Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 352

Oktober 2024

7. Oktober 2023. Israelische Kibbuze nahe des Gazastreifens und Besucher eines Musikfestivals werden von der Hamas angegriffen. Über 1200 Menschen - Alte, Junge, Kleinkinder und Säuglinge - werden nach Folter, Verstümmelungen, Vergewaltigungen ermordet, 239 Personen entführt. "Dieses Massaker der Hamas ist ein totales Entgleisen aus der Zivilisation" (Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller).

Und hier in Deutschland? Im Berliner Stadtteil Neukölln wird auf Straßen getanzt, und die Palästinenserorganisation Samidoun verteilt Süßigkeiten. Das Internet brummt voller glücklicher Kommentare. Fast weltweit werden wir seit einem Jahr Zeugen eines rohen Antisemitismus, den wir längst tot geglaubt haben - und der nie tot war.

Was ist das für eine Ideologie, die bei Menschen eine schier grenzenlose Enthemmung bewirkt und zu Grausamkeiten führt, die jenseits aller Vorstellungskraft liegen?

Und was macht das mit den Juden und Jüdinnen, die hier in Deutschland leben?

Die beiden ONLINE-EXTRA Texte, die heute anlässlich des ersten Jahrestages des Massakers vom 7. Oktober 2023 erscheinen, widmen sich u.a. diesen beiden Fragen.

Der Politikwissenchaftler und Publizist Matthias Küntzel skizziert in seinem Beitrag - einem Vortrag, den er im Dezember 2023 hielt - die Ideologie der Hamas und nimmt die Reaktionen in der Welt auf das Massaker kritisch unter die Lupe: "Das Massaker der Hamas und seine Folgen". (ONLINE-EXTRA NR. 352)

Und die Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin Marina Chernivsky schildert gemeinsam mit Friederike Lorenz-Sinai, Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit und Sozialarbeitsforschung an der Fachhochschule Potsdam, wie Jüdinnen und Juden hierzulande den 7. Oktober 2023 erlebten und welche Bedeutung dieser Tag für sie hat: "Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communities in Deutschland". (ONLINE-EXTRA Nr. 353)

COMPASS dankt Matthias Küntzel für die Genehmigung zur Wiedergabe seines Vortrages an dieser Stelle. Der Text von Chernivsky und Lorenz-Sinai erschien wiederum erstmals in der Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament": "Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ 25-26/2024) und ist mit einer Creative Commons Lizenz versehen.

© 2024 Copyright für Matthias Küntzel: beim Autor
© 2024 Copyright für Chernivsky/Lorenz-Sinai:
"Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ 25-26/2024)
Creative Commons Lizenz (by-nc-nd/3.0/de/)
online für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 352


Das Massaker der Hamas und seine Folgen

MATTHIAS KÜNTZEL


Das Massaker der Hamas markiert eine Zäsur – sowohl für die Geschichte des Antisemitismus wie auch für die Geschichte des Nahen Ostens. Am 7. Oktober wurden 1.200 Israeli ermordet. Das wäre auf Deutschland bezogen so, als hätte ein Terroranschlag 10.600 Opfer zur Folge gehabt.

Es ist aber nicht nur das Ausmaß des Verbrechens, das schockiert, sondern auch dessen Zielrichtung. Es ging gegen Juden. Man wollte so viel Juden wie möglich töten oder als Geiseln missbrauchen. Man werde ein Massaker wie dieses stets wiederholen, erklärte die Hamas, bis Israel gänzlich vernichtet sei. Und es ist ganz klar: Wären die israelischen Streitkräfte am 7. Oktober nicht dazwischen gegangen, hätten die Vernichtungskommandos der Hamas ohne Ende weiter gemordet. Der eliminatorische Antisemitismus, den wir stets nur mit der Vergangenheit in Verbindung gebracht haben – er ist Gegenwart. Der Schock darüber sitzt tief.

Juden sind hier – wegen der Wucht der Erinnerung – besonders betroffen, und zwar dreifach. Erstens ist nicht zu bestreiten, dass das Massaker Erinnerungen an die Schoa und an die vielen vorangegangenen Pogrome wachgerufen hat, ja: wachrufen musste. Es hat das Holocaust-Trauma vieler Jüdinnen und Juden gezielt aktualisiert.

