ONLINE-EXTRA Nr. 21
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Online-Extra Nr. 21
Vor einiger Zeit erschien in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung ein Bildwitz mit Sprechblase, der unverblümt zeigt, wo viele Jüdinnen heute stehen: Eine selbstbewusste junge Frau kritisiert den Rabbiner: Als Frau fände ich es besser, wenn Sie in ihren Predigten nicht immer nur die Talmudisten zitieren würden. Es gab doch bestimmt auch Talmudistinnen! Der jungenhafte Rabbi gerät ins Schwitzen und verzieht sprachlos den Mund. Ich lache über den Witz – und dann wird mir flau, denn die Frau hat recht – und sie irrt. Im Talmud gibt es, neben mehr als 2000 erwähnten Männernamen, nur eine einzige Frau, die als Gesetzeslehrerin zitiert wird: Beruria. Zwar haben Frauen indirekt durch ihre Väter, Männer und Söhne Einfluss auf halachische (juristische) Entscheidungsprozesse und damit auf die Entwicklung jüdischer Tradition gehabt, ihre Namen sind jedoch nur selten überliefert.
Judentum betont nun aber gerade die Wichtigkeit von Erinnerung. Erinnerung an die eigene Geschichte und damit eng verbunden an das konkrete Leben und Wirken unserer Vorfahren. Der hebräische Terminus für diese Wertvorstellung ist Sechut Awot, wörtlich „Verdienst der Väter [Männer]“, wobei Mütter [Frauen] mitgedacht sein sollen, - aber eben nur mitgedacht. Sie stehen in der zweiten Reihe, im Verborgenen. Feministische Jüdinnen wollen ihren Einfluss sichtbar machen. In unserem Ringen um Selbstverortung und eigenes Bewusstsein durchforsten wir unsere Tradition nach Anknüpfungspunkten – nach weiblichen Vorbildern –die uns eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft bauen. Methodisch wählen wir dabei häufig den Weg der (Re-)Konstruktion jüdischer Frauengeschichte und stoßen damit auf das Problem, dass uns rabbinisches Schrifttum Beschreibungen über Frauen aus männlicher Sicht liefert. Mit diesen Beschreibungen versuchen wir umzugehen, uns in ihnen verstehend wiederzufinden – uns gleichsam mit unserer Überlieferung zu versöhnen (vgl. Herweg 1994; 1998).
Dazu ein konkretes Beispiel: Ich war eingeladen, einen Vortrag zum Thema Beruria: Ich lass nicht mit mir scherzen – Frauen im Talmud zu halten. Die an mich gestellten Erwartungen lagen klar auf der Hand: Es sollte um jene Beruria gehen, die ich gerade als einzige anerkannte weibliche Autorität ihrer Zeit erwähnt habe – und diese Beruria, respektive die ihr unterstellte Haltung Ich lass nicht mit mir scherzen, sollte beispielhaft für Frauen im Talmud stehen. Ich hatte sofort eine Erinnerung und dann ein Gefühl zu dem Thema. Die Erinnerung war froh und heiter, das Gefühl – wie beim eingangs zitierten Witz – flau; es blieb ein schaler Nachgeschmack. Meine Erinnerung bezog sich auf ein Talmudseminar bei Alexander Guttmann s.A., das ich als junge Studentin 1981/82 belegt hatte. Ich fühle noch genau, welchen Stolz ich empfand, als ich von Beruria erfuhr. Es gab im Talmud tatsächlich eine Frau, die verbindliche Rechtsentscheidungen getroffen hat. Frauen können und dürfen das also auch! – Zwei Jahre später wurde Daniela Thau als erste deutsche Jüdin nach der Schoa am Londoner Leo Baeck-College zur Rabbinerin ordiniert. Mein Selbstwertgefühl als jüdische Frau wuchs.
