ONLINE-EXTRA Nr. 356
Zum Ende des Monats noch einmal drei Texte, die anlässlich des ersten Jahrestags des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 enstanden. Sie beleuchten auf je eigene Weise und mit unterschiedlicher Perspektive die Folgen und Entwicklungen in unterschiedlichen Kontexten im Jahre Eins nach dem Massaker.
ONLINE-EXTRA Nr. 354
Kardinal Pierbattista Pizzaballa OFM, Lateinischer Patriarch von Jerusalem, zeichnete als Gast der Herbst-Vollversammlung 2024 der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda ein äußerst eindringliches und nachdenkliches Bild von der Lage in Jerusalem und Israel im Jahr eins nach dem Hamas-Massaker und in Zeiten des Gaza-Krieges. Menschen aller Volks- und Religionsgruppen seien in den Bann einer umfassenden und nachhaltigen Traumatisierung geraten. Zudem beklagt er die extremen Polarisierungen infolge der Gewalterfahrungen auf beiden Seiten. Die trotz aller Spannungen eingeübte alltagsweltliche Kooperation zwischen Palästinensern und Israelis sei fast durchgängig kollabiert, der über Jahre hinweg mühsam angebahnte Dialog zwischen Juden, Muslimen und Christen gänzlich zum Erliegen gekommen. Und bei alledem stelle sich der christlichen Minderheit das besondere Problem, dass ihre Angehörigen auf beiden Seiten des politischen Konflikts zu finden seien. Sein Statement erschein zuerst im Rahmen der Presseerklärung der Deutschen Bischofskonferenz bei Abschluss ihrer Vollversammlung am 26. Septemter 2024: "Die aktuelle Lage im Heiligen Land".
ONLINE-EXTRA Nr. 355
Susannah Heschel, einer der bedeutendsten Judaistinnen weltweit, ordnet im Gespräch mit dem Schweizer Theologen und Judaisten Martin Steiner die aktuelle Situation ein im Blick auf die Universitäten und den jüdisch-christlichen Dialog in der jüdischen Diaspora, im Staat Israel, im deutschsprachigen Raum und in den USA. Dieses Gespräch erschien zuerst am 7. Oktober 2024 auf dem empfehlenswerten theologischen Feuilleton-Portal FEINSCHWARZ und wird hier dankenswerter Weise mit Genehmigung aller Beteiligten wiedergegeben: "7. Oktober 2023 - Ein Jahr danach".
ONLINE-EXTRA Nr. 356
Und schließlich ein Essay des Schriftstellers Ferdinand von Schirach, der am 22. Oktober 2024 in der WELT erschien. Er widmet sich der Frage, wie es sein kann, dass das Hamas-Massaker, obwohl in über 60.000 Videos dokumentiert, trotzdem bei vielen Menschen aufgrund von Falschinformationen aus den sozialen Medien keinen Glauben findet. In bestürzender Weise erinnert ihn dies an George Orwells "1984", das in den sozialen Medien eine erschreckende Realitiät gefunden habe. Auf ausdrücklichen Wunsch des Autors darf dieser Text unentgeltlich nachgedruckt werden: "Wahrheit und Wirklichkeit".
Online-Extra Nr. 356
Die Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 in Israel sind in über 60.000 Videos dokumentiert. Trotzdem schenken viele Menschen Falschinformationen aus den sozialen Medien Glauben. Wie kann das sein?
Am 7. Oktober 2023 zerstören Hamas-Terroristen den Grenzzaun zu Israel. Rund 3000 Kämpfer dringen über den Land-, See- und Luftweg in das Land ein. Die Terroristen schießen wahllos auf Passanten, sie plündern, morden und vergewaltigen in 22 Ortschaften an der Grenze.
Bei Re’im findet gerade ein Musikfestival statt. Die Terroristen stürmen das Gelände und feuern in die Menge. Sie ermorden 364 Festivalbesucher, viele wurden zuvor noch gefoltert und vergewaltigt.
Die „New York Times“ recherchierte sehr umfangreich über die sexuelle Gewalt gegen Frauen. Danach berichten Zeugen von Frauen- und Mädchenleichen mit gespreizten Beinen, abgerissener Kleidung und deutlichen Anzeichen von Missbrauch im Genitalbereich. Videos zeigen zwei tote israelische Soldatinnen, denen offenbar direkt in die Vagina geschossen wurde. Auf einem Foto ist eine Frauenleiche zu sehen, der Nägel in die Oberschenkel und die Leistengegend gehämmert wurden. Eine Festivalbesucherin sagt aus, sie habe sich während des Massakers unter einem Baum versteckt und mit Gras bedeckt, weil ihr in den Rücken geschossen wurde. Sie habe gesehen, wie einer Frau die Hose bis zum Knie heruntergezogen worden sei. Ein Mann habe hinter ihr gestanden und sie vergewaltigt. Jedes Mal, wenn sie zurückgewichen sei, habe er ihr mit einem Messer in den Rücken gestochen. Eine andere Frau, so die Zeugin, sei von einem Terroristen vergewaltigt worden, während ein weiterer Mann mit einem Cuttermesser ihre Brüste abgeschnitten habe. In Be’eri und Kfar Aza wurden in sechs Häusern Leichen von Frauen und Mädchen gefunden. Sie waren nackt, verstümmelt und gefesselt.