Zweitens ist auch eine weitere historische Erfahrung schlagartig zurückgekehrt: Die Erfahrung der Einsamkeit, die Erfahrung des Alleingelassenwerdens. In vielen Ländern waren es Hundertausende Nicht-Muslime, die an Anti-Israel-Demonstrationen teilnahmen, während Juden bei Pro-Israel-Demonstration oftmals fast allein waren und Plakate mit den Fotos der jüdischen Geiseln vielfach abgerissen wurden. Bei „Je suis Charlie“, bei „Black live matters“ oder bei „Frau Leben Freiheit“ und der Ukraine hat die Solidarität funktioniert. Sind die Opfer aber jüdisch, bleiben sie weitgehend allein. Der israelische Oppositionsführer Yair Lapid formulierte es so:

    Die Menschen sahen, wie Juden ermordet, vergewaltigt und gefangen genommen wurden und beschlossen, dass die Juden daran Schuld waren. Sie sahen, dass Juden Opfer eines Terroranschlags wurden, und das hat ihren Hass auf Juden nur verstärkt.

Oder in den Worten des israelischen Publizisten Yossi Klein Halevi:

    Wir durchleben den ultimativen jüdischen Alptraum: erst geschlachtet und hinterher als kriminell gebrandmarkt zu werden.

Drittens geht es auch um die Stimmung in Israel. Es ist wichtig – das lernte ich in Israel – zwischen dem Diaspora-Juden und dem freien Juden zu unterscheiden. Dem Diaspora-Juden mag es gut oder schlecht gehen – er oder sie bleibt aber stets abhängig von der jeweiligen Obrigkeit, die ihn vom Treiben des Mobs zu schützen hat, so wie das heute auch in Deutschland der Fall ist. Nur in Israel sind Juden vollständig frei, zu tun und zu lassen, was sie für richtig halten. Inzwischen sind dort mehr als zwei Generationen freier und selbstbestimmter Jüdinnen und Juden herangewachsen, die das Land zu einem der attraktivsten Orte der Welt gemacht haben.

Der 7. Oktober traf diese freien Juden als Schock. Plötzlich überschreiten Antisemiten, deren Verhalten an das Verhalten der Nazi-Einsatzgruppen erinnert, die Grenze zu Israel. Plötzlich brechen die allerschlimmsten jüdischen Erfahrungen in den Alltag selbst dieses Landes ein. Wird das Selbstbewusstsein der freien Juden in Israel zurückkehren?

Ich hoffe dies sehr, aber ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass wir versuchen sollten zu verstehen, was es bedeutet, derzeit Jude in Deutschland zu sein. Und dass heute im Großen, wie im Kleinen die Solidarität von Nicht-Juden mit den Jüdinnen und Juden besonders wichtig ist.

Für mich war das Überraschende am 7. Oktober nicht die Enthemmung, mit der die Hamas-Anhänger Juden töteten. Wir wissen, dass schon der Koran die Juden als Affen und Schweine dehumanisiert und die Muslime dazu aufruft, sie zu köpfen oder zu verbrennen und es gab vergleichbare Blutrausch-Orgien im kleineren Ausmaß schon in der Vergangenheit.

Für mich was das eigentlich Überraschende das Totalversagen der israelischen Sicherheitsdienste im Falle der Hamas. Wie konnte das passieren? Ich habe darauf nur eine Antwort: Selbst in Israel hatte man offensichtlich den großen Fehler gemacht, die Ideologie der Hamas nicht wörtlich und nicht ernst zu nehmen. Ich möchte Ihnen deshalb im ersten Teil meines Vortrags Informationen über die Ideologie der Hamas anhand von vier Stichworten vermitteln. Im zweiten Teil wird es um die Reaktionen auf das Massaker gehen.



LITERATUR

Nazis und der Nahe Osten.
Wie der islamische Antisemitismus entstand


Verlag Hentrich & Hentrich
Berlin 2019
272 S.
Euro 19,90




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Djihad und Judenhaß
Über den neuen antijüdischen Krieg


ça-ira-Verlag
Freiburg 2002
180 S.
Euro 23,00


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Die Ideologie der Hamas

Manche halten die Hamas für eine Bande durchgeknallter Mörder. Das ist verkehrt. Es handelt sich um Weltanschauungskrieger. Sie sind der palästinensische Zweig der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft.

