgenden die Befunde der Ausgangsstudie dargestellt (Bernstein 2020a). Im Rahmen dieser qualitativen Untersuchung sind insgesamt 251 narrative bzw. problemzentrierte Interviews mit jüdischen Schülerinnen und Schülern und ihren Angehörigen, jüdischen und nichtjüdischen Lehrkräften und Sozialarbeitenden sowie Expertinnen und Experten geführt und rekonstruktiv-interpretativ ausgewertet worden, um sowohl die Erfahrungen und Perspektiven Betroffener als auch die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster von nichtjüdischen Lehrkräften zu rekonstruieren und vergleichen zu können (Bernstein 2020a, S. 24ff.). Damit werden die Perspektiven von Jüdinnen und Juden auf Antisemitismus in den Vordergrund gestellt, die lange ausgeblendet blieben und zunehmend erst in den vergangenen Jahren empirisch untersucht werden (siehe etwa Zick et al. 2017a; Rias Hessen 2023). Auf der Grundlage einer kurzen Definition des Antisemitismus wird basierend auf den Interviews dargelegt, wie jüdische Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte mit Antisemitismus konfrontiert werden (1). Daran anschließend werden die Situationen der Betroffenen und Folgen von Antisemitismuserfahrungen skizziert (2), um schließlich aufzuzeigen, welche etablierten Umgangsweisen mit Antisemitismus dazu beitragen, das Problem zu verstetigen (3). Abschließend werden die Kernbefunde zusammengefasst und auf die Bedingungen einer Bildung gegen Antisemitismus zurückbezogen (4).
1 Jüdische Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte zwischen Feindschaft und Diskriminierung
Dem Politikwissenschaftler Lars Rensmann (2018) zufolge kann Antisemitismus in eine generalisierbare und eine spezifische Dimension differenziert werden. Die generalisierbare Dimension des Antisemitismus hebt auf das Verhältnis der ethnisch, kulturell oder religiös definierten Mehrheitsformation zur jüdischen Minderheit ab, wobei sie charakteristische Prozesse der Abgrenzung zu und Abwertung von Minderheiten aus der Mehrheitsformation heraus konturiert. Damit gerät eine auf die Minderheitenposition bezogene Diskriminierungspraxis in den Blick, die gegen Juden und Judentum, aber auch gegen andere sich von der Mehrheitsformation unterscheidende oder abgewertete Minderheitengruppen wie zum Beispiel Muslime gerichtet ist.
Die spezifische Dimension des Antisemitismus wird von der ideologischen Struktur eines Weltbildes und einem Gefühl strukturiert, sodass Jüdinnen und Juden mit Übeln und dem Bösen identifiziert und nicht nur von der Gemeinschaftsformation unterschieden, sondern ihr als Feinde gegenübergestellt werden (Rensmann 2018, S. 94ff.).
In der Schule werden beide Dimensionen des Antisemitismus in den Einstellungen und Handlungen von Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften gegenüber Jüdinnen und Juden wirksam.
Jüdische Schülerinnen und Schüler werden mitunter als Fremde wahrgenommen und entlang der Zuschreibung negativer Merkmale oder Eigenschaften von der Mehrheitsformation unterschieden und ausgeschlossen. Eine solche Wahrnehmung als Fremde kann etwa auf eine Migrationsgeschichte der jüdischen Schülerinnen und Schüler oder ihrer Eltern bezogen sein. Sie führt mitunter dazu, beliebig Unterschiede zu markieren und einen kulturellen Überlegenheitsanspruch anzumelden. Im Rahmen des oben genannten Forschungsprojekts schildert eine jüdische Schülerin etwa, wie sie von einer Lehrerin auf dem Flur wegen der Lautstärke ihres Sprechens gemaßregelt wurde, sie solle sich „europäischer“ verhalten, obwohl die am Gespräch beteiligte nicht-jüdische Freundin in gleicher Lautstärke gesprochen habe (Bernstein 2020a, S. 126).
Eine auf Fremdheit und die Minderheitenposition bezogene Abwertung erfahren jüdische Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrkräfte vorwiegend im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Bewertung religiöser Praxis oder Identität (Bernstein 2020a, S. 67f.). Mittels Stereotypen werden sie auf religiös begründete Differenz festgelegt, die wahlweise mit der Erwartung verbunden wird, sich in bestimmter Weise zu unterscheiden oder sich anzupassen. Instruktiv kommen diese gegenläufigen Erwartungen an zwei Beispielen zum Ausdruck: Ein Lehrer wies einen Schüler vor der gesamten Klasse als Juden aus und fragte, warum er denn keine Kippa trage (Bernstein 2020a, S. 98). Eine Lehrerin untersagte es einem jüdischen Schüler, abgesehen vom Segensspruch zum Frühstück, eine Kippa zu tragen. Sie begründete dies mit dem vor dem Hintergrund eines Bedrohungsszenarios durch „fremde Religionen“ formulierten Dammbruchargument, sonst würden „die muslimischen Kinder fünf Mal am Tag mit ihren Teppichen“ kommen (Bernstein 2020a, S. 94).
Auch eine jüdische Lehrkraft schildert im Interview die Konfrontation mit einem solchen Dammbruchargument im Rahmen ihres Referendariats. Als sie in Rücksprache mit der Schulleitung an einem jüdischen Feiertag nicht zur Arbeit erschien, wurde sie stellvertretend für weitere Minderheitenangehörige von einem Ausbilder in die Position gebracht, sich für ihr Begehen des Feiertags rechtfertigen zu müssen. Er tat dies mit der Frage, warum man denn überhaupt Feiertage begehe, und dem Hinweis auf mögliche Auswirkung auf Mehrheitsangehörige (Bernstein 2020a, S. 180). Im Zusammenhang mit Ruhe- und Feiertagen ist nicht nur Argwohn wegen einer unterstellten Privilegierung festzustellen. Insofern jüdische Schülerinnen und Schüler oder Lehrkräfte keine Möglichkeiten haben, ohne Nachteile Ruhe- oder Feiertage einzuhalten, während gleichzeitig Ostern und Weihnachten nicht im Geringsten in Frage gestellt werden, erhält die Benachteiligung einen institutionellen Charakter (dazu Bernstein/Beck 2022).