Nun zurück zu Guttmann. Er erläuterte uns damals eine exegetische Regel, die auf Beruria zurückgeht und brachte Beispiele ihrer Schriftdeutungen. Dann stellte er uns eine Aufgabe, die ich wörtlich notiert habe: Ich erzähl euch eine Begebenheit und ihr sollt sie beurteilen: Beruria wettet mit ihrem Mann, dem bedeutenden Rabbi Meir, dass die Frau die Verführerin ist. Rabbi Meir setzt einen Jeschiwe Bocher [Talmudschüler] auf sie an und es entwickelt sich eine Beziehung. Der Rabbi überführt seine Frau. Beruria schämt sich zutiefst und nimmt sich das Leben. Hat sie den Tod verdient? Sie hatte noch keinen Ehebruch begangen. Wo bleibt die Gerechtigkeit Gottes?“ – Alexander Guttmann fragte uns das ganz ernsthaft, und wir fühlten uns herausgefordert, halachisch zu argumentieren. Ich erinnere mich noch gut an meine innere Empörung über das Ende Berurias und dann an sein breites, siegesgewisses Grinsen: Die Geschichte ist nicht wahr! Wir atmeten erleichtert auf, lachten. – Diese Erinnerung verknüpfte sich für mich mit den Worten Ich laß nicht mit mir scherzen. Da gab es einen Witz auf Berurias Kosten – und wie ich später lernte, mehr als einen Witz: Eine Überlieferung, die bis heute nach Raschi, dem großen Bibel- und Talmudkommentator des 11. Jahrhunderts als wahre Begebenheit zitiert wird. Raschi hatte die Geschichte seinerzeit zu einer Talmudstelle (AZ 18b) erfunden, um Rabbi Meirs Flucht nach Babylonien zu deuten. Ich lass nicht mit mir scherzen sind Worte, die Jüdinnen heute Beruria in den Mund legen. Ich spüre in ihnen ein Aufbäumen, ein So nicht!, Nicht mit mir! – Frauenkampf, Nehmt uns endlich ernst!
Nehmen wir Frauen uns ernst? Wir suchen – gut jüdisch sozialisiert, nämlich gebunden an den Imperativ Erinnere Dich (vgl. Yerushalmi 1988) – beziehe Dich auf die Taten, das Wirken Deiner Vorfrauen, nach historischen Vorbildern für eigene Lebensentwürfe. Wir segnen unsere Töchter mit den Worten, sie mögen werden wie unsere Stammmütter Sara, Rebekka, Rachel und Lea. Was haben wir über diese Frauen gelernt und was sehen wir in ihnen? Wo machen wir uns passend für eine Tradition, in der über Jahrhunderte hinweg Männer die Rolle der Frau und ihren Wirkungsrahmen definiert haben? (vgl. Cantor 1995) Nehmen wir uns und unsere Bedürfnisse als Ausgangspunkt für unser Jüdischsein, oder arbeiten wir uns an männlichen Vorgaben ab? Wo projizieren wir unsere Wünsche auf vermeintliche Vorbilder, statt sie selbst zu realisieren? Muss etwas bereits (vor-)gelebt worden sein, damit wir es leben dürfen... Nein!
Die Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und Tradition ist wichtig. Es ist wichtig, Erklärungen für das Gewordene zu finden. Die stete Suche nach einer für uns brauchbaren Vergangenheit birgt jedoch die Gefahr in sich, diese zu verklären und uns selbst daran zu hindern, Neues zu wagen. Tradition ist veränderbar, und sie hat sich bis heute kontinuierlich neuen Gegebenheiten angepasst. Das bedingt, dass wir bereit sind, unseren inneren Stimmen zu vertrauen und uns von unbrauchbaren Teilen unserer Vergangenheit und damit auch von den Formen jüdischen Praktizierens, mit denen wir uns nicht identifizieren können, zu lösen.
Ausgangspunkt der (persönlichen) Suche moderner jüdischer Frauen, seien sie religiös oder säkular, nach einem zeitgemäßen jüdischen Selbstverständnis ist stets ein ideal gesetztes traditionelles auch orthodoxes oder praktizierendes Judentum. Dieses Judentum entwickelte zwei nach Geschlecht getrennte arbeits- und aufgabenteilige Lebenswelten: das Lehrhaus als Domäne der Männer und das jüdische Haus als Wirkungsort der Frauen. Die zunehmende Polarisation von Männer- und Frauenwelt sicherte die Vormachtstellung der Männer, indem deren selbsterklärter Aufgabenbereich das Studium und schriftliche Tradieren von Halacha war (ist). So „befreiten“ männliche Gelehrte Frauen von der religiösen Pflicht, zeitgebundene positive Gebote zu befolgen. Später diente ihnen diese Befreiung dazu, Frauen von der aktiven Teilnahme am Gottesdienst auszuschließen und sie der Verpflichtung zum Torastudium zu entheben. Dennoch beteten, lasen und lernten jüdische Frauen zu allen Zeiten. Nur dokumentierten sie ihr Wirken kaum schriftlich, sondern gaben Tradition mündlich und durch ihr konkretes Handeln weiter.