Diese Muslimbruderschaft fasste ihr religiöses Programm in einer Parole zusammen, die bis heute das Handeln auch der Hamas bestimmt: „Allah ist unser Ziel, der Prophet unser Vorbild, der Koran unsere Verfassung, der Djihad unser Weg und für Allah zu sterben unser erhabenster Wunsch.“

Doch was bedeutet zum Beispiel der Slogan Der Koran ist unsere Verfassung? Er bedeutet, dass die Hamas einen Gottesstaat will, in dem nicht Menschen über Gesetze entscheiden, sondern der Koran als Verfassung, also als oberstes Gesetz gilt. Sie greift damit unsere Art zu leben fundamental an. Deshalb ist auch klar, warum die Hamas Israel hasst. Nicht in erster Linie für das, was seine Regierung tut, sondern für das was es ist: eine selbstbestimmte Demokratie.

Auch für promovierte Hamas-Kader sind die Verse des Koran sakrosankt: sie gelten als uneingeschränkt wahr. Dass Allah z.B. Juden in Affen und Schweine verwandeln kann, darf kein Hamas-Kader bestreiten, denn es steht so im Koran. Erlaubt ist lediglich der Streit über das, was im Koran offen bleibt, z.B. die Frage, ob sich die in Tiere verwandelten früheren Menschen fortpflanzen können oder nicht.

Was bedeutet der Aufruf: Der Djihad ist unser Weg? Er bedeutet, dass Friedensverhandlungen nicht nur abgelehnt, sondern aktiv torpediert werden. So ging es der Hamas am 7. Oktober erklärtermaßen darum, den Annäherungsprozess zwischen Saudi-Arabien und Israel zu zerstören.

Auch die israelischen Versuche, die Not der Gaza-Bewohner zu verringern, indem z.B. über 18.000 Gaza-Bewohnern die Aufnahme von Arbeit in Israel erlaubt wurde, waren der Hamas ein Dorn im Auge, weil sie die Bereitschaft zum Heiligen Krieg verminderten.

Dies ist ein entscheidender Punkt: Die Hamas will, dass die arabische Bevölkerung in Palästina leidet, weil man dieses Leid propagandistisch gegen Israel wenden und zur Verstärkung der Djihad-Idee nutzen kann. Ein Frieden mit Israel, der auch den Palästinensern zu Gute käme: Das ist der Alptraum der Hamas-Führung, die Israels Zerstörung will. Sie will das Leiden der Menschen ausbeuten, anstatt es zu beseitigen. Auch deshalb ist es einfach nur absurd, dass man immer wieder Israel für die Perspektivlosigkeit der Palästinenser verantwortlich macht, obwohl es allein die Islamisten sind, die diese Perspektivlosigkeit brauchen und produzieren, um immer neue Rekruten für ihren Djihad zu gewinnen.

Die abschließende Losung der Muslimbruderschaft lautet:
Für Allah zu sterben ist unser erhabenster Wunsch. Der Märtyrer-Tod sichert dem Getöteten laut Koran einen Vorzugsplatz im Paradies. Und da der Koran bekanntlich immer Recht hat, ergibt sich für Djihadisten eine win-win-Situation: Entweder sie siegen im Diesseits oder sie sterben und kommen in den Paradies-Genuss des Jenseits. „Wir gelten als Nation der Märtyrer“, erklärte Hamas-Führer Ghazi Hamad, „und wir sind stolz darauf, Märtyrer zu opfern.“

Für Islamisten hat aber nicht nur das eigene Leben, sondern auch das Leben anderer Muslime keinen besonderen Wert: Sie werden massenhaft als menschliche Schutzschilde missbraucht und geopfert. „Die Anführer der Terrorgruppe sprechen freimütig davon, dass sie das Volk opfern“, bemerkte ein Kommentator der FAZ.

