Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 54

August 2007

Die vorliegenden Doppel-Ausgabe von ONLINE-EXTRA will auf einen Essay-Band aufmerksam machen, der in mehrfacher Hinsicht herausragend ist: "Makom. Orte und Räume im Judentum. Essays" (siehe den Anzeigenhinweis weiter unten; dort auch ein Link zum Inhaltsverzeichnis des Buches).

Diaspora, Grenze, HaMakom, aber auch Begriffe wie Kabbala, Öffentlichkeit und Tohuwabohu sowie weitere rale, abstrakte und imagniäre "Orte" bilden die Schlagworte dieses Essaybandes, deren gemeinsames Zentrum um die Frage kreist: Was ist ein jüdischer Ort? Dass es dabei nicht allein um topographische Orte, sondern um ganz unterschiedliche Konstruktionen von Ort und Raum geht, resultiert aus der Geschichte des jüdischen Volkes und seiner 2000-jährigen Diaspora.

Hervorgegangen sind die Essays dieses auch graphisch äußerst ansprechend gestalteten Buches aus dem 2001 gegründeten Graduiertenkolleg "Makom. Ort und Orte im Judentum. Zur Bedeutung und Konstruktion von Ortsbezügen im europäischen Judentum", initiiert vom Studiengang jüdische Studien an der Universität Potsdam.

Mit der online exklusiven Publizierung der Einleitung von Joachim Schlör (ONLINE-EXTRA Nr. 54), dem Ideengeber und Realisator des Graduiertenkollegs, einem beispielhaften Essay von Stefanie Leuenberger (ONLINE-EXTRA Nr.55) über "Jerusalem in der deutsch-jüdischen Literatur" sowie einem diesen beiden Texten jeweils vorangestellten Auszug aus dem Vorwort der Herausgeberinnen möchte COMPASS Sie einladen, den faszinierenden und mitunter überraschenden Wegen durch "Orte und Räume im Judentum" zu folgen!


COMPASS dankt Autor, Autorin sowie den Herausgeberinnen und dem Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!

© 2007 Copyright bei Autorin, Autor, Herausgeberinnen und Verlag 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 54


Makom - Orte und Räume im Judentum (Teil 1)

Vorwort der Herausgeberinnen
und
Joachim Schlör: Eine Einleitung im Gehen

******************************

Real, abstrakt, imaginär – Orte und Räume im Judentum in der Diskussion.
Ein Vorwort

Die Herausgeberinnen


[…] Unsere Intention als Herausgeberinnen war es, die Zusammenhänge der scheinbar disparaten Forschungsfelder des bis März 2007 in Potsdam angesiedelten Graduiertenkollegs „Makom. Ort und Orte im Judentum“ zu betonen. Schlaglichtartig wollten wir die Vielfalt der Themen, Disziplinen und Forschungsweisen der von uns untersuchten Ortsbegriffe beleuchteten und bündeln. Auf die – manchmal überraschenden – Konvergenzen zwischen den einzelnen Texten weisen wir in den Anmerkungen ausdrücklich hin. Wir möchten mit diesem Band auch ein Gesprächsangebot unterbreiten, auf unsere wissenschaftlichen Arbeiten aufmerksam machen und die Öffentlichkeit an unseren Ideen und Gedanken teilhaben lassen. Deshalb haben wir uns ganz bewusst für die Textgattung des Essays entschieden, denn diese erlaubt es, eine These zu erproben und ein Thema in zugänglicher Sprache darzustellen, die ein breiteres Publikum einlädt, sich einzulassen auf die Debatten darüber, was denn ein jüdischer Ort sei.

Vorangestellt ist jedem Essay ein Schlagwort, das den Kern des behandelten Themas benennt und einen wichtigen Aspekt der jeweiligen Forschungsarbeit aufgreift. Die alphabetische Anordnung macht zum einen das Kaleidoskop dessen, was unter jüdischem Ort verstanden werden kann, sichtbar. Zum anderen weist sie auf unseren Wunsch hin, die Ortsbegriffe nicht zu hierarchisieren. Neben eindeutig jüdischen Ortsbegriffen wie Eruw, Mischkan, Medinat Jisrael weisen andere Schlagwörter wie Imagination, Un-Ort, Heimat auf die Konstruktion und Konstruiertheit von Orten hin. Dass Zwischen-Orte im Tohuwabohu der Welt zu genuin jüdischen Orten werden (können), zeigt die Geschichte und zeigen Geschichten, die Literatur wurden.