Die normative Erwartung sich anzupassen geht mitunter auch mit einer expliziten Abwertung jüdischer Religiosität einher, die als schwierig mit der religionsneutralen Institution Schule zu vereinbaren, rückständig oder fanatisch abgewertet wird und eine Grenze der Toleranz markiert (dazu Zick et al. 2017a, S. 56). Eine solche Grenze wurde gegenüber einer jüdischen Lehrerin gezogen, als sie wegen ihrer religiösen Lebensgestaltung von ihren vormaligen Freundinnen im Kollegium eine Ablehnung erfuhr, wie sie in einem Interview ausführte. Nachdem sie religiös geworden war und ein Kopftuch trug, sich an jüdische Speisegesetze und Ruhe- und Feiertage hielt, störte sich ihr Umfeld an dem, was ihr als Rigidität und Ein- bzw. Selbstausgrenzung vorgeworfen wurde. Jeder habe sich über etwas anderes aufgeregt, erklärte die Lehrerin. Im Fokus der Vorwürfe stand das Befolgen der jüdischen Speisegesetze und Ruhe- und Feiertage, wodurch sie ihre beiden Töchter, Schülerinnen an besagter Schule, willkürlich eingrenze. Eine tatsächliche Ausgrenzung erfuhren die Töchter dann aus dem Kreis der Kolleginnen, als eine von ihnen nicht mehr zu Konzertproben eingeladen wurde und die andere nicht an einer Theateraufführung teilnehmen konnte, weil sie zuerst auf einen Schabbat, nach einem Hinweis darauf dann willkürlich in die Zeit des Pessachfests gelegt wurde (Bernstein 2020a, S. 179f.). Judenfeindschaft als mentales Konzept oder Gefühl schlägt jüdischen Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften wesentlich dadurch entgegen, dass ihnen gegenüber Feindbilder oder Legenden formuliert werden, die Auskunft über oder Einblick in das Wirken oder Wesen von Juden geben sollen (zur emotionalen Dimension der Judenfeindschaft Schwarz-Friesel/Reinharz 2013, S. 264ff.). Diese Feindbilder sind als Versatzstücke eines antisemitischen Weltbilds zu verstehen, das in seiner manichäischen Logik durch die Identifizierung von Jüdinnen und Juden mit allem Übel und dem Bösen auch dann zur Geltung gebracht wird, wenn sie lediglich als dessen „Fragment“ (Scherr/ Schäuble 2006, S. 13) referiert werden (zur ideologischen Struktur des antisemitischen Weltbilds Sartre 1945/1979; Postone 1991; Adorno/Horkheimer 1947/2008, S. 177ff.). Die Identifizierung von Jüdinnen und Juden mit allem Übel und dem Bösen in der Position von Macht und Überlegenheit vollzieht sich spiegelbildlich zur Vergemeinschaftung in einer Kollektivformation, die als beherrscht und unterlegen zugleich imaginiert wird. Das bedeutet, das Verhältnis dieser Kollektivformation zu Jüdinnen und Juden als Antagonistinnen bzw. Antagonisten wird manichäisch bestimmt. D. h., es wird entlang der Pole von imaginierter Übermacht und Unterlegenheit bzw. Aggression und existenzieller Bedrohung in eine Konstellation gesetzt und in das Szenario des Kampfes von Gut gegen Böse überführt. Deshalb wohnt dem Antisemitismus eine Vernichtungsdimension inne, erscheint doch die Vernichtung von Jüdinnen und Juden als Sieg über das Böse oder Erlösung von allem Übel.
Bücher von Julia Bernstein:
Auch Schülerinnen und Schüler formulieren heutzutage Vernichtungsfantasien, die auf dieser Idee basieren. So konstatierte eine Schülerin, sie sei gegenüber jedem tolerant, „nur nicht zu Juden, die gehörten vergast“ (Bernstein 2020a, S. 139). Auch Lehrkräfte berichten davon, Schülerinnen bzw. Schüler hätten über sie gesagt, man habe vergessen, sie zu vergasen (Bernstein 2020a, S. 351).
