Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 38

Oktober 2006

Der nachfolgende Beitrag wurde als Vortrag auf einer Konferenz zum Thema "Gewalt und Religion" im Herbst 2005 in Jerusalem gehalten und erstmals publiziert in der Zeitschrift "Religionen in Israel", die von der Israel Interfaith Association (IIA) herausgegeben wird. Nähere Informationen zur genannten Zeitschrift sowie weiteren Beiträgen, die auf der besagten Konferenz gehalten wurden, finden Sie weiter unten in einer entsprechenden Anzeige.

COMPASS dankt dem Autor und der IIA für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2006 Copyright bei Autorin und Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 38


Gewalt und Versöhnung im Koran und in frühen islamischen Quellen

MUHAMMAD HOURANI



Aus einer religiösen Perspektive sind die Stimmen des Friedens und die des Krieges von gleichem Gewicht. Alle Religionen, insbesondere monotheistische, betonen ihren pazifistischen Charakter. Aber eine tiefergehende Betrachtung zeigt, dass jede Religion dem Wesen und den Regeln der Kriegführung viel Platz einräumt. Es sind die Gläubigen selbst, die diese oder jene Auffassung ins Zentrum ihrer jeweiligen sozio-religiös-politischen Aktivität stellen. Je größer ihr Glauben an den Frieden ist, desto mehr betonen sie die friedliebende Natur ihrer Religion; je stärker andererseits ihre konfrontativen Positionen sind, desto schneller verschwindet auch ihr versöhnlicher und moderater Ton. Dies gilt insbesondere für die muslimischen Völker. Es genügt daher nicht zu sagen, dass die Religionen von ihren Quellen her den Frieden predigen, sie müssen auch dementsprechend handeln – und erst recht nach den Anschlägen des 11. September 2001. Es ist andererseits schwierig, in einer Realität, in der es so viel Misstrauen, Hass und Blutvergießen gibt, vom Frieden zu reden. Es gibt Menschen, die meinen, dass es angesichts dieser Realität sinnlos ist, über eine bessere Zukunft, einen anderen Traum, ein anderes Lied, das Lied eines freudevollen Lebens für uns alle, zu sprechen.

Ich bin der Ansicht, dass es gerade in einer Zeit wie dieser, in der es an Vertrauen, Frieden und Ruhe fehlt, für jeden von uns eine Pflicht ist, zu versuchen, zusammen eine neue, bessere Wirklichkeit aufzubauen, die unseren Kindern ermöglichen wird, in der Zukunft ein besseres Leben als das unsere zu leben – gemeinsam und in Harmonie.

Da ich gebeten wurde, darüber zu sprechen, was frühe islamische Quellen zum Thema Frieden, Krieg und Versöhnung sagen, werde ich vier Arten von Quellen behandeln:


1. den Koran,
2. die Hadith,
3. historische Quellen,
4. moderne Quellen.


Der Koran liefert viele positive Hinweise, beinhaltet aber auch Elemente, die weniger hilfreich für die Herausbildung einer bejahenden Einstellung dem Anderen gegenüber sind. Er bezieht sich auf zwei verschiedene historische Zeitabschnitte: 1. die Epoche von Mekka und 2. die Epoche von Medina. Diese beiden Epochen repräsentieren nicht nur zwei völlig unterschiedliche Ansichten des islamischen Lebens und der Muslime zu Lebzeiten des Propheten Mohammed, sondern auch zwei verschiedene Standpunkte bezüglich der Frage von Krieg und Frieden, von Kriegführung und Versöhnung.

Die Epoche von Mekka wird im allgemeinen als eine Phase des Friedens, der Sicherheit und Gelassenheit betrachtet. In dieser Phase wird die Einstellung dem Anderen gegenüber im Wesentlichen positiv formuliert. Vor allem ist die verwendete Terminologie positiv (ahal-alkattab, ahal-alzakar, ahal-alkoreh): Die Juden als Andere werden als Vorbild angesehen.


– Diese Anderen hatten ein geschriebenes heiliges Buch, die Araber hatten kein vergleichbares Buch.
– Diese Anderen pflegen einen beständigen anstelle eines nomadischen Lebensstils
– mit der Implikation, dass das Fehlen eines beständigen Wohnsitzes den Hauptgrund für den vergleichsweisen Mangel der Araber an Kultur und an einem Staat darstellt.