Einige Essays wie HaMakom (Helga Völkening), Lehrhaus (Michal Kümper), Eruw (Barbara Rösch) und Mischkan (Franziska Bark) verfolgen den Ansatz, eine umfassende Definition, historische Einbettung und Bedeutungsbeschreibung zu bieten. Andere gehen umgekehrt vor und schlagen anhand scheinbar vertrauter Begriffe ganz unvermutete Richtungen ein, wenn es z.B. das Tohuwabohu des orthodoxen Zionisten Sammy Gronemann (Marc André Brinkforth) ist, das vorgestellt wird, das Echo der biblischen Zufluchtsstätte im Denken Emmanuel Levinas (Elliott Bergman), das Diaspora-Selbstverständnis von Heinrich Heine (Lydia Fritzlar) und das Konzept der göttlichen Ortlosigkeit bei Simone Weil (Helen Thein). Der Essay Imagination (Stefanie Leuenberger) untersucht die Bedeutung von Jerusalem für die deutschsprachige jüdische Literatur, während Stadtbilder (Ines Koeltzsch) zeigt, wie sich die Darstellung vom jüdischen Prag wandelt. In das Exil nach Palästina mitgereist ist die damals neuartige Konzeption der Gartenstadt (Ines Sonder), die aus der gegenwärtigen Stadtplanungskultur Israels nicht mehr wegzudenken ist. Der Begriff Yam Tikhoniut (Alexandra Nocke) zeigt, das sich Israelis auch jenseits politischer oder religiöser Konzepte mit dem Land, das am Mittelmeer gelegen ist, identifizieren, während Medinat Jisrael (Julia Brauch) für die Rückkehr des Politischen in das Judentum steht. Anhand von Schoagedenkstätten untersucht Anja Kurths unterschiedliche Konzepte des Gedenkens in Israel. In der Zeit des Nationalsozialismus fokussierte sich der Identifikationsraum, angesichts der Beraubung staatsbürgerlicher Rechte, für viele Juden von der Nation auf die Stadt (Dorothea Bohnekamp), nicht mehr Deutsche oder Franzosen waren sie, als Berliner oder Pariserinnen verstanden sie sich. Den Ehrentitel „Stadt und Mutter in Israel“, Ir vaEm beJisrael (Anne-Christin Saß), erhielten jene Städte, die nicht nur Schutz gewährten, sondern auch zur Heimstadt wurden, so wie Berlin in den 1920er Jahren. „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ fragt Ulrike Schneider mit Bezug auf den Überlebenden von Auschwitz Jean Améry. Nur noch Geister sind im Jiddischland zu finden, sie lassen sich dennoch befragen, so Tomasz Wozniak der für eine breitere Rezeption jiddischer Literatur plädiert. Michael Brockes Überlegungen zum Friedhof als Ort (auch) der Lebenden verweist auf die spezifische Art der Totenehrung im Judentum. Die Verklärung osteuropäischen Judentums durch westlich orientierte säkulare Schriftsteller ist ein Phänomen, dem Anna-Dorothea Ludewig anhand von Ghettogeschichten eines Karl Emil Franzos nachgeht, die eigentlich Schtetl-Geschichten heißen müssten. Vom Einfluss jüdischer Kultur auf die christliche Umwelt erzählt Vladek Viehmann beispielhaft anhand des nichtjüdischen Kabbala-Forscher Franz Joseph Molitor. Der gegenteiligen Spur, der der Judenverachtung, geht Barbara Rösch in Un-Ort nach. Christina von Braun vergleicht die Rekonstruktion von Heimat im Gedächtnis ihres Großvaters, Magnus von Braun, mit dem Konzept des portativen Vaterlandes im Judentum. Im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert wird von einigen russisch-jüdischen Wissenschaftlern in der Historiographie das Russische Reich als ein historischer Ort des Judentums begründet, was Kerstin Armborst an fünf Beispielen belegt. Jüdische Selbstverständigung erfolgte auch im Pressewesen, wovon die Essays Öffentlichkeit (Johannes Schwarz), Sepharad (Jens Neumann) und Sprache (Markus Winkler) erzählen. Der These von der peripheren Existenz des Jüdischen geht Ruth Leiserowitz topografisch nach und untersucht jüdisches Leben und seine Vernichtung anhand eines Ortes an der Grenze. Vertrieben, im Exil angekommen, wurde von vielen Migrantinnen und Migranten verlangt, sich zu einer jeweils passenden Identität zu bekennen, die, im Fall der USA einmal deutsch, einmal jüdisch, dann wieder amerikanisch sein sollte. Die vielen Bezugsorte der jeweiligen Biographie inkorporieren sich, so die These von Anne Clara Schenderlein, dann zu Zwischen-Orten, die eine eigene Existenz in den Menschen haben. Die Utopie gleichberechtigten Lebens in den halböffentlichen Salons der Romantik will Hannah Lotte Lund nicht ganz aufgegeben wissen.
[…]