An diesem Tag werden 1139 Menschen ermordet. Darunter sind 695 Zivilisten, einschließlich 36 Jugendliche und Kinder. Ein Ersthelfer sagt vor der Knesset aus, er habe abgetrennte Schädel von drei Kindern gesehen.
Vor 75 Jahren erschien George Orwells Roman „1984“. Heute denken die meisten Menschen bei dem Titel an den Überwachungsstaat, an „Big Brother is watching you“, „Der Große Bruder sieht dich“. Aber eine andere Idee des Romans reicht weiter.
In dem Roman verändert das „Wahrheitsministerium“ die Sprache der Menschen und damit die Wahrheit. Dieses Ministerium „war ein riesiger pyramidenartiger, weiß schimmernder Betonbau, der sich terrassenförmig dreihundert Meter hoch in die Luft reckte. Von der Stelle, wo Winston stand, konnte man gerade noch die in schönen Lettern in seine weiße Front gemeißelten drei Wahlsprüche der Partei entziffern: ,Krieg bedeutet Frieden / Freiheit ist Sklaverei / Unwissenheit ist Stärke‘.“
Das Gegenteil der Wahrheit wird geglaubt, wenn sie nur oft genug behauptet wird. Vergangenheit lässt sich verändern, Tatsachen gelten nichts. George Orwell hatte recht. Am Anfang waren es nur alberne Verschwörungstheorien: Die Mondlandung sei von Stanley Kubrick im Auftrag der US-Regierung inszeniert worden. Die Welt würde von Reptiloiden regiert, die sich als Menschen tarnen, wie zum Beispiel Barack Obama, die Queen oder Angela Merkel. Die Erde sei eine Scheibe. Paul McCartney sei schon lange tot, Walt Disney nur eingefroren, und Elvis lebe noch. Dann wurde es ernster. Die Terroranschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York seien von der US-Regierung selbst durchgeführt worden. Der Bevölkerung wären über den Corona-Impfstoff heimlich Mikrochips implantiert worden. Globale Eliten würden Zuwanderungsströme steuern. Putin erklärt, die Ukraine sei ein von Nazis unterwanderter Staat, der Genozid an der eigenen Bevölkerung verüben wolle. Und Donald Trump verkündet noch immer, er habe die Wahl gewonnen.
Opfer werden zu Tätern, Täter zu Opfern
Die sozialen Medien sind weitaus mächtiger, als es ein „Wahrheitsministerium“ je sein könnte. Mit einem Tastenklick werden dort Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern gemacht. Wahrheit ist heute nur noch eine Meinung – und man darf ja wohl auch anderer Meinung sein. Die Wirklichkeit scheint nicht mehr zu existieren, selbst bei den schrecklichsten Verbrechen.
Zu den Massakern am 7. Oktober 2023 in Israel gibt es über 1500 Zeugenaussagen, über 60.000 Videos – unter anderem aus den beschlagnahmten Körperkameras der Terroristen – und zahllose Fotos der Morde, Folterungen und Vergewaltigungen. Trotzdem glauben über 90 Prozent der Palästinenser im Gazastreifen und Westjordanland, die Hamas habe in Israel keine Gräueltaten verübt. Twitter, TikTok und Telegram werden mit Terrorpropaganda, Falschinformationen und Antisemitismus überschwemmt. Und das funktioniert: Auf der Sonnenallee in Berlin feiert am Abend des 7. Oktober das palästinensische Netzwerk Samidoun den Angriff der Hamas. Süßgebäck wird dabei an Passanten verschenkt. In London, Stockholm, Barcelona, Washington, New York, Chicago, Sydney und anderen Städten jubeln Menschen über den Terroranschlag auf Israel. Schon zwei Wochen nach den Morden gehen in London 100.000 Demonstranten für die Palästinenser auf die Straße. Die Terroristen nahmen am 7. Oktober 2023 in Israel 251 Geiseln. An dem Tag, an dem ich diesen Text schreibe, sind nach Zählung der Zeitung „Haaretz“ noch immer 66 Menschen in der Gewalt der Hamas, 35 Entführte wurden bereits für tot erklärt. Die jüngste Geisel ist ein Baby. Der Junge war achteinhalb Monate alt, als er entführt wurde.
In Orwells „1984“ heißt es: „Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen sie sich einen Stiefel vor, der ein menschliches Gesicht zertrampelt – unaufhörlich.“
Diese Stiefel sind heute die sozialen Medien.
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Der Autor
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Ferdinand von Schirach wurde 1964 in München geboren. Er ist Sohn des Münchner Druckereikaufmanns Robert von Schirach (1938–1980) und Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach und dessen Ehefrau Henriette sowie Neffe des Sinologen Richard von Schirach. Sein Urgroßvater war der Hitler-Fotograf Heinrich Hoffmann. Schirach absolvierte ein Jurastudium in Bonn und machte sein Referendariat in Aachen und Berlin. Er ließ sich 1994 in Berlin als Rechtsanwalt nieder, spezialisiert auf Strafrecht. Im Jahre 2009, mit 45 Jahren, veröffentlichte er seine ersten Kurzgeschichten. Es folgten Theaterstücke und Drehbücher. Seine Bücher erscheinen in mehr als 40 Ländern. Die Gesamtauflage bis 2022 lag bei zehn Millionen verkauften Büchern. Heute ist von Schirach ein vielfach ausgezeichneter Bestsellerautor und gilt als einer der außergewöhnlichsten Stilisten.
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