Die heiligen Orte des Judentums waren auch die des frühen Islam; die Gebetsrichtung war gleichfalls nach Jerusalem. Die jüdischen Propheten wurden zu den Propheten des Islam: Moses, Jakob, Abraham, Isaak und Ismael. Beinahe ein Drittel des Korans handelt vom Judentum und den Juden. Der Islam ging sogar noch weiter: Zentrale Elemente des Judentums wurden zu zentralen Elementen des islamischen Monotheismus.

Mit der Änderung der Gebetsrichtung von der Orientierung auf Jerusalem hin zur Ausrichtung auf die Qaba beobachten wir auch die wachsende Bedeutung Abrahams im Islam. Kapitel 14 erhebt Abraham zum Vater und größten aller Propheten und zum ersten Muslim.

Im Prinzip erkannte der Islam das Judentum Abrahams an, während er ihm gleichzeitig eine zentrale Rolle für die religiösen Fundamente des Islams beimaß:


1. Er besetzt einen zentralen Platz im islamischen Gebet, das seinen Namen trägt (alt-zalaat Ibrahimiyya);
2. Die Wiederherstellung der Qaba nach Schäden, die sie in der Flut erlitten hatte, wird ihm und seinem Sohn Ismael zugeschrieben;
3. Innerhalb der Qaba ist eine spezielle Ecke nach ihm benannt (Makam Ibrahim).



RELIGIONEN IN ISRAEL




Vierteljahresschrift über die Arbeit der Gesellschaft
für interreligiöse Verständigung in Israel.



Herausgegeben von der Gesellschaft für interreligiöse Verständigung in Israel (Israel Interfaith Association – IIA) Jerusalem/ Israel







RELIGIONEN IN ISRAEL
"Gewalt und Religion"
Heft 3/4 - Juli/Oktober 2006 



Vierteljahresschrift über die Arbeit der Gesellschaft für interreligiöse Verständigung in Israel sowie über Religion, Ökumene, Archäologie, Menschenrechte, Kultur und das Zusammenleben von Juden, Christen und Moslems in Israel und den Gebieten der palästinensischen Verwaltung.

Berichterstattung – Informationen – Überblicke –Vorträge – Aufsätze – Rezensionen – Erklärungen – Dokumente

Herausgegeben von der Gesellschaft für interreligiöse Verständigung in Israel (Israel Interfaith Association – IIA) Jerusalem/ Israel  

Inhalt
von Heft 3/4 - Juli/Oktober 2006
Thema: Gewalt und Religion

Editorial
Thema: Gewalt und Religion
Shear-Yashuv Cohen, Einführung
Chana Safrai, Gewalt in biblischen und rabbinischen Quellen
David Rosen, Die Beziehung des orthodoxen Judentums zum Frieden
Muhammad Hourani, Gewalt und Versöhnung im Koran und in frühen islamischen Quellen
Jehuda Bauer, Ertrag und Resümee
Aus dem interreligiösen Geschehen
Willkommen für Pfarrerehepaar Wohlrab
Ein neues Projekt der Jugendgruppe der IIA
Zehn Jahre Interfaith Kalender



ABONNEMENT und BESTELLUNG

Jahresabonnement: 15,- Euro (erm. 10,- Euro)
E-mail:
michaelkrupp@bezeqint.net
Deutsche Website: http://www.israel-interfaith.co.il



Der Koran weist auf viele Aspekte hin, die das Verhältnis zum Anderen betreffen:


– Der Andere soll für seine Verschiedenheit respektiert und wohlwollend behandelt werden (29:96).
– Die abweichenden religiösen Bräuche des Anderen sollen respektiert werden (6:109).
– Man soll keine Verallgemeinerungen verwenden, wenn man vom Anderen spricht. Manche sind gut, andere vielleicht schlecht, und wir müssen sie dementsprechend behandeln (3:112, 3:113, 3:75).
– Die Art und Weise, in der man mit dem Anderen spricht, muss Respekt ausdrücken (73:10).
– Die Menschen wurden verschieden geschaffen, und diese Verschiedenheit ist es, die uns eint, nicht trennt (49:13).