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Michal Kümper / Barbara Rösch /
Ulrike Schneider / Helen Thein (Hg.):
Makom. Orte und Räume im Judentum.
Essays



    M. Kümper / B. Rösch /
    U. Schneider / H. Thein (Hg.):

   Makom
   Orte und Räume
   im Judentum 
   Essays 


   Georg Olms Verlag
   Hildesheim/Zürich/New York 2007
   356 Seiten,
   mit 30 s/w-Abb. und einem
   Personenregister.
   32,00 €

   jetzt bestellen



              Vollständiges Inhaltsverzeichnis

Diaspora, Grenze, HaMakom, aber auch Begriffe wie Kabbala, Öffentlichkeit und Tohuwabohu sowie weitere reale, abstrakte und imaginäre Ortsbegriffe bilden die Schlagwörter für den vorliegenden Essayband. Geleitet werden die einzelnen Betrachtungen von der Frage: Was ist ein jüdischer Ort? Dass diese nicht allein topographische Orte, sondern vielfältige Orts- und Raumkonstruktionen sein können, resultiert aus der Geschichte des jüdischen Volkes und seiner 2000-jährigen Diaspora.

Hervorgegangen aus dem Potsdamer Graduiertenkolleg „Makom. Ort und Orte im Judentum“ begegnen die Autorinnen und Autoren der Essays dem jüdischen Ortsbegriff aus religions-, kultur-, und literaturwissenschaftlicher Perspektive sowie durch soziologische, philosophische oder historische Fragestellungen.

Überraschend ist dabei zweierlei: Zum einen die bildhafte Definition der einzelnen Begriffe, zum anderen unter welchen Schlagwörtern die Themen behandelt sowie die unerwarteten Wege, die eingeschlagen werden.

Dieses Buch kann ein neuer Impuls sein, sich den unterschiedlichen jüdischen Orts-Landschaften zu nähern



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Einladung zur Präsentation des Essaybandes
"Makom. Orte und Räume im Judentum. Imaginär. Essays"
hrsg. von Michal Kümper, Barbara Rösch, Ulrike Schneider und Helen Thein


In einer von Luise Pfütze moderierten Abendveranstaltung führen die Herausgeberinnen in diese jüdischen Ortslandschaften ein und stellen die inhaltliche und graphische Konzeption des Bandes vor. Begleitet wird die Podiumsdiskussion von Lesungen einzelner Essays durch Annett Zinnecker sowie durch die Band Rimonim (Saxophon: Hannes Kies, Gesang: Mieke Schymura, Text und Komposition: Mottel Schuscha).