Jüdische Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte werden mit Feindbildern konfrontiert, die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus entstammen. Diese Erscheinungsformen des Antisemitismus sind Begründungsnarrative der Feindschaft und ihr zugrundeliegende Identitätsdimensionen (Religion, Nation, „Rasse“, Kultur, politische Orientierung), wie sie sich in historischer Folge vom Antijudaismus über den modernen Antisemitismus in seiner rassistischen Variante bis zum gegenwärtig dominierenden Schuldabwehr- und israelbezogenen Antisemitismus entwickelt haben (empirische Befunde zum dominierenden Schuldabwehr- und israelbezogenen Antisemitismus: Zick et al. 2017b, S. 23ff.). Kennzeichnend für diese Entwicklung ist die Modernisierung des Begründungsnarrativs – von der Religion über Biologismus bis hin zu politischen Idealen – in Passung zum Wandel gesellschaftlicher Autoritäten – Religion und Kirche, Pseudowissenschaft, politische Werteorientierung – bei gleichbleibender ideologischer Struktur (Sacks 2016). In der Schule lassen sich aus den Erzählungen jüdischer Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte über ihre Erfahrungen vermeintlich unzeitgemäß-überholte, politisch und moralisch geächtete und die zeitgemäß dominierenden Erscheinungsformen des Antisemitismus rekonstruieren. Antijudaistische Feindbilder deuten sich etwa in der Frage eines Lehrers an eine jüdische Schülerin an, was Juden am Christentum immer noch nicht akzeptieren könnten (Bernstein 2020a, S. 128), oder in der Frage eines Schülers an seine jüdische Mitschülerin, ob er mal ihre Hörner ertasten dürfe (Bernstein 2020a, S. 108). Rassistische Feindbilder gelten nach der Shoah als politisch und moralisch geächtet, kommen jedoch beispielsweise in „Hänseleien“ gegenüber einer jüdischen Schülerin vorgeblich wegen ihrer „jüdischen Nase“ (Bernstein 2020a, S. 111) ebenso zum Ausdruck wie in der im Beisein einer jüdischen Schülerin formulierten Rückfrage einer Lehrerin, ob sie denn jüdisch aussehe, nachdem sie gefragt worden war, ob sie jüdisch sei (Bernstein 2020a, S. 123). Modern-antisemitische Feindbilder verdichten sich im besonderen Maße in Verschwörungsmythen, mit denen Jüdinnen und Juden oder stellvertretend Israel als allmächtig, einflussreich oder manipulativ imaginiert werden (Bernstein 2020a, S. 161ff.). Im besonderen Maße identifizieren Schülerinnen und Schüler Jüdinnen und Juden mit Geld, der Wirtschaft oder der Weltherrschaft. Exemplarisch dafür stehen die folgenden drei Szenen, die jüdische Schülerinnen und Schüler aus der erwähnten Studie berichtet haben. Ein jüdischer Schüler wurde als „Wucherjude“ beleidigt, als sein Mitschüler seine Schulden bei ihm begleichen sollte (Bernstein 2020a, S. 109). Einem anderen jüdischen Schüler wurden seine positiven Einlassungen zum Kapitalismus im Unterricht von seinen Mitschülern als „typisch jüdisch“ ausgelegt (Bernstein 2020a, S. 48). Einem weiteren jüdischen Schüler wurde die rhetorische Frage gestellt, ob er denn wisse, dass „ihr Juden die Welt regiert“ (Bernstein 2020a, S. 111).
Vor allem im weitverbreiteten Schimpfwortgebrauch von „du Jude“ werden antisemitische Feindbilder transportiert. So zu sein wie ein „Jude“ soll Nichtjüdinnen und Nichtjuden beleidigen, da Jüdisch-Sein in den Feindbildern als geizig, gierig, illoyal, listig, kurzum verachtungswürdig markiert wird (Bernstein 2020a, S. 22, 104ff.).
Besonders virulent zeigen sich Erscheinungsformen des Schuldabwehr- und israelbezogenen Antisemitismus in der Schülerinnen- und Schülerschaft, aber auch unter Lehrkräften. Dem Schuldabwehrantisemitismus zugerechnet werden Schlussstrichforderungen, Relativierungen des Holocaust und die Entlastung von Täterinnen und Tätern sowie Mitläuferinnen und Mitläufern. Jüdinnen und Juden werden in diesem Zusammenhang als Hindernis für eine mittels der Dimensionen Familie und nationales Kollektiv konturierten idealisierten Identität wahrgenommen. Sie erinnern an den Nationalsozialismus und die Judenvernichtung, also an eine Vergangenheit, mit der viele Menschen abschließen wollen, und wecken mitunter Schuld- oder Schamempfindungen, die aggressiv abgewehrt werden (Chernivsky 2017). Die Schuldempfindungen resultieren aus familien- und kollektivbiografischen Verstrickungen mit Nationalsozialismus und Holocaust, die häufig nicht nur nicht durschaut, sondern dergestalt verschwiegen oder erzählerisch verfälscht werden, dass entlastendes (Nicht-)Wissen bzw. Geschichten oder Rollenzuschreibungen kultiviert werden (dazu Rosenthal 1999; Welzer/Moller/Tschugnall 2021).
Diese werden mitunter in der Erwartung, Anerkennung oder gar eine Art Absolution zu erhalten, an Jüdinnen oder Juden herangetragen (Bernstein 2020a, S. 312ff.). Während manche Nachkommen von Täterinnen und Tätern oder Mitläuferinnen und Mitläufern auf diese Weise die tatsächlichen familienbiografischen Verstrickungen unbewusst verdecken und darüber hinaus eine Distanz zum Nationalsozialismus reklamieren, fordern sie mitunter Familienerzählungen von den zu Repräsentantinnen und Repräsentanten der Opfer stilisierten Nachkommen ein. In zwei Fällen haben Lehrkräfte jüdische Schülerinnen dazu im Unterricht und vor der Klasse aufgefordert. In einem Fall ging damit die Aufforderung zu einem Bekenntnis zum in die Jetztzeit übertragenen Opferstatus einher. „Traut Euch, steht auf, wer hier Jude ist!“, forderte eine Lehrkraft, als der Holocaust im Unterricht thematisiert wurde. Die Schülerin beschreibt diese Situation wie folgt: „Ich habe dann nichts gesagt, und ich bin sicher, wenn ich was gesagt hätte, wäre ich das Opfer für die restliche Zeit der Schule geworden“ (Bernstein 2020a, S. 99). Von dem anderen Fall berichtete eine ehemalige jüdische Schülerin, die kurz vor dem Vorfall mit ihrer Familie aus der ehemaligen Sowjetunion einwandert war. Während des Unterrichts zum Holocaust stellte die Lehrkraft die neue Mitschülerin der Klasse als Jüdin vor und sagte: „Stehen Sie doch auf und erzählen Sie, wie es in Ihrer Familie war.“
Der Schuldabwehrantisemitismus zielt auf die De-Thematisierung des und die Distanzierung vom Nationalsozialismus ab. Beide Bestrebungen und damit verbundene Überzeugungen werden zugleich von der Kontinuität der NS-Zeit konterkariert, die auch im Verhalten von Schülerinnen und Schülern zum Ausdruck kommt. Die NS-Zeit wird banalisiert oder glorifiziert, wenn etwa Holocaust-Witze erzählt, der Hitlergruß gemacht oder Hakenkreuze an Tafeln oder Wände geschmiert werden, wobei diese Schmierereien in einigen Schulen leider nicht sofort entfernt und nicht zwangsläufig thematisiert werden. Der Hitlergruß wird nicht selten direkt gegenüber jüdischen Schülerinnen und Schülern gezeigt (Bernstein 2020a, S. 337ff.).