Mit Beginn der Haskala (jüdische Aufklärung) lösten sich die traditionellen Rollen zunehmend auf. Innerhalb der Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland entstandenen jüdischen Reformbewegung wurden erstmals Vorschläge zur Emanzipation der jüdischen Frau formuliert und in der Breslauer Rabbinerkonferenz von 1846 beschlossen. Sie beinhalteten u.a., dass Frauen alle religiösen Gebote zu beachten haben, auch Mädchen zum Lernen von Tora und Talmud verpflichtet sind und dass eine Frau nicht vom Vater oder Ehemann von ihren Gelübden losgesprochen werden darf. Der tägliche Segensspruch für Männer dass Du mich nicht als Frau geschaffen hast wurde aus dem Morgengebet gestrichen. Der Umbruch war offensichtlich, als Regina Jonas 1935 als weltweit erste Frau in Deutschland die Ordination zur Rabbinerin erhielt (vgl. Klapheck 1999).
Regina Jonas wurde in Auschwitz ermordet – und danach vergessen. Als erste Frau im Rabbinat wurde die 1972 in Cincinatti ordinierte Sally Priesans genannt (so auch in der renommierten 16-bändigen Encyclopaedia Judaica). Die Londonder Rabbinerin Sybille Sheridan ist diesem Vergessen nachgegangen und zu dem Schluss gelangt, dass unsere Gleichgültigkeit [als Rabbinatsstudentinnen] in den siebziger Jahren damit zu tun hatte, dass wir wie Männer sein wollten. Als wir um Anerkennung in der jüdischen Welt rangen, glaubten wir, wenn wir das Erbe einer anderen Frau annahmen – einer Frau, die nicht allgemein als Rabbinerin anerkannt wurde –, dass wir damit nur marginalisiert würden, und sich so unser Unterschied zu unseren männlichen Kollegen nur noch mehr verstärken würde.
Sheridan traf diese Feststellung im Mai 1999 bei Bet Debora, der ersten Tagung europäischer Rabbinerinnen, Kantorinnen, rabbinisch gelehrter und interessierter Jüdinnen und Juden in Berlin (Bet Debora 2000, S. 7). Bet Debora (wörtl. Haus Deboras) wurde von Elisa Klapheck, Lara Dämmig und mir ins Leben gerufen, weil wir es leid waren, als in Deutschland lebende feministische Jüdinnen immer wieder zu hören, dass wir unsere Tradition verloren hätten und deshalb kein authentisches jüdisches Leben führen könnten. Wir sahen und sehen das völlig anders: Seit Jahren entstehen neben und innerhalb Jüdischer Gemeinden in- und außerhalb Deutschlands Gruppen, die wesentlich von Frauen initiiert und gestaltet werden – Lern- und Betzusammenhänge, Treffpunkte religiösen und kulturellen Austauschs, wo eine Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Traditionen und den eigenen spirituellen Bedürfnissen stattfindet.
Dazu ein kurzer Blick in die Geschichte: Während das Reformjudentum in Deutschland durch den Nationalsozialismus vollständig ausgelöscht wurde, gelangte es in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts zu immer größerer Blüte. Jüdische Frauen in den USA haben sich aktiv mit ihrem Erbe auseinandergesetzt, eine jüdisch-feministische Geschichtsschreibung etabliert und neue Initiativen und Liturgien entwickelt. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen sie massiv und öffentlich für ihre gleichen Rechte innerhalb der Jüdischen Gemeinschaft zu kämpfen. Sie forderten die Veränderung oder Neuschreibung von Halacha, indem sie halachische Entscheidungen historisch rekonstruierten, als falsch oder einseitig entlarvten und neue Interpretationen hinzufügten. Damit vollzogen sie den Eintritt in die schriftliche Tradierung jüdischen Wissens und damit in den direkten halachischen Entscheidungsprozess, der bis dahin weitestgehend Männern vorbehalten war.