24. Oktober 2007
Thalia Kino
veranstaltet von der Scriptbuchhandlung Potsdam (Kerstin Seefeldt)
Beginn um 20.00 Uhr
4,50 Euro Eintritt; erm. 4,- Euro
Adresse: Rudolf Breitscheid Straße 50, 14482 Potsdam


26. November 2007
Jüdisches Museum Berlin
Beginn um 19.00 Uhr
Eintritt frei
Adresse: Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin


30. Januar 2008
Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung
Beginn um 18.00 Uhr
Eintritt frei
Adresse: Heinrich-Mann-Allee 107, 14460 Potsdam


Makom. Eine Einleitung im Gehen.


von Joachim Schlör



Orts-Bilder


Erstes Bild: Am Strand von Tel Aviv. Es ist noch früh, kurz nach sieben Uhr an einem Herbstmorgen. Die Stadt, die „niemals schläft“, hat sich nach einer langen Nacht doch zur Ruhe begeben. Von der Gordon- und Frishmanstraße kommen einige ältere Leute, fröhlich lachend, an den Strand: Zeit für ihre Morgengymnastik, die sie ernst und gewissenhaft betreiben. „Wenn Sie mich treffen wollen, müssen Sie schon einmal ausnahmsweise früh aufstehen, junger Mann“, hatte Herr B. am Telefon gesagt, „holen Sie mich zu einem Spaziergang ab.“ Nach der Gymnastik geht er kurz unter die Dusche, und nach wenigen Minuten ist die Verwandlung von Sandalen und Badehose in geschlossene Schuhe, Hose, Hemd und Krawatte abgeschlossen. Der Spaziergang führt die Ben-Jehuda-Straße hinauf zum alten Hafen und dem Gelände der Levante-Messen von 1934 und 1936. „1936 sind wir eingewandert“, sagt Herr B., „und gerade in dieser Zeit haben die arabischen Hafenarbeiter in Jaffa mit ihrem Streik begonnen.“ Die Stadt Tel Aviv hat beschlossen, einen eigenen Hafen zu bauen, ein „Tor nach Zion“, und die Hafenarbeiter – jüdische Hafenarbeiter, wie in Saloniki! – haben den ersten Sack Zement aus dem ersten Schiff auf ihren Schultern in das vom Bürgermeister Dizengoff gegründete Museum getragen. Für Herrn B. ist das der Ort, an dem seine Familie gerettet wurde. Juden aus Deutschland fanden Zuflucht in Palästina, und der Hafen von Tel Aviv steht symbolisch für die Aufnahme der Flüchtlinge. Auf den Industrie- und Handelsmessen von 1934 und 1936 präsentierte sich die junge Wirtschaft der jüdischen Gemeinschaft von Palästina, des Jishuw, und wer aus Deutschland eingewandert war, konnte sich vorstellen, dass es doch andere Arbeit im Lande geben könnte als in der Landwirtschaft. Lange Jahre war das Gelände des unbenutzten Hafens und der Messen verfallen, heute ist alles schön renoviert, eine neue Promenade wurde angelegt, die ausgehfreudige Gesellschaft hat einen neuen Lieblingsplatz gefunden. Da viele der alten Gebäude und Mauern abgerissen wurden, ist auch die Inschrift nicht mehr zu finden, die Herr B. wohl unterschrieben hätte: „Tel Aviv, mon amour.“