Der Schuldabwehrantisemitismus tritt auch mit den „klassischen“ Topoi und Feindbildern anderer Erscheinungsformen zusammen auf, allen voran mit solchen, die um Machtzuschreibungen, Geldnähe und damit Privilegierung kreisen. So etwa dann, wenn Schülerinnen und Schüler davon ausgehen, Jüdinnen und Juden müssten wegen der Shoah keine Steuern bezahlen, und ihnen damit eine finanzielle Privilegierung unterstellen (Bernstein 2020a, S. 406ff.). Ein wesentlicher Mechanismus des Schuldabwehrantisemitismus ist die Täter-Opfer-Umkehr. Über diesen Mechanismus ist der Schuldabwehr- mit dem israelbezogenen Antisemitismus verbunden, wenn Israel im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und Bewertung des Nahostkonflikts häufig mit Nazi-Deutschland gleichgesetzt wird. Der jüdische Staat wird stellvertretend für Jüdinnen und Juden im Sinnhorizont der Relativierung des Nationalsozialismus als Täterstaat markiert, Jüdinnen und Juden als Nachkommen von Opfern der Shoah also als Täterinnen und Tätern.
In dieser Argumentationslogik folgt aus der Gleichsetzung Israels mit dem nationalsozialistischen Deutschland häufig das Bestreben, einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen. Das Thema müsse auch einmal abgeschlossen werden, meinte eine Lehrkraft zum Umgang mit dem Holocaust, bevor sie davon sprach, dass Jüdinnen und Juden in Israel das „weitertreiben“ würden, was ihnen die Nazis angetan hätten (Bernstein 2020a, S. 221). Die Gleichsetzung des jüdischen Staats mit dem nationalsozialistischen Deutschland zeigte sich auch als Motiv der „Israelkritik“, wenn eine Lehrkraft die Vergasung von Jüdinnen und Juden in Konzentrations- und Vernichtungslagern mit Verteidigungsmaßnahmen der israelischen Armee vergleicht (Bernstein 2020a, S. 222).
Unter Schülerinnen und Schülern bietet diese Gleichsetzung einen Anlass für Anfeindungen jüdischer Schülerinnen und Schüler, wie im Fall einer Schülerin, die im Unterricht von einem Mitschüler angeschrien wurde, die Israelis machten „ja genau dasselbe mit Palästinensern, was die Nazis mit den Juden machten“ (Bernstein 2020a, S. 61).
Solche Gleichsetzungen haben nicht nur einen den Nationalsozialismus und die Shoah relativierenden Charakter, sie wirken auch dämonisierend und delegitimieren die Existenz des jüdischen Staats. Andere Formen der Dämonisierungen und Delegitimierung folgen beispielsweise der Gleichsetzung Israels mit einem Apartheidstaat.
Kennzeichnend für den israelbezogenen Antisemitismus ist, dass anstelle von Jüdinnen und Juden der jüdische Staat mit dem Bösen, allem Übel und als Übermacht identifiziert wird (dazu Salzborn 2013; Bernstein 2021, S. 39ff.). Sprachlich kommt dies in Substitutionen zur Bezeichnung dessen aus, was als Übermacht, Übel oder Böses identifiziert wird, zum Ausdruck. So ist anstelle von Jüdinnen und Juden die Rede von Israel, dem Zionismus oder den Zionisten (Schwarz-Friesel 2022, S. 75).
Auch (historisch in anderen Erscheinungsformen) tradierte antisemitische Feindbilder dienen der Dämonisierung und Delegitimierung. Sie werden schlicht auf Israel übertragen, wie das Motiv der Omnipotenz in Verschwörungsmythen, die Rachsucht oder die mittelalterliche Ritualmordlegende auf die Dämonisierung des heutigen Israel, das als „Kindermörder“ mit Bezug auf palästinensische Kinder dargestellt wird. Letzteres wurde in einer zum Kannibalismus übersteigerten Form an eine jüdische Schülerin herangetragen, mit der Äußerung, Juden seien „scheiße“, sie solle mal nach Israel schauen, da würden Soldaten Kinder essen (Bernstein 2020a, S. 230). Bei einem jüdischen Lehrer meldete sich die Mutter eines Schülers, da dieser beunruhigt über dessen geplanten Israelurlaub sei, schließlich wäre „Israel ein Kindermörder“ (Bernstein 2020a, S. 167).