Wenn es um den Jihad, den Krieg als religiöse Verpflichtung des Islam, geht, muss man im Sinn behalten, dass Krieg und Blutvergießen nicht das Ziel des Islam oder der Muslime sind. Der Koran erklärt, dass Gott Aggressoren nicht liebt (Koran, Sure 2, Vers 190). Gott gebietet uns, das menschliche Leben zu bewahren und ihm keinen Schaden zuzufügen (wer eine Seele tötet, der ist, als ob er eine ganze Welt getötet hätte, Koran Kap. 5 Vers 32).

Man muss sich auch erinnern, dass der Islam den Jihad weder als eine persönliche Verpflichtung noch als eins seiner fünf Hauptgebote ansah. Je nach veränderter politischer Situation ist der Jihad entweder von großer oder von nebensächlicher Bedeutung. Die Begeisterung für den Jihad war wesentlich weniger intensiv, wenn es keine Notwendigkeit für ihn gab, insbesondere nach den muslimischen Eroberungen. In Folge von Konflikten und Spannungen trat er wieder in den Vordergrund, was zu Zeiten der Kreuzzüge geschah, wie Professor Emanuel Sivan gezeigt hat, und was wir auch heute an Orten wie Palästina, Irak usw. beobachten. Ein Rückgang der Spannungen in diesen Regionen hat einen verringertes Streben nach dem islamischen Jihad zum Ergebnis.

Ich möchte einen zusätzlichen Aspekt ansprechen, einen, der nicht oft behandelt wird, in der Hadith des Propheten Mohammed. Es wird oft die Frage gestellt, ob es eine Kultur des Friedens im Islam gibt. Um sie zu beantworten, muss man die Terminologie betrachten, die zu Zeiten des Propheten in Gebrauch war. Eine solche Untersuchung zeigt, dass, als nach dem Jahr 630 – dem Jahr, in welchem Mekka aus den Händen der Ungläubigen erobert wurde – seine Männer kriegerische Parolen anstimmten, Mohammed persönlich ihnen Einhalt gebot und sie aufforderte, Worte zu benutzen, die eine Friedensbotschaft vermittelten. Er bevorzugte auch den Gebrauch des Begriffs Gott, mit seiner Konnotation des Friedens. Als seine Leute sangen: »Heute ist ein Tag des Krieges« (baszad sazad badabdu), unterbrach er sie und sagte: »Heute ist ein Tag der Gnade« (baszad sazad badadu). Er bemühte sich, eine Kultur des Friedens anstelle einer des Krieges zu befördern. Zugegeben, diese Haltung fand erst gegen Ende seines Lebens verstärkt Ausdruck, aber der Koran unterstützt diese Auffassung (»wenn sie sich zum Frieden wenden, wende auch du dich zum Frieden«.)

Ich möchte mein Augenmerk auch auf zwei weitere wichtige Dokumente richten, die zu Lebzeiten des Propheten datieren und von denen keins im Koran erscheint:


– Die Verfassung für Medina (ahd alaumma) von 622;
– Der Friedensvertrag mit Hudibayye von 628.


Die Verfassung für Medina: Als der Prophet als Flüchtling (vor seinen Verwandten und den Menschen seiner Stadt) von Mekka nach Medina kam, präsentierte er den Einwohnern der Stadt – Muslimen und Nicht-Muslimen, Arabern und Nicht-Arabern – ein Dokument von besonderer Bedeutung. Juden waren im Rahmen dieses Dokuments inbegriffen. Das Dokument zielte auf die Errichtung einer Nation (Umma) ab. Ich werde dieses wichtige Schriftstück nicht im Detail besprechen, sondern möchte lediglich darauf hinweisen, dass die neue Nation Muslime und Nicht-Muslime, Araber und Nicht-Araber umfasst. Alle fanden Schutz unter einem Dach und lebten in Frieden miteinander. Das bedeutet, dass es in Zeiten des Friedens Platz in unserer Nähe gibt für den Anderen, der kein Muslim ist. Ich würde es anders formulieren: ein Frieden ist kein echter Frieden, wenn er denen, die anders sind, keinen Platz für ein Leben in Sicherheit gewährleistet. Der Prophet erkannte dies und handelte entsprechend. Ein Problem der arabischen Welt heute ist die Unfähigkeit, den Anderen oder jene, die anders sind, als Teil der Umma zu betrachten.