In der Tat: Während in allen anderen Kriegen Waffen die Menschen schützen sollen, sind es im Hamas-Krieg Menschen, die mit ihren Körpern die Waffen schützen sollen. So erklärte Hamas-Führer Ismail Haniyeh: „Wir brauchen das Blut der Frauen, Kinder und der Alten von Gaza, um unseren revolutionären Geist mit Leben zu erfüllen.“ Ohne menschliche Schutzschilde wäre die Hamas sehr schwach. Das Blut unbeteiligter Zivilisten ist ihre stärkste Waffe. Je mehr arabische Zivilisten umkommen, desto besser für die Hamas- Propaganda, der zufolge es Israel darauf abgesehen habe, Zivilisten und besonders Kinder zu töten.

Für Israel ist dies eine lose-lose-Situation: Entweder es verliert den Raketenkrieg, weil es sich nicht wehren kann oder es wehrt sich und verliert den Propagandakrieg.

Neben dem Koran, dem Djihad und dem Märtyrertum gibt es eine vierte ideologische Säule, die das Verhalten der Hamas bestimmt:

Der Hass auf Juden

So werden in der Charta der Hamas von 1988, die nach wie vor gültig ist, nicht nur Israel, sondern „die Juden“ zum Weltfeind erklärt, einem Weltfeind, der die Medien global kontrolliere und nicht nur Revolutionen, sondern auch die beiden Weltkriege angezettelt habe. Wie Adolf Hitler in „Mein Kampf“ führt auch die Hamas in ihrer Charta die „Protokolle der Weisen von Zion“ als Beleg für jüdisches Verhalten an, um in Artikel 7 ihrer Charta schließlich zu erklären: „Die Zeit der Auferstehung wird nicht anbrechen, bevor nicht die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten“.

Wir haben es hier mit einer religiös geprägten Variante von Antisemitismus zu tun – einem Judenhass, der gleichwohl so „klingt, als ob er direkt von den Seiten des Stürmer abgeschrieben“ sei, wie der palästinensische Politiker Sari Nusseibeh bemerkte. Wie aber gelangte der Judenhass der Nazis zur Hamas? Ich werde diesen Ideologie-Transfer in vier Schritten skizzieren:

Es fanden erstens ab 1938 mit ausdrücklicher Zustimmung Joseph Goebbels‘ Begegnungen zwischen Nazi-Agenten und den Führern der Muslimbrüder in Ägypten statt, die ebenfalls Juden hassten und die ebenfalls das zionistische Projekt zu Fall bringen wollten. Berlin überwies hohe Geldsummen an die Bruderschaft, veranstaltete mit ihnen gemeinsame Schulungsabende über „die jüdische Frage“ und unterstützte deren wichtigsten Bündnispartner, den Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini.

Zweitens starteten die Nazis ab 1939 ihre Radio-Propaganda in arabischer Sprache, die auch die analphabetische Masse erreichte. Auf diese Weise gelangte Goebbels’ Antisemitismus zwischen April 1939 und April 1945 allabendlich in die arabische Welt.

Die Programme wurden von den Kurzwellen-Sendeeinrichtungen in Zeesen, einem Ort südlich von Berlin, ausgestrahlt und zeichneten sich durch zwei Besonderheiten aus: Zum einen tarnten sich die deutschen Radiomacher als besonders gläubige Islam-Freunde. Zum anderen waren die Sendungen aus Berlin von einem rabiaten Antisemitismus geprägt. „Tötet die Juden, steckt ihren Besitz in Brand, zerstört ihre Geschäfte, vernichtet diese niederträchtigen Helfer des britischen Imperialismus!“ tönte es zum Beispiel in arabischer Sprache aus Berlin, als Rommels „Panzerarmee Afrika“ 1942 auf Kairo vorrückte.

Für die arabischen Welt erwies sich diese sechsjährige allabendliche Dauerbeschallung als Zäsur, die die Geschichte des Nahen Ostens in ein Vorher und ein Nachher teilt: Sie beförderte eine ausschließlich antijüdische Lesart des Koran, popularisierte den antisemitischen Weltverschwörungsmythos und prägte eine völkermörderische Rhetorik gegenüber dem Zionismus.