Der israelbezogene Antisemitismus zeigt sich unter Lehrkräften in der vermeintlich elaborierten Form der „Israelkritik“. Diese wird gemeinhin von Antisemitismus unterschieden und fixiert sich auf den jüdischen Staat, der dabei mit doppelten Standards wahrgenommen und bewertet wird. Das heißt, das, was als tatsächliches oder vermeintliches Handeln des Staates Israel als negativ angesehen wird, scheint bei anderen Staaten nicht problematisch und kein „Kritikgegenstand“ zu sein (Bernstein 2020a, S. 209ff.). Zuweilen wird die „Israelkritik“ vehement als scheinbarer Nachweis eines politischen Engagements eingefordert. Dass es sich dabei um ein einzigartiges Phänomen handelt, bei dem der gesamte Staat zum pauschalen Feind erklärt wird oder als in seinen Grundfesten falsch erscheint – und nicht konkrete Parteien oder Akteure kritisiert werden –, zeigt sich schon in der Wortschöpfung; eine Deutschland-, Ägypten- oder Portugalkritik gibt es nicht (dazu Bernstein 2020b).
Manche Schülerinnen und Schüler oder Lehrkräfte betrachten jüdische Schülerinnen und Schüler als Repräsentantinnen und Repräsentanten Israels, von denen sie erwarten, sich kritisch zum Thema Nahostkonflikt zu äußern oder sich vom tatsächlichen oder vermeintlichen Handeln Israels zu distanzieren (Bernstein 2020a, S. 266). „Was macht ihr da unten?“, lautet eine in diesem Zusammenhang häufig zu vernehmende Frage.
Bei Schülerinnen und Schülern nimmt der israelbezogene Antisemitismus dagegen häufig aggressive Formen an. Sie formulieren nicht nur offen Gewalt- oder Vernichtungsfantasien in Bezug auf Israel oder Israelis (Bernstein 2020a, S. 268), sondern greifen auch jüdische Schülerinnen und Schüler an, da sie vermeintlich Israel repräsentieren (Bernstein 2020a, S. 265ff.). Als Anlass dafür kann es zum Beispiel ausreichen, die israelische Flagge aufzuhängen, wie bei einem jüdischen Schüler in einem Internat (Bernstein 2020a, S.133). In anderen Fällen ist es schlicht die jüdische Identität, die zum Bezugspunkt wird, um als Repräsentantin oder Repräsentant des „bösen“ jüdischen Staates angegriffen zu werden. Der mit dem israelbezogenen Antisemitismus verbundene Anspruch, es handele sich nicht um camouflierten Antisemitismus, sondern um legitime Kritik an der staatlichen Politik, wird bereits durch die Angriffe gegen jüdische Schülerinnen und Schüler widerlegt.
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2 Die Situation der Betroffenen
Die Situation der betroffenen jüdischen Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte unterscheidet sich je nach dem, mit welchen handlungsförmigen Ausdrucksformen des Antisemitismus sie konfrontiert werden. Die handlungsförmigen Ausdrucksformen reichen von interaktionellen Verpflichtungen auf Repräsentationsrollen eines homogen definierten jüdisch-israelischen Kollektivs und daran gekoppelten Abwertungen als Angehörige einer Minderheit über die Konfrontationen mit Feindbildern, Legenden, Vernichtungsfantasien oder Nazisymbolik, bis hin zur Stigmatisierung jüdischer Identität und Angriffen, von verbalen Beleidigungen über Bloßstellungen bis zu physischer Gewalt (Bernstein 2020a, S. 96ff.).
Die Zuschreibung von Repräsentationsrollen eines homogen definierten jüdisch-israelischen Kollektivs bringt jüdische Schülerinnen und Schüler in eine Position, in der sie als Stellvertreterinnen und Stellvertreter oder Expertinnen und Experten für das Judentum, die Shoah oder Israel bzw. den Nahostkonflikt aus der Klassengemeinschaft hervorgehoben werden. Dabei werden sie nicht selten mit der Erwartung konfrontiert, sich angesichts stereotyper Vorstellungen zu Jüdinnen, Juden und dem Judentum, der NS-Vergangenheit bzw. tatsächlicher oder vermeintlicher Aktivitäten Israels im Nahostkonflikt zu rechtfertigen. Dies trägt dazu bei, sie innerhalb der Klassengemeinschaft zu verandern. Dadurch wird ein den hiesigen sozialen Konventionen nach als normal oder selbstverständlich zu charakterisierender Umgang mit der jüdischen Identität, aber auch mit Mitschülerinnen und Mitschülern und Lehrkräften, erschwert (Bernstein 2020a, S. 84ff.). Im Zusammenhang mit dem Judentum oder mit jüdisch-religiöser Praxis erscheinen jüdische Schülerinnen und Schüler oder Lehrkräfte exotisch oder rückwärtsgewandt. Im Zusammenhang mit der Shoah werden ihnen wahlweise ein entkontextualisierter Opferstatus, eine Übersensibilität oder moralische Überlegenheit zugeschrieben. Diese Zuschreibungen werden mitunter im Sinnbild der „Moralkeule“ oder als Instrumentalisierung der Geschichte für die eigenen Zwecke verdichtet. Zuweilen zeigen sich Schülerinnen und Schüler von der Präsenz von Jüdinnen und Juden irritiert. Sie geben vor, verwundert zu sein, dass Jüdinnen und Juden nach der Shoah in Deutschland existieren (Bernstein 2020a, S. 329). Israel und der Nahostkonflikt hingegen markieren den Rahmen, in dem jüdische Schülerinnen und Schüler stellvertretend als Aggressorinnen und Aggressoren, Täterinnen und Täter wahrgenommen werden. Das Kontinuum der Fremdwahrnehmung jüdischer Kinder und Jugendlicher spannt sich also zwischen der Opfer- und der Täterposition auf. Im Hinblick auf die religiöse Praxis erfahren sie mitunter eine Benachteiligung als Angehörige einer Minderheit durch die gesellschaftliche Mehrheit, wobei sie parallel mit antisemitischen Feindbildern konfrontiert werden, die Jüdinnen und Juden mit Macht, allem Übel oder dem Bösen schlechthin identifizieren (Bernstein 2020a, S. 153ff.).