Auf diese erste bedeutende Phase des jüdischen Feminismus folgte seit Mitte der 70er Jahre eine stark in die Praxis wirkende Auseinandersetzung mit dem traditionellen Verständnis der Geschlechterrollen. Jüdische Feministinnen untersuchten die Funktion männlicher Ausdrucksformen und Sprache, erforschten weibliche (Gottes)Bilder in verschiedenen Richtungen des Judentums und rangen mit der Schaffung neuer Gebete und Rituale. Sie setzten sich auseinander mit dem Mythos der jüdischen Familie und der Mutter in ihr und kreierten neue Vorbilder, wie das der Gelehrten und Rabbinerin (vgl. Heschel 1983 und neuerdings für den deutschsprachigen Raum Wallach-Faller 2000).
Seit 1994 besteht in der Bundesrepublik Deutschland eine jüdische feministisch-liturgische Bewegung (vgl. Keval 1994), die im amerikanischen jüdischen Feminismus wurzelt, und deren Anhängerinnen v.a. sieben Forderungen aufgestellt haben: Die gleichberechtigte Teilnahme von Frauen beim öffentlichen Gebet und bei der Ausübung religiöser Pflichten, das gleichberechtigte Lernen von Tora und Talmud, die Übernahme religiöser Leitungsfunktionen als Rabbinerinnen, Kantorinnen oder Synagogenvorsteherinnen, eine fraueninklusive Gebetssprache, die Entwicklung neuer weiblicher Rituale und Liturgien, wie der Bat Mizwa (Religionsmündigkeit) für Mädchen oder Rosch Chodesch (Neumond) Feiern, die Zulassung von Frauen als Zeuginnen vor einem jüdischen Gericht sowie das Recht, den Get (Scheidebrief) zu schreiben. Seit 1995 ist in Oldenburg und Braunschweig eine Rabbinerin tätig, seit Ende der 90er Jahre amtieren in der Jüdischen Gemeinde Berlin zwei Kantorinnen.
Diese Entwicklung wollte Bet Debora im Rahmen einer Frauenkonferenz sichtbar machen, zum Erfahrungsaustausch einladen und zu Netzwerkbildung anregen. Zur ersten Tagung kamen 200 Teilnehmerinnen (unter ihnen auch wenige Männer) aus drei Generationen, 16 Ländern und unterschiedlichen religiösen Richtungen. Alle Vorträge und Workshops wurden von Frauen gehalten; Rabbinerinnen und Kantorinnen gestalteten vier Gottesdienste und ein Abschlusskonzert. Die gemeinsamen Gottesdienste waren für viele eine neue Erfahrung: Ein eigener Geist, eine besondere Atmosphäre hätten dort geherrscht, Gefühle von Heimat und Aufgehobensein, von Nähe und Verbundenheit seien spürbar gewesen. Manche fühlten sich innerlich aufgelöst, andere euphorisch, einige haben geweint, andere sich spontan umarmt und miteinander getanzt. Wieder andere waren verwirrt, und es gab auch Beterinnen, die sich unbehaglich, am falschen Platz, in ihren religiösen Bedürfnissen missachtet und ausgegrenzt gefühlt haben (Bet Debora 2000, S. 21-31).
Eine Teilnehmerin hat uns dazu geschrieben, dass sie neugierig war, Frauen zu begegnen, für die eine aktive, sichtbare und hörbare Teilnahme am Gottesdienst selbstverständlich ist. Als zutiefst ergreifend empfand sie den Moment, als die Ehrengäste, drei Jüdinnen, die vor der Schoa in Berlin gelebt und zum Teil an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums studiert hatten, zur Tora aufgerufen wurden: Ich sah in ihnen meine eigenen Ahnmütter verwirklichen, was ich meiner jüngsten Tochter bei ihrer Bat Mitzwa mitgegeben habe: „Ergreife auch Du die Tora.“...