Drittens blieb auch nach dem Sieg über Hitler der Antisemitismus im arabischen Raum, wo die Muslimbrüder inzwischen über eine Millionen Mitglieder verfügten, virulent. Als 1946 der Kriegsverbrecher Amin el-Husseini unbehelligt nach Kairo zurückkehrte, zeigte sich die Bruderschaft begeistert: „Dieser Held“, erklärten sie, „kämpfte mit der Hilfe Hitlers und Deutschlands … gegen den Zionismus. Deutschland und Hitler sind nicht mehr, aber Amin el-Husseini wird den Kampf fortsetzen.“ In der Tat trugen der Mufti und die Muslimbrüder in den Folgejahren maßgeblich dazu bei, die Zwei-Staaten-Resolution für Palästina, die die Vereinten Nationen 1947 beschlossen hatten, zu Fall zu bringen.

Viertens erlitten 1948 zwar die arabischen Staaten bei dem Versuch, das in diesem Jahr gegründete Israel auszulöschen, eine Niederlage, doch blieb die Idee, Israel zu zerstören, weiter im Raum. Die Muslimbrüder reichten den Staffelstab an den iranischen Geistlichen Ruhollah Musavi weiter, der später als Ruhollah Khomeini berühmt werden sollte. Seit der islamischen Revolution von 1979 gilt Teheran als das Zentrum bei der Bemühung, Israel – und das heißt: die Juden in Israel – zu vernichten. 1988 schließlich schrieb sich die von Teheran unterstützte Hamas eben dieses Ziel auf ihre Fahnen.

Die Hamas will somit eine Ambition, die mit Nazi-Deutschland unter Adolf Hitler ihren Anfang nahm, zum brutalen Abschluss bringen. Und es ist kein Zufall, dass sie hierfür in ihrer Charta antisemitische Parolen zitiert, die zuvor über das Nazi-Radio in die arabische Welt gelangt waren.

Wenn wir den Judenhass der Nazis mit dem der Hamas vergleichen, stoßen wir auf Ähnlichkeiten und auf Unterschiede. Die gemeinsame Schnittmenge besteht darin, dass es sich in beiden Fällen um einen Erlösungsantisemitismus handelt, um redemptive antisemitism, so das von Saul Friedländer geprägte Wort. Dieser macht die Juden für alles Übel in der Welt verantwortlich und will die Welt durch Ausrottung der Juden erlösen. Befreiung durch Vernichtung: Mal als religiöse Utopie, um ewigen Frieden nach den Vorgaben der Scharia zu erkämpfen, mal als deutsche Utopie, um die Welt unter dem globalen Schatten des Hakenkreuzes zu vereinen.

Während die Nazis ihre Massaker jedoch verstecken, nutzten die Islamisten Bodycams und Helmkameras, um ihre bestialischen Morde über die sozialen Medien zu verbreiten. Die Hamas wollte ausdrücklich die Welt als Zuschauer ihrer Grausamkeiten um sich versammeln, um diese einzuschüchtern und um öffentlich in ihrer Siegesgewissheit zu schwelgen.

Wir leben in einer säkularisierten Gesellschaft und machen uns auch deshalb keinen Begriff, welch Bedeutung die Religion für Islamisten hat. Für sie ist Religion kein Teil des Lebens, sondern das Leben ist Teil des Islams. Für sie ist die islamische Geschichte nichts anderes als die Vollendung des Zwecks menschlicher Geschichte unter göttlicher Führung.

Dass sich hierbei die Überlegenheit des Islam erweisen wird, und sei es durch Massaker an Juden, steht für sie ganz außer Frage. Ihnen gilt deshalb das Massaker vom 7. Oktober als Modell; als Vorstufe der Befreiung. Man werde den 7. Oktober stets wiederholen, prahlt die Führung der Hamas, bis Israel verschwunden sei.