Die Erfahrungen, Hass oder Beleidigungen ausgesetzt zu sein, bloßgestellt oder verächtlich gemacht zu werden, führen bei vielen jüdischen Schülerinnen und Schülern dazu, sich vorsichtig zu verhalten und ihre jüdische Identität zu verheimlichen, um sich keiner Gefahr auszusetzen. Die im verbreiteten Schimpfwortgebrauch von „du Jude“ angelegte Stigmatisierung jüdischer Identität trägt dazu bei, dass jüdische Kinder und Jugendliche ihre Umgebung zuweilen als feindselig empfinden (Bernstein 2020a, S. 94ff.). Das dermaßen erschütterte Grundvertrauen ist aber die Bedingung dafür, sich überhaupt als Teil der Schulklasse oder Gesellschaft zu fühlen. In einer Umgebung, die sich aufgeklärt und historisch geläutert wähnt, häufig ohne Widerspruch oder Unterstützung von anderen mit Feindbildern, Legenden oder Nazisymbolik konfrontiert zu werden, wirkt verletzend und entfremdet von Ort und Gruppe, deren Teil man zu sein bis dahin glaubte (Bernstein 2020a, S. 434ff.).
Die banalisierenden ebenso wie die glorifizierenden Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus oder die Shoah sind zudem in einen Kontext von Schuldabwehrantisemitismus und kollektiv- sowie familienbiografischen Verstrickungen in Nationalsozialismus und Holocaust von Nachkommen der Täterinnen und Täter und Mitläuferinnen und Mitläufer zu setzen. Während diese die Verstrickungen ihrer Vorfahren häufig de-thematisieren, sind sie für die Nachkommen von Überlebenden oder Opfern auch angesichts gegenwärtiger Antisemitismuserfahrungen präsent, wie es eine jüdische Schülerin verdeutlicht (Bernstein 2020a, S. 320):
Es besteht eine große Verbindung, weil das eine auch mit dem anderem irgendwo zusammenhängt, das müssen wir ja sehen, weil wir hier auf deutschem Boden sind, und die Vergangenheit ist einfach hier und lebt mit uns, und ja. […] Aber ja, wenn ich eine antisemitische Äußerung höre, sehe ich den Bezug zu meiner Familie und zum Holocaust und das macht es dann noch schlimmer.
Die Situationen, in denen jüdische Schülerinnen und Schüler Bloßstellungen oder Beleidigungen ausgesetzt sind, gefährden ihre gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe am Schulleben und am Unterricht. Physischen Angriffen auf sie gehen in der Regel Zuschreibungen von Repräsentationsrollen voraus. Als schulspezifisches Arrangement für diese vermeintlich harmlosen Zuschreibungen lassen sich der Geschichts-, Ethik- oder Politikunterricht rekonstruieren. In Fällen, wo physische Gewalt ausgeübt wurde, folgte einem solchen Szenario im Unterricht die Anfeindung danach, häufig über einen längeren Zeitraum und von mehreren Schülerinnen und Schülern ausgehend. Aufgrund der Tatsache, dass die Angreiferinnen und Angreifer häufig keine hinreichenden disziplinarischen Konsequenzen erfahren und sich die Betroffenen nicht geschützt fühlen, verlassen in solchen Fällen in aller Regel die Betroffenen die Schulen (Bernstein 2020a, S. 135ff.).
Fallübergreifend lässt sich das Wahrnehmungsmuster feststellen, dass sich die Betroffenen mit ihren Antisemitismuserfahrungen alleingelassen fühlen. Dieses verweist darauf, wie Lehrkräfte, Schulleitungen und Mitschülerinnen und Mitschüler auf Antisemitismus reagieren – nämlich nicht bzw. nicht solidarisch gegenüber den Betroffenen von Antisemitismus. Insofern antisemitische Äußerungen nicht als solche benannt und problematisiert werden, werden Betroffene in die Position gebracht, sich selbst und allein dazu positionieren zu müssen. Dieser ausbleibende Widerspruch und eine schweigende Mehrheit gegenüber den Ausdrucksformen von Antisemitismus werden als belastend empfunden (Bernstein 2020a, S. 186ff.).
Insbesondere beim Schuldabwehr- und israelbezogenen Antisemitismus wirkt das Handeln von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern mitunter zusammen. Die aggressiven Ausdrucksformen in der Schülerinnen- und Schülerschaft korrespondieren mit elaborierten Formen der Schuldabwehr oder „Israelkritik“ bzw. mit Untätigkeit seitens der Lehrkräfte. Das Gefühl, alleingelassen zu werden, konkretisiert sich in der Handlungstendenz Betroffener, ihre jüdische Identität zu verheimlichen, um sich zu schützen und Probleme zu vermeiden. Das führt mitunter zu Ängsten bei den Eltern, ihre Kinder könnten sich deshalb von ihrer jüdischen Identität distanzieren. Dies führt auch zu Konflikten in den Familien darüber, wie sichtbar sich jüdisches Leben in Deutschland gestalten lässt. Eine Frage, die vor allem dann an Bedeutung gewinnt, wenn die Eltern, häufig aus den ehemaligen Sowjetstaaten, nach Deutschland eingewandert sind (Bernstein 2020a, S. 129ff.).
Dass antisemitischen Anfeindungen oder gar physischen Angriffen nicht entschieden begegnet und Antisemitismus nicht als ihre Ursache benannt und problematisiert wird, Angreiferinnen und Angreifer keine disziplinarischen Konsequenzen erfahren und Betroffene nicht geschützt werden, erschüttert deren Vertrauen und Sicherheitsgefühl erheblich. Zwei Interviewte sind nach Israel ausgewandert, nachdem sie an Schulen antisemitische Angriffe und Gewalt erfahren hatten. 60 Prozent der im Rahmen der Studie über jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland Befragten haben bereits daran gedacht, aus Deutschland auszuwandern (Zick et al. 2017a, S. 35).
3 Etablierte Umgangsweisen mit Antisemitismus
Die Wahrnehmung von Betroffenen, angesichts von Antisemitismus allein gelassen zu werden, wirft die Frage nach den etablierten pädagogischen Umgangsweisen mit Antisemitismus und den problembezogenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern von Lehrkräften auf. Entlang von bagatellisierenden Orientierungsmustern und verzerrten Problemdefinitionen von Lehrkräften lässt sich aufzeigen, wie etablierte Umgangsweisen mit Antisemitismus dazu beigetragen haben, ihn als Problem in der Schule zu verstetigen.
Im Rahmen von bagatellisierenden Orientierungsmustern begreifen einige Lehrkräfte Antisemitismus als abstraktes Phänomen oder als ein Phänomen der Vergangenheit, das sie weder in der historischen Kontinuität bis heute noch als weitverbreitetes schulspezifisches Problem einzuordnen vermögen. Dadurch beschränkt sich der Umgang mit Antisemitismus auf normative Einlassungen und seine moralische Ächtung und entkoppelt sich von seinem konkreten Gegenstand, dem gegenwärtig verbreiteten Antisemitismus. Dieser wird zur Ausnahme oder zum Relikt vergangener Zeit erklärt, das manche Lehrkräfte nur metaphorisch zu beschreiben imstande sind (Bernstein 2020a, S. 392). Dann heißt es etwa, Antisemitismus habe sich wieder „eingeschlichen“ oder im Zusammenhang mit Antisemitismus werde „ein Fass aufgemacht“. Dem bagatellisierenden Orientierungsmuster sind zudem Tendenzen zuzuordnen, Schülerinnen und Schüler, die sich antisemitisch äußern oder antisemitisch handeln, durch die Zuschreibung von als unbedenklich charakterisierten Handlungsmotiven oder Wesensmerkmalen zu entlasten. Antisemitische Äußerungen oder Handlungen werden dann etwa als Provokation, Spaß oder diffus als „nicht so gemeint“ entproblematisiert (Bernstein 2020a, S. 145ff.). Das gilt auch für den Gebrauch von „du Jude“ als antisemitisches Schimpfwort, das als verbreitete Beleidigung oft außerhalb des Problembereichs Antisemitismus verortet wird. Besonders hervorzuheben ist, dass durch die alltägliche Verbreitung dieses Schimpfwortgebrauchs von vielen Schülerinnen und Schülern geschlussfolgert wird, es handele sich dabei nicht wirklich um Antisemitismus (Bernstein 2020a, S. 147ff.).
Das bagatellisierende Orientierungsmuster zeigt sich auch, wenn antisemitische Anfeindungen oder Angriffe als Konflikt zwischen Kindern oder Jugendlichen veralltäglicht werden. In dieser Wahrnehmung haben alle Beteiligten eine Verantwortung für das Zustandekommen einer über ihre, im wechselseitigen Handeln gründenden Konfliktkonstellation. An die Betroffenen wird damit eine Teilschuld delegiert (Bernstein 2020a, S. 388). Das verunmöglicht nicht allein einen Umgang mit mittels der Konfliktrahmung umgedeuteten antisemitischen Anfeindungen oder Angriffen, die einseitig und unabhängig davon erfolgen, was man getan hat. Diese Konfliktrahmung entspricht vielmehr der Logik antisemitischer Feindbildkonstruktionen, wonach die Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden mit ihrem provozierenden Handeln oder Wesen plausibilisiert wird.
Dem bagatellisierenden Orientierungsmuster liegen Abwehrtendenzen zugrunde, die auf die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, aber auch auf kollektiv- und familienbiografische Verstrickungen in Nationalsozialismus und Holocaust bezogen sind; es zeigen sich zudem professionelle Defizite (Bernstein 2020a, S. 395). Abwehrtendenzen können sich etwa darauf beziehen, antisemitische Äußerungen oder Handlungen ausschließlich außerhalb der als deutsch bestimmten Eigengruppe zu verorten und sie als von „Ausländerinnen und Ausländern“ oder Muslimen und Musliminnen allein ausgehend auszugeben. Diese Externalisierung hat die Funktion, die Eigengruppe und Kollektividentität von Schuld zu entlasten und geht mitunter mit rassistischen oder muslimfeindlichen Zuschreibungen einher. Bei anderen Lehrkräften besteht dagegen eine ausgeprägte Hemmung, Antisemitismus von Musliminnen und Muslimen im Zusammenhang mit der damit konturierten Gruppenidentität, der daraus folgenden ideologischen Struktur oder Gruppendynamik als Problem zu benennen. Grund dafür ist die Befürchtung, dies käme der Diskriminierung einer Minderheit aus der Mehrheitsformation heraus gleich oder lenke den Fokus zu Unrecht auf eine Minderheitengruppe (Bernstein 2020a, S. 163ff.). Die professionellen Defizite beziehen sich auf ein Verständnis der Lehrerinnen- bzw. Lehrerrolle, das eine pädagogische Auseinandersetzung mit Antisemitismus bzw. damit verbundene pädagogische Interventionen ausklammert (Bernstein 2020a, S. 134).
