ONLINE-EXTRA NR. 15
Ich beginne mit einem Zitat des bedeutenden schwedisch-amerikanischen Theologen Krister Stendahl, dem ich die ersten wichtigen Anstöße für meine Beschäftigung mit dem christlichen Verhältnis zum Judentum verdanke: Am Anfang lief etwas falsch. Ich sage „lief falsch“, weil ich nicht überzeugt bin, daß das, was mit der Trennung der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum geschah, der gute und ausdrückliche Wille Gottes war. Könnte es nicht sein, daß wir zu der Einsicht kommen, daß wir nicht nach dem Willen Gottes, sondern gegen ihn auseinandergegangen sind? Ich weiß, das ist eine befremdliche Weise zu reden. Ich weiß, daß es als historischer Romantizismus abgestempelt werden könnte, als ein Versuch, die Uhr zurückzudrehen. Aber warum soll man es nennen „die Uhr zurückdrehen“? Warum kann man nicht statt dessen sagen, daß die Zeit für uns gekommen ist, die Alternativen zu finden, die damals verlorengegangen sind, Alternativen, die der theologische Ausdruck unserer Reue sind und unserer Einsichten, die sich uns heute aufdrängen. [1] Für die Älteren unter uns waren Judentum und Christentum zwei grundsätzlich unvereinbare Größen; dies gilt gewiß auch heute noch in weiten Teilen unserer Kirche und Theologie. Wir wollen das aber jetzt hinter uns lassen und das Thema neu buchstabieren. Ich möchte Sie einladen zu einer neuen Denkbewegung. Erinnern wir uns noch einmal an Stendahl: "Am Anfang lief etwas falsch." Das ist ein entscheidendes Signal: Wir müssen am Anfang anfangen. Das heißt also: nicht in der Gegenwart, nicht bei dem heutigen Selbstverständnis der Kirche und des Christentums, sondern dort, wo das Christentum seinen Anfang nahm. Dies wäre der erste Schritt in unserer neuen Denkbewegung: weg von unserem eigenen gegenwärtigen Selbstverständnis. Das ist ein großer Schritt. Lassen Sie uns einen Augenblick darüber nachdenken, was wir bisher getan haben – wenn wir denn etwas getan haben. Wir haben gefragt, wie wir Christen – als Durch Jahrhunderte wurde das Wort „neu“ in der Bibelauslegung gegen das jüdische Volk gerichtet: Der neue Bund wurde als Gegensatz zum alten Bund, das neue Gottesvolk als Ersetzung des alten Gottesvolkes verstanden. Diese Nichtachtung der bleibenden Erwählung Israels und seine Verurteilung zur Nichtexistenz haben immer wieder christliche Theologie, kirchliche Predigt und kirchliches Handeln bis heute gekennzeichnet. Dadurch haben wir uns auch an der physischen Auslöschung des jüdischen Volkes schuldig gemacht. (4.7) [2] Warum haben Christen die Juden für nichtexistent erklärt? Die Antwort ist sehr deutlich: Weil die Christen glaubten (und vielfach noch glauben), selber dort zu stehen, wo die Juden stehen müßten, wenn sie existent wären. Die Christen glaubten, das „neue Israel“ zu sein, das „wahre Israel“; dann mußte aber das „alte Israel“ vergangen sein, untergegangen in den Trümmern des von den Römern zerstörten Jerusalem. Die Christen glaubten, daß Gott sie in einen „neuen Bund“ hineingestellt habe, durch den der „alte Bund“ abgelöst und erledigt sei. Kurz gesagt: die Christen haben ein Selbstverständnis entwickelt, in dem für die Existenz des jüdischen Volkes kein Raum mehr war. Es ist insofern nichts Geringes, wenn wir angefangen haben, die Juden wahrzunehmen. Aber entscheidend ist dabei die Fragerichtung. Wir sind gewohnt, von unserem Standpunkt als Christen auszugehen und von dort aus bestimmte Fragen zu stellen. Das heißt dann etwa, zu fragen: Welche Bedeutung hat das Judentum aus unserer christlichen Sicht, oder: für uns als Christen? Anders ausgedrückt: Wir versuchen, dem Judentum einen bestimmten Platz in unserem christlichen