Reaktionen der Welt

Global betrachtet waren die Reaktionen auf das grauenvollste Massaker an Juden seit der Schoa niederschmetternd. Es war, als habe jemand die Büchse der Pandora geöffnet: Man zeigte fast immer mit dem Finger auf die Ermordeten statt auf die Mörder. Wir erlebten das Paradox, dass das beispiellose antisemitische Verbrechen eine ebenso beispiellose globale Welle von Antisemitismus auslöste. Diese Welle begann bereits Tage vor dem Gaza-Krieg, als sich Israel in der Schockstarre befand und noch keine Möglichkeiten hatte, sich zu wehren. Drei Beispiele:

Beispiel Ramallah. Noch am 7. Oktober feierte ein Fatah-Führer das Massaker an israelischen Zivilisten im offiziellen Fernseh-Sender der Palästinensische Autonomiebehörde (PA) als „einen Morgen des Sieges, der Freude und des Stolzes“ und rief die Palästinenser der Westbank dazu auf, „an dieser Heldengeschichte teilzunehmen.“

Natürlich hätte sich die PA in dieser Situation als die bessere Alternative zur Hamas profilieren können, als Alternative, die sich vom Terror distanziert. Das wollte man offenkundig nicht. Stattdessen biederten sich Mahmud Abbas und seine Leute bei der Hamas an und machten sich mit deren Terror gemein. Deshalb erscheint der Vorschlag der USA, ausgerechnet diese Behörde mit der künftigen Führung des Gaza-Streifens beauftragen zu wollen, absurd.

Beispiel Berlin, wo eine Gruppe von Arabern ebenfalls bereits am 7. Oktober auf der Sonnenallee türkische Süßspeisen (Baklava) verschenkte. Sie feierten den bestialischen Mord an Säuglingen tatsächlich mit Süßigkeiten. Hier war antijüdischer Sadismus am Werk, wie man ihn im Gazastreifen und der Westbank schon kleinen Kindern beizubringen pflegt: Hier wurden in den letzten Jahrzehnten regelmäßig nach erfolgreichen Selbstmordattentaten und während Juden sich noch in ihrem Blut wälzten Süßigkeiten verschenkt, um schon Kindern beizubringen, dass der Tod von Juden gefeiert gehört. Radikaler kann sich Antisemitismus kaum präsentieren.

Beispiel Madrid: Hier schoss sich bereits wenige Stunden nach dem Massaker die spanische Linke auf Israel ein. Schon vor dem Beginn der Militäroffensive in Gaza hielt die stellvertretende Regierungschefin Yolanda Diaz dem „Apartheidstaat“ Israel „Kriegsverbrechen“ vor. Schon vor dem Einsatz der israelischen Armee rief die Generalsekretärin der linkspopulistischen Podemos-Partei dazu auf, die diplomatischen Beziehungen zu Israel auszusetzen und Sanktionen zu verhängen.

Wie ist diese fatale Opfer-Täter-Umkehrung, diese sofortige Schuldzuweisung an Israel, wie wir sie nicht nur in Spanien erlebten, zu erklären? Handelt es sich bei all den Hunderttausenden, die in Europa mit ähnlicher Stoßrichtung auf die Straßen gingen, um Antisemiten? Oder war hier mehr Dummheit als Bosheit am Werk?

Die Dummen wollen vom Antisemitismus der Hamas und deren Charta partout nichts wissen. Also müssen sie sich den Terror der Hamas anders erklären. Und was liegt da näher, als Israel die Schuld an dem Terror zu geben und bei noch mehr Terror Israel noch mehr Schuld zu geben – frei nach dem Motto: je brutaler der Hamas-Terror, desto größer Israels Schuld?

Dieser Fehlschluss ist gerade bei Linken sehr beliebt, weil er eine einfache Lösung suggeriert: Israel beendet die „Besatzung“ und – Schwupp! – der Terror ist vorbei. Mit der Wirklichkeit hat das jedoch nichts zu tun.

Erstens wollen die Islamisten kein Ende der „Besatzung“, sondern das Ende Israels. Zweitens hat Antisemitismus mit jüdischem Verhalten nichts zu tun: Wir müssen uns immer wieder klarmachen, dass es ebenso wie für die Ermordung der sechs Millionen Juden auch für die Ermordung der 1.200 Juden 80 Jahre später nicht die geringste soziale oder sonst wie plausible Ursache gab. Hier war schierer Hass am Werk und mit dem Erlösungsantisemitismus die bösartigste aller Ideologien.

Und dann am 17. Oktober die Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza-Stadt. Wenige Minuten später lief die Propagandamaschine der Hamas heiß: Israels Armee habe das Krankenhaus bombardiert, 500 Menschen seien ums Leben gekommen. Dies lief ohne die Spur eines Beweises über die sozialen Medien, dies griffen auch die professionellen Medien auf, manche mit Vorsicht, andere mit dem kaum versteckten Triumph, Israel ein riesiges Kriegsverbrechen anlasten zu können.