Die verzerrte Problemdefinition drückt sich auch darin aus, dass einige Lehrkräfte einen Begriff vom Antisemitismus haben, der seine spezifische Dimension ausspart und ihn mit Rassismus oder der Diskriminierung einer Minderheit durch die Mehrheit gleichsetzt (Bernstein 2020a, S. 307). Teil dieses weitverbreiteten, verkürzten Verständnisses von Antisemitismus ist auch die Wahrnehmung, dass es sich dabei um eine gesellschaftlich längst randständige rassistische Erscheinungsform handele. Daraus resultieren zwei wesentliche und folgenreiche Weichenstellungen für einen problematischen Umgang mit Antisemitismus:
Zum einen wird Antisemitismus dergestalt als Vorurteil gegen eine Minderheit verstanden, das sich als falsche generalisierte Zuschreibung erfahrungs- oder wissensbasiert widerlegen ließe (Bernstein 2020a, S. 289). Das geht jedoch am Problem antisemitischer Feindbildkonstruktionen vorbei, die erfahrungsunabhängig, projektionsgeleitet und wahnhaft Jüdinnen und Juden mittels Phantasmen als Übel und das Übel als jüdisch identifizieren. Entscheidend für den Umgang mit Antisemitismus ist also, diese Dämonisierungslogik wie auch die damit verbundenen Mechanismen und Funktionen sowie die mögliche Verankerung in einem Weltbild und Gefühl als Kernproblem zu erkennen.
Zum anderen wird Antisemitismus mit der Gleichsetzung mit Rassismus oder Diskriminierung einer Minderheit nicht als Phänomen eigener Art erkannt. Einer solchen Problemdefinition folgend, geraten lediglich politisch und moralisch geächtete rassistische Begründungsnarrative des Antisemitismus in den Blick. Aktuell dominierende Erscheinungsformen des Antisemitismus wie der Schuldabwehr- und israelbezogene Antisemitismus hingegen können auf einer solchen Basis nicht als dem Problembereich zugehörig erkannt werden. In der Folge werden die Problemdimensionen, die sich in der Schule am deutlichsten zeigen, nicht zum Gegenstand eines pädagogischen Umgangs mit Antisemitismus. Israelbezogener Antisemitismus wird von Lehrkräften mitunter explizit vom Antisemitismus unterschieden und als berechtigte und zuweilen gewünschte Kritik legitimiert. Bei anderen Lehrkräften zeigt sich eine ausgeprägte Unsicherheit, israelbezogenen Antisemitismus zu erkennen und von einer nicht antisemitischen Kritik an politischen Positionen konkreter israelischer Akteure bzw. Parteien zu unterscheiden. Das ist auf mangelndes Wissen über Israel und den Nahostkonflikt zurückzuführen (Bernstein 2020a, S. 172ff., 209ff.).
4 Fazit
Antisemitismus an Schulen drückt sich in verschiedenen Facetten diskriminierenden und feindseligen Handelns gegenüber jüdischen Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften aus. Das Spektrum dieses Handelns reicht von auf die Minderheitenposition bezogenen Abwertungen über die Kommunikation antisemitischer Feindbilder, Legenden und Vernichtungsfantasien bis hin zu Angriffen mittels Nazisymbolik, Beleidigungen oder physischer Gewalt. Eine besondere Bedeutung erhalten auf den Nationalsozialismus und den Holocaust bezogene Einstellungen und Handlungen und der israelbezogene Antisemitismus, da sich in diesen Zusammenhängen problematische Schnittstellen zwischen dem Handeln von Schülerinnen und Schülern und den Orientierungsmustern von Lehrkräften zeigen. Als Betroffene fühlen sich jüdische Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte von Schule und Gesellschaft alleingelassen. Zum Teil liegt dies in den bagatellisierenden Orientierungsmustern und verzerrten Problemdefinitionen nichtjüdischer Lehrkräfte begründet, die deren Umgang mit Antisemitismus strukturieren. Insofern diese bagatellisierenden Wahrnehmungsmuster und verzerrten Problemdefinitionen dazu beitragen, Antisemitismus als Problem zu verstetigen, rücken die Bedingungen des pädagogischen Umgangs mit Antisemitismus oder einer Bildung gegen Antisemitismus in den Fokus. Lehrkräfte sollten sich mit dem Phänomen Antisemitismus auseinandersetzen, um sich Wissen über die Kontinuität des Antisemitismus, seine Mechanismen und Funktionen zu anzueignen. Insbesondere eine darauf basierende Problemwahrnehmung, die sämtliche Erscheinungsformen des Antisemitismus wie den Schuldabwehr- und israelbezogenen Antisemitismus mit einschließt, ist von Bedeutung. Darüber hinaus sollte die Bedeutung der Biografie für das Handeln gegen Antisemitismus und die Wahrnehmung von jüdischen Perspektiven betont werden. Die Reflexion biografischer Verstrickungen mit dem Antisemitismus, insbesondere im Zusammenhang mit der Familie und dem Nationalsozialismus, und der Art, wie jüdische Perspektiven wahrgenommen werden, vermag wichtige Impulse für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus, konkret mit problembezogenen Wahrnehmungsmustern, Selbstbildern und Emotionen, zu geben.
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Die Autorin
1972 in der Ukraine geboren, studierte Kunstgeschichte, Soziologie und Kulturanthropologie an der Universität Haifa. Seit 2007 lebt sie permanent in Deutschland, von 2007 bis 2010 war sie Lehrbeauftragte am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und ebenfalls Lehrbeauftragte an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Im Anschluss hatte sie Lehraufträge an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz inne. Ab 2010 war Bernstein in Köln als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Lehrstuhl Soziologie für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Humanwissenschaftlichen Fakultät tätig. 2015 erhielt Bernstein die Professur für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Science.