Für viele Jüdinnen ist es ein absolutes Tabu, die Torarolle zu berühren, direkt aus ihr zu lesen oder zu ihrer Lesung aufgerufen zu werden. Das ist Männersache. Bis heute wirkt eine lang tradierte, zutiefst frauen- und körperfeindliche Vorstellung nach, dass nämlich Frauen die Tora verunreinigen könnten: Frauen gelten nach der Halacha während und einige Tage nach ihrer Menstruation als Nidda (Abgesonderte). Ursprünglich soll diese Absonderung keine Wertung beinhaltet haben, sondern lediglich einen anderen körperlichen Zustand bezeichnen, in dem Frau sehr bei sich ist und sich gleichsam – dem Mondzyklus folgend – erneuert, zu neuer Kraft findet. Gerade die Niddagebote könnten damit einen Raum für weibliche körperlich-seelische Selbsterfahrung eröffnen. Sie dienten jedoch zum Ausschluss von Frauen und haben tragischerweise bewirkt, dass sie sich/wir uns selbst oft für unrein – minderwertig – schmutzig halten. Dieses fremdbestimmte Gefühl haben viele von uns so sehr verinnerlicht, dass wir es buchstäblich nicht ertragen können, selbst die Tora zu ergreifen, oder andere Frauen mit ihr umgehen zu sehen. – Argumentiert wird hier mit Respektlosigkeit gegenüber der Tradition!
Während Bet Debora wurde die Torarolle liegend wie ein Säugling von Frau zu Frau weitergereicht – eine Bewegung von schlafwandlerischer Sicherheit und großer Behutsamkeit. Wer darin einen respektlosen Umgang mit der Tora sehen wollte, muss blind für Körpersprache sein. Hier wurde das symbolische Ergreifen der Tora in einer weiblichen Ausdrucksform in Handlung umgesetzt, getragen von Achtung und Verantwortung für das Anvertraute. Ich hatte dann auch den Mut, die Torarolle entgegen zu nehmen und sie meiner Freundin in den Arm zu legen (Gloria Kraft-Sullivan ebd., S. 62).
Mut gehört dazu, Neues auszuprobieren. Dort, wo wir uns als nicht echt und unserer Tradition entfremdet fühlen – vielleicht in dem Moment, wenn unsere Tochter oder Schülerin zu ihrer Bat Mitzwa (wie vor ihr ein Junge zu seiner Bar Mitzwa) öffentlich aus der Torarolle vorlesen möchte und wir ihr sagen: Das darfst Du aber nicht! –, diesem Gefühl nachzugehen und eine Veränderung des Gewohnten herbeizuführen.
Mut allein reicht jedoch nicht. Wir brauchen das generationenübergreifende offen-tabulose Gespräch unter Frauen, gemeinsames Lernen und Praktizieren, wie es für mich beispielhaft in einem neuen Bat Mitzwa-Ritual zum Ausdruck kommt: Frauen – (Ur-)Großmütter, Tanten, die Mutter, Schwestern, Freundinnen – versammeln sich um das Bat-Mitzwa-Mädchen, das einen eigenen, noch nicht ganz fertiggestellten Tallit (Gebetsschal) trägt: Die Knoten, die für die Gebote des Judentums stehen, müssen noch in die Schaufäden an seinen Enden eingebunden werden. Jede anwesende Frau erzählt/ überliefert dem Mädchen eine ganz persönliche Geschichte, eine wichtige Erfahrung aus ihrem Leben als Jüdin – etwas aus ihrer Tradition. Dabei kann es sich auch um einen Bibel- oder Gebetstext, einen Midrasch (Auslegung) oder ein Lied handeln. Wichtig ist der persönliche Bezug, das, was nicht in Vergessenheit geraten soll. Jede Frau spricht die Bat-Mitzwa direkt an, setzt sich neben sie, während die anderen in einem äußeren Kreis bleiben, und fügt während ihres Erzählens einen weiteren Knoten in die Schaufäden ein. Jeder einzelne Knoten steht so symbolisch für eine Überlieferung – Tradition, für das, was die Bat-Mitzwa vorfindet und worauf sie aufbaut, von wo aus sie selbstverantwortlich weitergestalten kann. – Wir erlauben ihr weiterzugestalten: Nimm unsere Erfahrungen als Ausgangspunkt für Dein Leben und gehe Deinen persönlichen Weg weiter!“
Wir brauchen Frauenräume – nicht, um Männer auszugrenzen, sondern um uns zu finden. Bei unserer individuellen Selbstwerdung, die ein niemals abgeschlossener Prozess ist, müssen wir schmerzvoll ertragen, dass Frau nicht gleich Frau ist, dass wir in unseren Bedürfnissen und Verankerungen in den verschiedenen Strömungen des Judentums sehr unterschiedlich sind. – Dass oft keine Brücken zueinander gebaut werden können, dass es eben nicht die eine „glatte“, von allen getragene Tradition gibt und geben kann, sondern viele Zweige. Und dass gerade das jüdische Tradition ausmacht!