Der Friedensvertrag mit Hudibayye: Ist ein Friedensvertrag mit dem Feind möglich? Ist er realisierbar? Steht er nicht im Konflikt mit den Prinzipien des Islam? Mohammed hat gezeigt, dass er sowohl möglich als auch erreichbar ist. Diese Aussage ist in der Biographie des Propheten dokumentiert, die den Na-men ihres Herausgebers, ibn Hisham, trägt. Darin schafft der Prophet einen Anfang und einen Präzedenzfall für Friedensschlüsse mit dem Anderen und mit dem Feind. Der Preis ist kaum zu ertragen. Die meisten Leser dieses Dokuments kämen wohl zu dem Schluss, dass selbst die engsten Anhänger des Propheten darüber schockiert gewesen sein müssten, vor wie wenig er zurückschreckte und welche Kompromisse er zu schließen bereit war, und all das wofür? Für den Frieden. Der Prophet war bereit, auf grundlegende Dogmen zu verzichten, seinen Prophetentitel und den zentralen islamischen Begriff »Bismaila« eingeschlossen. Er ließ sich auch erweichen, als es darum ging, loyale Muslime zu schützen, die sich bereit und willens erklärt hatten, sich seinem Lager anzuschließen.

Die Muslime haben den Vertrag mit Hudibayye als Präzedenzfall anerkannt. Führende Persönlichkeiten stützten sich auf ihn: Ibn Timuyye (gest. 1328), der große Imam von Saudien Scheich bin Baz, der Großmufti von Syrien, der kürzlich verstorbene Scheich Kaftaro, Scheich Yussef Alkaradawi, bekannt durch Al-Jazeera, Scheich Albisar, der Rektor von Alazahar, der Sadats historischen Besuch in Jerusalem im Jahr 1977 sowie auch den Friedensvertrag mit Israel rechtfertigte.

Zusammengefasst: Zwei Ansätze existieren im Islam nebeneinander – einer, der Frieden und Versöhnung den Vorzug gibt, und einer, der den Krieg favorisiert. Wer immer einem dieser Ansätze Glauben schenkt, trägt die Verantwortung dafür, ihn in Politik umzusetzen.

Derzeit hat sich die muslimische Welt die versöhnliche Einstellung des Islam dem Anderen gegenüber noch nicht zu eigen gemacht. Die Konflikte innerhalb der muslimischen Welt sind sogar noch größer als jene mit der nichtmuslimischen Welt; größer, als man es sich vorstellen kann. Dies ist eine Welt, die immer noch an chronischer Ungleichheit leidet, wenn auch nicht unbedingt in westlichen Begriffen. Pluralismus als Einstellung dem Anderen gegenüber ist weit davon entfernt, Wurzeln zu schlagen. Die Stimme des islamischen Fundamentalismus ist, obschon die Stimme einer Minderheit, viel lauter zu hören, und zwar in einem Ausmaß, das den Muslimen, ihrer Religion und Kultur großen Schaden zufügt. Eine Realität von Zusammengehörigkeit und Partnerschaft in Frieden und für alle herzustellen, ist die Pflicht aller einflussreichen Persönlichkeiten, die die muslimische Welt auf religiöser, gesellschaftlicher, finanzieller und politischer Ebene beherrschen. Ohne ein Ansetzen auf der fundamentalsten Ebene dieser muslimischen Wirklichkeit, und ohne einen echten Wandel in der Einstellung dem Anderen gegenüber, kann es keine Kultur des Friedens und keinen tatsächlichen Frieden geben. Was wird heute von uns als Muslimen im Umgang mit dem Anderen verlangt, und was sollten wir vom Anderen erwarten? Ein gegenseitiges Verständnis unserer jeweiligen Realität, und den Wunsch, dass sie uns und unsere Kultur verstehen. Auf dieses Ziel arbeite ich seit über dreißig Jahren im Rahmen verschiedener Einrichtungen hin: Des Shalom Hartman Instituts, des David Yellin Teachers College, des ICCI, in Israel und im Ausland.


Aus dem Hebräischen und Englischen übersetzt von Astrid Popien



Der Autor

MUHAMMAD HOURANI

Muhammad Hourani ist Dozent am David Yellin College in Jerusalem und fellow researcher am Shalom-Hartman-Institut, Jerusalem.