Zweites Bild: In der Synagoge von Odessa. Bei meinem Besuch ist der Prozess der Transformation noch im Gang. Jahrzehntelang war die große Synagoge in der Jüdischen Straße – zu sowjetischen Zeiten nach August Bebel benannt – als Schule und Sporthalle benutzt worden. Jetzt hat eine sehr viel kleiner gewordene Gemeinde das Gebäude zurückbekommen, und mit der Hilfe jüdischer Organisationen wie dem „Joint Distribution Committee“ und aus der amerikanischen Partnerstadt Baltimore wird wieder eine Synagoge eingerichtet. In der eingezogenen Zwischendecke finden sich noch einige Tischtennisplatten, während unten im großen Innenraum Schränke und Schnüre sehr provisorisch die Männer- von der Frauenabteilung trennen. Anja Misjuk sieht das alles mit Interesse an, aber ihr Herz hängt nicht nur an dieser religiösen Wiederbelebung. Sie zieht mich wieder auf die Straße und zeigt mir die Häuser, in denen Chaim Nachman Bialik (1873-1934), Ahad Ha’am (1856-1927) und Leon Pinsker (1821-1891) gewohnt haben – und Vladimir Jabotinsky (1880-1940). „Du musst die Stellen sehen, die er in seinem Roman ‚Pyatero’ beschreibt. Hier trafen sich die Mitglieder der jüdischen Selbstwehr, um sich gegen neue Progrome zu wehren.“  Für Anja ist dies ein Ort, an dem jüdisches Selbstbewusstsein neu geboren wurde, und wenn auch (wie Jabotinsky, Bialik, Ahad Ha’am) so viele Juden die Stadt verlassen haben, um nach Palästina zu gehen, oder nach der Revolution über Berlin und Paris in die USA, oder nach 1991 wiederum nach Israel und in die USA – sie will in der einstigen „Stadt des aufrechten Gangs“ bleiben. Wir gehen an einer fast eingefallenen Hauswand vorbei, und Anja zeigt mir die gesprühte Aufschrift: „I love you, Odessa.“

Drittes Bild: Im Scheunenviertel von Berlin. Gruppen von Touristen gehen durch die stillen Straßen. Sie haben Texte und Fotos in den Händen und schauen immer wieder von den Texten auf die Häuser und von den Häusern auf die alten Fotos, als wollten – als könnten! – sie etwas in die Leere hineinlesen, das nicht mehr dort wohnt. „Besuchen Sie das jüdische Viertel von Berlin!“, zitiert Herr M. mit einer Mischung aus Ärger und Amüsement den Werbesatz auf einem Autobus. Herr M. ist hier aufgewachsen, in der Dragonerstraße. Für ihn ist es ein Ort der Transformation, an dem seine aus Polen eingewanderte Familie einen Weg in die Stadt Berlin, in das Land Deutschland, in seine Sprache und Literatur gesucht hat. Ein Ort der Balance zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Heimat und Heimat. Ja, sagt er, es gab die chassidischen Gruppen mit ihren Schtibln, es gab die Inseln einer osteuropäisch-jüdischen Kultur mit Lesehallen und Buchläden und koscheren Metzgereien – aber für uns war es das Sprungbrett in die große Stadt mit ihrem Versprechen eines freieren Lebens. Der amerikanische Künstler Shimon Attie hat 1992/93 alte Fotos von Bewohnern des Scheunenviertels und ihren Läden auf die Wände der (damals noch) heruntergekommenen Häuser projiziert – sie blieben nur für einen kurzen Moment und sind wieder verschwunden.


Von den Impressionen zum Programm

Projektionen: von Orten. Man könnte noch viele weitere solcher Orte aufzählen, die alle verschiedene Geschichten erzählen, von verschiedenen Erfahrungen berichten, aber in einem Punkt treffen sie sich alle. Sie handeln von den Wünschen, die Menschen mit Orten verbinden. Der Einwanderer wünscht sich, die neue Stadt mit ihrem noch neueren Hafen möge ihm Heimat werden. Die Literaturexpertin wünscht sich, ihre Stadt möchte sich endlich um ihr jüdisches Erbe kümmern und die Orte, die mit jüdischer Geschichte und Kultur verbunden sind, besser würdigen. Der Rentner, der nach vielen Jahren nach Berlin zurückgekehrt ist, wünscht sich, die Leute würden nicht solchen Unsinn über den Ort seiner Kindheit erzählen. Und neben den Wünschen gibt es auch Enttäuschungen. Und Überraschungen, Staunen, Entsetzen – Gefühle jedenfalls, die an Orten festgemacht werden. Von Gefühlen ist in den Geschichtsbüchern noch immer zuwenig die Rede. Die Liebe zu Orten, topophilia, ist im Gegensatz etwa zur Stadtfeindschaft nur wenig erforscht.2  Die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Orten befassen – Geographie und Geschichte vor allem – sind nicht gerade für ihre Empfindsamkeit bekannt, anders ist es vielleicht nur mit den Literaturwissenschaften.