In diesem Sinne setzt sich der Verein Bet Debora v.a. ein für die Förderung eines jüdisch-feministischen Bewusstseins und jüdischer Frauenbildung und -forschung auf europäischer Ebene, für die Integration von Erfahrungen jüdischer Frauen aus West- und Osteuropa in die jüdische Tradition sowie des jüdisch-feministischen Diskurses in die Gesamtgesellschaft. 2001 hat Bet Debora zum zweiten Mal europäische Rabbinerinnen, Kantorinnen, jüdische Aktivistinnen und Gelehrte nach Berlin eingeladen, um über aktuelle Themen zu beraten. Als besondere Problemfelder wurden hierbei u.a. thematisiert: Die Wiederbegründung des Jüdischen Frauenbundes nach der Schoa, Frauen im Rabbinat, neue Liturgien für den Lebenszyklus der Frau, lesbische und schwule jüdische Hochzeiten, der weibliche Körper in der jüdischen Tradition und Moderne, die religiöse Konstruktion von Geschlecht und Transgender, der Zwang, Mutter zu werden, das jüdische Selbst im Spannungsfeld zwischen Ich- und Wir-Identität, jüdische Außenseiter/innen, konfessionell gemischte Paare, Kinder jüdischer Väter (die halachisch nicht als Jüdinnen und Juden gelten) und Mamserim (Kinder aus verbotenen Beziehungen) (vgl. Bet Debora 2001). – Im Frühjahr 2003 ist die nächste Bet Debora-Konferenz zum Thema Macht geplant.
Jüdische Feministinnen in der Gegenwart benennen Regeln der gleichberechtigten Partizipation in allen Lebens- und Wirkungsbereichen von Frauen und Männern. Sie stellen die Frage nach Autorität und Demokratie und schaffen alternative Institutionen. Sie haben damit die vorausgegangene Rechtfertigungsposition der gleichen Teilhabe jüdischer Frauen an männlichen Privilegien überwunden.
LITERATUR
(Journal) Bet Debora Berlin 2000. Hg. von Lara Dämmig, Rachel Monika Herweg, Elisa Klapheck. Edition Granat.
Bet Debora 2001: Die Jüdische Familie – Mythos und Realität (= Journal 2). Hg. von Bet Debora e.V., Lara Dämmig, Elisa Klapheck. Edition Granat (Greifswalder Str. 4, D-10405 Berlin; www.bet-debora.de).
Cantor, Aviva 1995: Jewish Women / Jewish Men. The Legacy of Patriarchy in Jewish Life. San Francisco: Harper.
Herweg, Rachel Monika 1994: Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Herweg, Rachel Monika 1998: Oedipus Wrecks auf den Index?! Über das Leiden an der Jiddischen Mamme. In: Perko, Gudrun (Hg.): Mutterwitz. Bedeutungen und imaginäre Wirkungskraft der Mutter. Wien: Milena Verlag 1998, S. 52-76.
Heschel, Susannah (Ed.) 1983: On Being a Jewish Feminist. A Reader. New York: Schocken.
Keval, Susanna 1994: Kehila Chadaschah. Eine neue Gemeinschaft in Frankfurt. In: Frankfurter Jüdische Nachrichten, Rosch Haschana-Ausgabe 1994, S. 21f.
Klapheck, Elisa 1999: Fräulein Rabbiner Jonas. Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden? Eine Streitschrift von Regina Jonas, ed., kommentiert, eingel. von Elisa Klapheck. Teetz: Hentrich & Hentrich.
Wallach-Faller, Marianne 2000: Die Frau im Tallit. Judentum feministisch gelesen. Hg. von Doris Brodbeck und Yvonne Domhardt. Zürich: Chronos.
Yerushalmi, Yosef Hayim 1988: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin: Klaus Wagenbach.
Die Autorin
Dr., Judaistin, Pädagogin, systemische Familientherapeutin und Supervisorin, Berlin, Mitbegründerin der jüdisch-feministischen Fraueninitiative Bet Debora, Vorstandsmitglied der Interreligiösen Konferenz Europäischer Theologinnen (IKETH), Forschungen u. a. zur Rolle der Frau im Judentum und zum jüdisch-christlichen Dialog.
Rachel Herweg steht auf Anfrage auch für Vorträge und Seminare zur Verfügung.
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