Zwar konnte Israel überzeugend nachweisen, dass erstens nicht das Krankenhaus, sondern ein daneben liegender Parkplatz getroffen wurde, dass zweitens nicht einige Hundert, sondern zwischen zehn und 50 Menschen getötet wurden und dass drittens für die Explosion der Fehlstart einer auf Israel gerichteten Rakete des Islamischen Djihad verantwortlich war. Das aber wollte kaum noch jemand wissen.

Selbst renommierte westliche Medien wie die New York Times oder die BBC machten sich anfangs zu Superspreadern dieser „Israel-ist-schuld“-Lüge, die auch von Charles Michel, dem EU-Ratspräsidenten sowie von Emmanuel Macron, dem französischen Präsidenten, verbreitet wurde.

Arabische Medien wiederum behaupteten, dass Israel das Krankenhaus nicht nur bombardiert, sondern ganz gezielt bombardiert habe. Diese Ente war Wasser auf den Mühlen der Islamisten: Es gab aufgebrachte Anti-Israel-Demonstrationen in Libanon, Jordanien, Libyen, Jemen, Tunesien, Türkei, Marokko, Iran und dem Westjordanland. Die arabischen Staaten sagten ein Gipfeltreffen mit Joe Biden ab. Und von nun an fiel auch bei vielen in Deutschland erneut die Hemmung, ihren Antisemitismus offen auszuleben.

Der Absturz der Rakete des Islamischen Djihad neben einem Krankenhaus in Gaza hat den Islamisten weitaus mehr genutzt, als wenn sie in Israel eingeschlagen wäre. Dieser Unfall wurde zum game-changer, so ein Journalist der BBC. Für die palästinensischen Opfer dieses Absturzes, die eigentlich ein Recht haben, die Wahrheit zu erfahren, hat sich derweil niemand interessiert. Sie waren das Spielmaterial in der Kampagne der Hamas.

Gleichzeitig beweist dieser Vorfall, auf welch riesige Resonanz der israelbezogene Antisemitismus weltweit stößt. Er zeugt von dem tiefen Bedürfnis, allein in Israel wieder und wieder den Schuldigen zu sehen. Er zeigt, dass Gerüchte, denen zufolge Israel Genozid begehe und somit dem 3. Reich gleiche, geradezu gierig aufgesogen werden. Hier haben wir es mit einer Folgewirkung der internationalen BDS-Boykottkampagne gegen Israel zu tun, die der Bundestag völlig zu Recht als antisemitisch eingestuft hat und mit der Folgewirkung eines „Antiimperialismus der dummen Kerls“, der sich Israel als Zentrum und Ursache sämtlicher Ungerechtigkeiten dieser Welt zurechtphantasiert.



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Ich komme zum Schluss:

Israel ist heute Symbol für Anderssein und Differenz. Das Gegenkonzept der Hamas ist die faschistisch durchgesetzte Homogenität. „Israel ist kein besseres Land als andere Länder“ schrieb ich in Djihad und Judenhass, „aber seine Existenz entscheidet über die Zukunft der Welt.“

Deswegen ist es unerträglich, wenn derzeit in Deutschland von einer „Gewaltspirale“ die Rede ist, so als stünde die Gewalt einer Terrorgruppe, die den Tod von Zivilisten aktiv befördert auf einer Stufe mit der Armee eines demokratischen Staates, die alles tut, um Zivilisten zu schonen. Nach Auskunft der Jerusalem Post wurden 1,5 Millionen Flugblätter im Gaza-Streifen abgeworfen, um Zivilisten zu warnen und fast 6 Mio Telefonate geführt.

Und es ist nur scheinbar ehrenvoll, wenn ein Sprecher im Radio mit einem Seitenhieb auf Israel erklärt: „Mein Mitgefühl ist nicht teilbar. Es gilt auch den getöteten Zivilisten im Gazastreifen.“ Denn ein Herz zu haben heißt nicht, seinen Verstand auszuschalten: Von wirklichem Mitgefühl kann keine Rede sein, wenn man sich für die Ursache der Tötung auch nur eines einzigen Zivilisten nicht interessiert – wenn man weder von den menschlichen Schilden noch von sonstigen Kriegsverbrechen der Hamas sprechen will.

Der Verzicht auf Klarheit ist der Beginn von Komplizenschaft. Der israelische Soziologe Natan Sznaider, ein linksliberaler Jude, bemerkte, er könne sein „Mitgefühl momentan nicht gut verteilen.“ Er schrieb: „Wir wachen jeden Morgen am 7. Oktober auf.“ Erst wenn die Geiseln frei seien und die Hamas besiegt, „kann für mich der 8. Oktober anbrechen.“

Es ist jedoch bezeichnend, dass Teile der deutschen und der internationalen Kunstszene nach dem 7. Oktober ihren Aufruf mit dem Satz „Wir unterstützen die palästinensische Befreiung“ beginnen ohne die Hamas zu erwähnen geschweige denn zu kritisieren, um ausgerechnet Israel jene genozidale Intention zu unterstellen, die die Hamas-Kader antreibt. Hier wird nicht nur überdurchschnittliche Empathielosigkeit demonstriert. Hier wird der eliminatorische Terror zu einem Bestandteil der Befreiungsmythologie gemacht.

Und wie soll es weitergehen?

Die G7-Staaten erklärten bei ihrem Gipfeltreffen Anfang November: eine Zweistaatenlösung, bei der beide „Seite an Seite in Frieden, Sicherheit und gegenseitiger Anerkennung leben“ sei „der einzige Weg zu einem gerechten, dauerhaften und sicheren Frieden.“

Dieses Mantra wird seit Jahrzehnten wiederholt ohne zu fragen, warum eigentlich die Araber in Palästina seit 76 Jahren die Anerkennung Israels als einen jüdischen Staat verweigern und warum die palästinensische Führung ihren künftigen Staat judenfrei halten will. Dieses Mantra wird wiederholt ohne die Ergebnisse diverser Umfragen in den Palästinensergebieten zu beachten.

Die letzte dieser Umfragen wurde zwischen dem 31. Oktober und dem 7. November, also während des Krieges, durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass 75% der insgesamt 688 Befragten das Hamas-Massaker unterstützen und nur 13% es ablehnen und dass nur 17% für eine Zwei-Staaten-Lösung votieren.

Auch das macht klar: Solange der Antisemitismus in den Palästinensergebieten nicht radikal und systematisch und über lange Zeiträume hinweg bekämpft wird, kann es keine Zweistaatenlösung geben.

Die Erfahrung mit Nazi-Deutschland hat gezeigt, was nötig ist, um eingefleischte Antisemiten zu besiegen: Eine bedingungslose Kapitulation, gefolgt von einer Jahrzehnte dauernden reeducation.

Dafür kämpft derzeit Israel. Die Holocaust-Überlebenden Fanny Englard, die vor einem Jahr starb, hat über diesen Kampf das Richtige angemerkt:

    „Sag nicht Krieg. Sag Lebenskampf. Es ist ein Unterschied, ob man einen Krieg führt oder ob man um sein Leben kämpft. Wir haben es mit dem Judenhass von Hitlers islamistischen Erben zu tun. Wenn Israel gegen die angeht, die es auslöschen wollen, ist das nicht Krieg, um andere zu töten, sondern ein Kampf um Leben.“

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.




Der Autor

Dr. MATTHIAS KÜNTZEL

Politikwissenschaftler und Historiker. Publiziert hauptsächlich über Antisemitismus im Islam, Islamismus und Nationalsozialismus sowie die deutsche und europäische Nahost- und Iranpolitik. 2011 ehrte die amerikanische Anti-Defamation League (ADL) sein Engagement gegen den Antisemitismus mit dem „Paul Ehrlich – Günther Schwerin Menschenrechtspreis“. 2022 zeichnete ihn die Deutsch-Israelische Gesellschaft in Hannover mit dem „Theodor-Lessing-Preis für aufklärerisches Denken und Handeln“ aus. Er ist Mitglied der “Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik”, des “Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands” und der Association for the Study of the Middle East and Africa (ASMEA).

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