So war es für mich auch ein logischer Schritt, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Orte im Judentum“ mit einer literarischen Anthologie zu beginnen, die 1995 erschien und unter dem vom Verlag ausgewählten Titel „Wenn ich dein Vergesse, Jerusalem“ den Untertitel trug: „Bilder jüdischen Stadtlebens“. In einem Nachwort zu der Sammlung von Texten, „Ortschaften“, habe ich versucht, drei Typen der Auseinandersetzung mit Orten in der jüdischen Literatur zu unterscheiden. Das Stichwort Makom steht für die religiöse und spirituelle Dimension jeglicher Auseinandersetzung mit Orten im Judentum – haMakom ist einer der Gottesnamen. Hier finden sich Texte, die von religiös bedeutsamen Orten handeln: vom Tempel, von der Synagoge, von der Stadt Jerusalem und den anderen heiligen Orten im Land Israel, aber auch von den Städten, die wegen ihrer Gelehrten und ihrer Treue zum Judentum den Ehrennamen einer „Stadt und Mutter in Israel“ erhielten, wie Amsterdam oder Wilna. Das jiddische Doykeit steht für die Idee des „Bund - Jiddischer Allgemeiner Arbeiterbund“, gegründet 1902 in Wilna –, jüdische und jiddische Politik und Kultur müsse „do“, hier, gemacht werden, nicht in der Hoffnung auf einen vielleicht nie (mehr) zu erreichenden anderen Ort. Schließlich gibt es in der deutsch-jüdischen und mehr wohl noch in der amerikanisch-jüdischen Literatur ein Stadtgefühl, eine Liebe zu den jüdischen Vierteln der großen Städte oder zu diesen Städten überhaupt, New York City vor allem, ein Gefühl, dem Irving Howe den Begriff „A sense of place“ gegeben hat.

Im Gespräch zwischen den Vertretern der verschiedenen Fächer, die in Potsdam den Studiengang Jüdische Studien bilden, stellte sich bald heraus, dass diese Auseinandersetzung mit Orten einen gemeinsamen Nenner für den Antrag auf ein Graduiertenkolleg bilden könnte. Im Anfang und in der Begründung der jüdischen Religion steht ein Ortswechsel: Gott schickt Abraham aus seinem Vaterhaus und Geburtsland in ein Land, „das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1). Nach der biblischen Überlieferung errichtet Abraham im neuen Land an verschiedenen Orten Altäre für seinen Gott; so entsteht das "Land Israel".3  Vom Auszug aus Ägypten und der folgenden langen Wanderung über die Eroberung von Jerusalem und den Bau des ersten Tempels, über die Babylonische Gefangenschaft und den Beginn dessen, was mit dem griechischen Begriff Diaspora bezeichnet wird, über die Entstehung des aschkenasischen Judentums im Norden und Osten Europas, des sephardischen Judentums auf der iberischen Halbinsel, des orientalischen Judentums in Nordafrika und dem Nahen Osten, über die großen Wellen der Auswanderung nach Amerika bis hin zu den Zerstörungen jüdischer Lebenswelten im 20. Jahrhundert, zur Gründung des Staates Israel und dem zaghaften Neubeginn jüdischen Lebens heute – ein Leitmotiv der religiösen, kulturellen, politischen und ökonomischen Geschichte der Juden ist die Auseinandersetzung mit Orten: mit dem einen Ort Jerusalem, Zion Israel, und mit den vielen Stationen der Wanderung, im Exil. Anwesenheit und Abschied, Heimatverlust und Suche nach Heimat bilden wesentliche Motive einer Erzählung, die verschiedene Disziplinen einer Wissenschaft des Judentums seit ihrem Entstehen beschäftigen.

Sie in einen sinnvollen und fruchtbaren Dialog zu bringen, war das erste Anliegen des Graduiertenkollegs „Makom: Ort und Orte im Judentum“, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft zum April 2001 für eine Laufzeit von sechs Jahre bewilligt hat. Das Kolleg baut auf den Erfahrungen des interdisziplinären Studiengangs Jüdische Studien auf, in dem seit dem Wintersemester 1994/95 Vorlesungen, Seminare, Kolloquien und Forschungsprojekte aus folgenden Fächern zusammenarbeiten: Religionswissenschaft, Neuere Geschichte, Germanistik und Literaturwissenschaft, Romanistik, Anglistik/Amerikanistik, Slawistik, Philosophie, Kulturwissenschaft, Allgemeine Soziologie, Historische Pädagogik. VertreterInnen dieser Fächer erarbeiteten gemeinsam das Forschungsprogramm von „Makom“4  und erklärten sich bereit, Dissertationen in ihren jeweiligen Feldern zu betreuen.


Bücher von Joachim Schlör:

      



Themen und Ausblicke

Dabei wurde bald deutlich, dass Makom viel mehr umfasst als die konkreten Orte einer jüdischen Gemeinde – Friedhof, Synagoge, Mikwe, Lehrhaus – und ihrer Präsenz in Dörfern und Städten. Auch die Beziehungen zwischen einer jüdischen Gemeinde und ihren christlichen Nachbarn bilden sich räumlich ab, wofür oft genug das Stichwort der Grenze symbolisch stand. Die in der Geschichte häufig erzwungenen Orts-Wechsel und die dadurch notwendig gewordene Schaffung immer neuer (nach Simon Dubnow) „kreativer Zentren“ machen die jüdische Erfahrung zum Paradigma neuer Forschungen über Diaspora, Transnationalismus und kulturellen Transfer. Imaginierte Orte – Heimat – und kommunikative Orte – Sprache, Öffentlichkeit und Gedächtnis – erweitern den Begriff und verleihen ihm zugleich eine tiefere Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit all diesen Dimensionen von Makom kennzeichnet jüdische Religion und religiöse Praxis – Eruw, Sukka – ebenso wie die Literatur, die Philosophie, die Geschichte und alle anderen beteiligten Disziplinen. Zentrales Merkmal des Graduiertenkollegs war deshalb auch der Versuch, Interdisziplinarität wirklich zu praktizieren, nach einer gemeinsamen Sprache und gemeinsamen Begriffen zu suchen.

Wie aktuell die Thematik der „Jewish Topographies“, von „Space und Place“ ist, zeigen nicht nur die vielen Beiträge zu einem allgemeinen spatial turn


“Jewish consciousness constantly shifts between awareness of a physical space (Reality) space of reference (Memory) and a mythical space (Dreams). The life in South Africa (Reality); roots in Baltic Europe (Memory) and visions of the future (Dreams) reflect the very essence of the Jewish Community in South Africa. These three components are the core of the Museum's exhibits, set against a backdrop of South African history. Together they bring alive the story of South African Jewry. Is reflected [sic] in an historical display and in the conceptual exhibit. Both depict the relationship between the Jewish organisations and South Africa, as well as the engagement of individual Jews in South African society.”6 


In diesem weiten Feld der mit Raum und Ort verbundenen Dimensionen und Bedeutungen bewegen sich auch die Arbeiten unserer Kollegiatinnen und Kollegiaten. Es können an dieser Stelle nicht alle Projekte erwähnt werden, daher seien nur einige beispielhaft genannt, um die Bandbreite von „Makom“ zu illustrieren: „Der jüdische Salon als Ort der Emanzipation? Politische Partizipation und Geschlechterverhältnisse im literarischen Salon um 1900“ fragt nach einem besonderen Ort in der Stadt, zumal in Berlin und Wien, der zum Treffpunkt jüdischer und nichtjüdischer Intellektueller wurde. „Der Mischkan im Kopf - Betrachtungen zur literarischen Konstruktion eines Möglichkeitsraumes in der Tora“ thematisiert das durchgängige und zugleich mehrfach besetzte Motiv des Gehens in der Tora als einen möglichen Raum; „Dichten in der Diaspora – Zur neuen jüdischen Schreibweise Heinrich Heines“ analysiert die Bedeutung der Diaspora für die deutsch-jüdische Literatur im 19. Jahrhundert. „Yam Tikhoniut: The Place of the Mediterranean in Modern Israeli Identity“ diskutiert die Rolle des Mediterranen für die israelische Gesellschaft und könnte als Studie zu regionalen Mentalitäten und Alltagspraxen bezeichnet werden. Sie ist ebenso Teil der Israel Studies wie die Arbeit „Medinat Israel - Der Staat als Topos jüdischer Selbstreflexion“. Die volkskundliche Arbeit „Der Judenweg – ein Beitrag zur Geschichte und Kulturgeschichte des ländlichen unterfränkischen Judentums aus Sicht der Flurnamenforschung“ leistet einen wichtigen Beitrag zu den lange vernachlässigten Forschungen zum Landjudentum.

Und so weiter, von der Acosta-Straße in Havanna über die griechisch-jüdischen Beziehungen in Odessa bis zum Bild der Stadt Jerusalem in der deutsch-jüdischen Literatur – eine ganze Welt, markiert von einzelnen Punkten, die untereinander auf vielfache Weise verbunden sind. Das Graduiertenkolleg „Makom“ hat während seiner Laufzeit mehrere Konferenzen organisiert und so auch internationale Aufmerksamkeit gefunden: „Der Ort des Judentums in der Gegenwart“ (2002) und „Das Verhältnis von realem und imaginärem Ort im Judentum / The Interplay Between Real And Imagined Places in Judaism and Jewry“ (2005) sind hier vor allem zu nennen. Inzwischen sind einige Dissertationen bereits abgeschlossen, und auch wenn das Gesamtprojekt im März 2007 ausläuft, wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit „Ort und Orten im Judentum“ weiter anhalten.7 Dazu soll auch der vorliegende Band beitragen.


Southampton, im Herbst 2006




ANMERKUNGEN



1 Inzwischen gibt es endlich eine englische Übersetzung dieses wunderbaren Romans. JABOTINSKY, VLADIMIR: The Five. A Novel of Jewish Life in Turn-of-the-Century Odessa. Translated from the Russian by Michael R. Katz, Ithaca 2005. Der Kommentar von Saul Austerlitz über den Autor, „Iron-fisted in Politics, Velvet-gloved in Fiction“, ist sehr treffend.

2 Vgl. BERGMANN, KLAUS: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970. Vgl. immerhin: TUAN, YI-FU: Topophilia. A Study of Environmental Perception, Attitudes, and Values, Prentice-Hall 1974; LE GOFF, JACQUES: Pour l'amour des villes. Entretiens avec Jean Lebrun, Paris 1997.

3 “Agoraphilie” bezeichnet nach einem französischen Lexikon „le fait de vouloir faire l'amour dans des endroits publics“. Die beiden letzten Sätze stammen aus dem Forschungsprogramm und wurden von Karl E. Grözinger formuliert.

4 http://www.makom-potsdam.de/content/programm/index.php

5 Herauszuheben für den deutschen Bereich ist sicher die Arbeit von KARL SCHLÖGEL: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. Er war auch zu Gast bei „Makom“.

6 www.museum.com/ja/showdia/id=1438 am 19.10.2006

7 Ein weiteres Ergebnis der Arbeit wird der Band “Jewish Topographies: Visions of Space – Traditions of Place” sein, den Julia Brauch, Anna Lipphardt und Alexandra Nocke bei Ashgate (London) herausgeben werden.



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Der Autor

JOACHIM SCHLÖR


Prof. Dr. (Southampton), geb. 1960. Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Politikwissenschaft in Tübingen; Promotion 1990;

wiss. Mitarbeiter an der Universität Potsdam 1994-2004; Habilitation 2003; Koordiniator des Graduiertenkollegs "Makom. Orte und Räume im Judentum" (2001/2002);

seit Oktober 2006 Professor for Jewish/non-Jewish Relations an der University of Southampton.