Denkgebäude zu geben. Aber eben dies ist nicht mehr möglich, wenn wir anfangen, die Fragen in der Grundsätzlichkeit und Radikalität zu stellen, die jetzt unausweichlich geworden ist. Denn nun müssen wir zunächst einige Grundpfeiler dieses christlichen Denkgebäudes in Frage stellen. Ja noch mehr: Wir müssen die Frage umdrehen: Es geht jetzt nicht mehr darum, aus christlicher Sicht Israel zu definieren, sondern es kommt darauf an, angesichts des Weiterbestehens des jüdischen Volkes das Christentum neu zu definieren. "Am Anfang lief etwas falsch." Für mich ist dieser einfache Satz ein Signal geworden. Stendahl hat ihn schon 1967 geschrieben, und ich habe ihn bald danach ins Deutsche übersetzt. [3] Ich zitiere noch einmal: Ich sage „lief falsch“, weil ich nicht überzeugt bin, daß das, was mit der Trennung der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum geschah, der gute und ausdrückliche Wille Gottes war. Könnte es nicht sein, daß wir zu der Einsicht kommen, daß wir nicht nach dem Willen Gottes, sondern gegen ihn auseinandergegangen sind? Könnte es nicht sein, daß wir gar nicht hätten auseinandergehen sollen oder müssen? Ein Satz, der auch heute noch nichts von seiner Brisanz verloren hat. (Leider haben ihn bisher nur sehr wenige gehört!) Hätten "wir", d.h. unsere "Vorfahren", die ersten Christen, gar nicht "Christen" werden sollen, sondern Juden bleiben? Diese Frage ist in der Tat brisant. An dieser Stelle vollziehen sich die ersten entscheidenden Schritte in unserer Denkbewegung. Aber wo ist der "Anfang" unseres Weges? Fragen wir die Bibel, in diesem Fall das Neue Testament: Das Matthäus-Evangelium beginnt mit Abraham und führt die Linie über David und die Rückkehrer aus dem Babylonischen Exil Josia/Serubbabel weiter, insgesamt 3 x 14 Glieder jüdische Geschichte (Mt 1,17). Das Markus-Evangelium beginnt mit Johannes dem Täufer, ebenso das Lukas-Evangelium mit einer ausführlichen Vorgeschichte. Und Johannes ? "Im Anfang war das Wort (logos)" – das ist jüdisch-hellenistische Philosophie. Nach der Hebräischen Bibel war am Anfang die Weisheit (sophia, Sprüche 8,22ff) – aber die sophia war der logos. Das Johannes-Evangelium greift also noch weiter zurück als Matthäus: in den Anfang, bevor Gott irgend etwas schuf. So gelangen wir auf verschiedenen Wegen zu Jesus. Jesus war ein Nachkomme Abrahams und Davids und Serubbabels – ein Jude mit einem langen Stammbaum. "Jesus war Jude" – das darf man heute ja ungehindert sagen. Aber wir können nun in unserer neuen Denkbewegung nicht damit einsetzen, das Besondere, das "Christliche" an Jesus herauszufinden. Jesus war kein Christ! Wie hätte er auch Christ sein können! Hätte er das Glaubensbekenntnis sprechen können: "Ich glaube an Jesus Christus..."? Jesus war kein Christ. Es ist ein Grundfehler des christlichen Lesens des Neuen Testaments, nur das Besondere, das "Christliche" herauszustellen. Das führt oft dazu, Jüdisches als Christliches hinzustellen. Ein typisches Beispiel dafür ist das Gebot der Nächstenliebe. Es wird oft als etwas für das Christentum besonders Charakteristisches bezeichnet. Die Evangelien stellen aber sehr klar heraus, daß dieses Gebot von Jesus oder seinen Gesprächspartnern aus der „Höre Israel, der HERR ist unser Gott, er ist der einzige HERR (Schema Jisra’el adonaj elohenu adonaj echad. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und mit deiner ganzen Kraft“ (Mk 12,29f). Bei Lukas werden die Rollen vertauscht. Der Schriftgelehrte, der Jesus gefragt hat: „Was muß ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“, wird von Jesus aufgefordert, die Antwort selbst aus der Schrift zu geben; und er zitiert wie Jesus es im Markus-Evangelium tut, indem er das Gebot der Nächstenliebe mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis verbindet (Luk 10,25-27). Hier ist es gar nicht Jesus selbst, sondern ein Schriftgelehrter, der dieses Gebot aus dem am meisten „jüdischen“ der Fünf Bücher Mose, dem Buch Leviticus, zitiert. Wenn also eine Religion es verdient, daß man das Gebot der Nächstenliebe als ihr Charakteristikum herausstellt, dann ist es die jüdische. Dieses Beispiel zeigt, daß Jesus ein treuer Anhänger der Tora war. Allerdings praktizierte er eine durchaus eigenständige, ja eigenwillige Auslegung der Tora. Sie verläuft in zwei scheinbar entgegengesetzten Richtungen. Einerseits als Toraverschärfung, wie in den bekannten Sätzen in der Bergpredigt, in denen Jesu eigenes "Ich aber sage euch" über den Wortlaut des betreffenden Satzes aus der Tora hinausweist. Dabei sagt Jesus einerseits: "Ich bin nicht gekommen, (die Tora) aufzulösen, sondern (sie) zu erfüllen (Mt 5,17); andererseits: "Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen" (V.20). Jesu Stellung zum Sabbat weist in eine andere Richtung. "Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen" (Mk 2,27). Ähnlich auch sein Verhältnis zum Reinheitsgebot: "Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist's, was dem Menschen unrein macht" (Mk 7,15). Hier zeigt sich eine freie, "liberale" Auffassung bestimmter Aspekte der Tora, eine Toraentschärfung. Sie bleibt aber, ebenso wie die Toraverschärfung, im Rahmen des Judentums. Jesus war und blieb Jude, bis an sein Lebensende, bis ans Kreuz – und bis zu seiner Auferstehung! Heutige jüdische Autoren lehren uns: Es gibt bei Jesus nichts, was ihn aus dem Judentum heraustreten ließe. Aber er war auch im Kontext des Judentums eine ganz besondere, einmalige Gestalt. Martin Buber, David Flusser und andere haben immer wieder betont: "Jesus der Jude" heißt nicht, ihn zu nivellieren, sondern vielmehr das Besondere seiner Gestalt im Kontext, ja im Rahmen des Judentums zu interpretieren. Das bedeutet für uns: Wir müssen die Evangelien zunächst innerhalb des Judentums lesen. Das ist auf Grund der Tradition, in der wir darinstehen, zweifellos schwierig. Aber der entscheidende Anfang ist: Wir müssen aufhören, die Evangelien gegen das Judentum zu lesen!
Der Autor
Prof. Dr., wurde am 10. Mai 1925 in Preetz/Holst. geboren. 1945-1950 Studium der evang. Theologie in Kiel, Göttingen und Heidelberg. Promotion 1950 (bei Gerhard vom Rad), Habilitation 1953 in Göttingen für Altes Testament. Von 1958 bis 1963 Professor an der Kirchlichen Hochschule Berlin, anschließend bis 1990 Professor für Alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. Gastprofessuren in Jerusalem, Pretoria, Chicago und Rom.
Rendtorff setzte sich seit seiner ersten Israelreise im Jahre 1963 intensiv mit dem Judentum und dem Staat Israel auseinander. 1965 gehörte er zu den Mitbegründern der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, deren langjähriger Vizepräsident er war. 1977 Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten.
Seit Jahrzehnten ist er Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen des Deutschen Evangelischen Kirchentages und hat in dieser Funktion bei vielen Kirchentagen mitgewirkt. Darüber hinaus engagierte er sich viele Jahre als Vorsitzender der Studienkommission Kirche und Judentum der EKD und gehört zu den verantwortlichen Mitherausgebern der Studien "Christen und Juden" I (1975) und II (1991).
Im Jahre 2002 erhielt er in Würdigung seines Beitrags im christlich-jüdischen und deutsch-israelischen Dialog die Buber-Rosenzweig-Medaille des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR).