Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 56

September 2007

Am 29. Mai 2007 sprach Uriel Kashi, früherer Vorsitzender des Bundesverbands Jüdischer Studenten in Berlin (BJSD), auf Einladung der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft Berlin und Potsdam (siehe Anzeige weiter unten) im Berliner Heinrich-von-Kleist Gymnasium vor Schülerinnen und Schülern sowie weiteren Interessenten über "Das Verhältnis junger Juden zu Deutschland, zum Staat Israel und zur jüdischen Religion".

Sein Vortrag basierte auf einer im Jahr 2005 an der Freien Universität Berlin vorgelegten Magisterarbeit. In ihr beschäftigte sich Kashi mit der Entwicklung jüdischer Identität im Nachkriegsdeutschland, d. h. zwischen 1945 bis 2004. Einen Schwerpunkt legte er dabei auf die Generation der Jugendlichen und Studenten, insbesondere auf jene, die im Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland organisiert waren. Die Fragen, die ihn bis heute beschäftigen, sind: Welche Rolle spielte die jüdische Religion für junge Juden im Nachkriegsdeutschland? Wie stand man zum Staat Israel? Und: Was bedeutete den jungen Juden Deutschland, jenes Land, in welchem wenige Jahre zuvor der Holocaust, d.h. die Ermordung eines Großteils des europäischen Judentums organisiert wurde?

Ein weiterer wichtiger Aspekt, den er an dem Abend bei der DIG Berlin und Potsdam beleuchtete, war die Migrationserfahrung insbesondere der Elterngeneration, da viele schon damals "zugezogen" waren. Er stellte die Frage: Wie gingen und gehen junge Juden mit diesen Erfahrungen um und welche Bedeutung hat diese Erfahrung bezüglich ihrer Beziehung zu Israel?

Mit vorliegendem ONLINE-EXTRA Nr. 56 veröffentlicht COMPASS seinen Vortrag und dankt dem Autor für die Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle!


© 2007 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 56


Das Verhältnis junger Juden zu Deutschland,
zum Staat Israel und zur jüdischen Religion.


Versuch eines historischen Aufrisses


URIEL KASHI

Der folgende Vortrag basiert in Teilen auf meiner Magisterarbeit, die ich 2005 an der Freien Universität Berlin schrieb. In dieser Arbeit beschäftigte ich mich mit der Entwicklung jüdischer Identität im Nachkriegsdeutschland, d. h. zwischen 1945 bis heute. Einen Schwerpunkt legte ich dabei auf die Generation der Jugendlichen und Studenten, insbesondere auf jene, die im Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland organisiert waren. Die Fragen, die mich damals und auch heute noch beschäftigten, waren: Welche Rolle spielte die jüdische Religion für junge Juden im Nachkriegsdeutschland? Wie stand man zum Staat Israel? Und: Was bedeutete den jungen Juden Deutschland, jenes Land, in welchem wenige Jahre zuvor der Holocaust, d.h. die Ermordung eines Großteils des europäischen Judentums organisiert wurde? Ein weiterer wichtiger Aspekt, über den ich heute kurz reden möchte, ist, dass viele Juden in Deutschland oder zumindest deren Eltern Migrationserfahrungen haben, d. h. sie sind nicht in Deutschland geboren sondern „zugezogen“. Ich stelle also die Frage: Wie gingen und gehen jungen Juden mit diesen Erfahrungen um und welche Bedeutung hat diese Erfahrung bezüglich ihrer Beziehung zu Israel?

Bevor ich nun wirklich mit meinem Thema beginne, möchte ich an dieser Stelle noch der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin/Potsdam sowie namentlich Annegret Mielke und Martin Kloke für die Einladung danken. Mindestens genauso dankbar bin ich dem Kleist Gymnasium, ohne welches wir hier nicht gemeinsam sitzen könnten. Ich finde es ganz besonders spannend und reizvoll, dieses Gespräch mit einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern zu diskutieren. Ich hoffe, dass wir im Anschluss an den Vortrag gemeinsam nachdenken können, inwiefern die Themen, mit denen sich jüdische Jugendliche als Minderheit zwangsläufig beschäftigen, auch für Euch relevant sind. Und dies gilt nicht nur für die hier anwesenden Schülerinnen und Schüler mit „Migrationshintergrund“. Die Frage geht an alle: Seht ihr Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zu den Erfahrungen, die die jüdischen Jugendlichen machten? Welche Rolle spielt Religion für Berliner Schüler heute? Und: Was bedeutet Euch Deutschland. Spielt die Geschichte des Nationalsozialismus bei der Beantwortung dieser Frage eine Rolle, und wenn ja welche? Gibt es noch andere Länder, die für Euch eine besondere Rolle spielen?

Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 ist keine Selbstverständlichkeit. Von den ca. 500.000 Juden1, die vor 1933 in Deutschland lebten, war etwas mehr als der Hälfte die Flucht ins Ausland rechtzeitig gelungen. Über 165.000 deutsche Juden wurden im Verlauf der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ermordet. Nur knapp 15.000 überlebten den Holocaust in Deutschland außerhalb der KZs, davon ungefähr drei Viertel dadurch, dass sich die nichtjüdischen Ehepartner um sie kümmerten. 2000 überlebten in der Illegalität.2 Außerhalb Deutschlands war man sich damals in der jüdischen Gemeinschaft einig, dass jüdisches Leben in Deutschland keinen Platz mehr haben dürfe. Der Journalist Robert Weltsch3 schrieb nach einem Besuch in Deutschland 1946:


„Wir können nicht annehmen, daß es Juden gibt, die sich nach Deutschland hingezogen fühlen. Hier riecht es nach Leichen, nach Gaskammern und nach Folterzellen. Aber tatsächlich leben heute noch ein paar Tausend in Deutschland [...] Das ist ein Übergangszustand, wie wir verstehen. Dieser Rest jüdischer Siedlung soll so schnell wie möglich liquidiert werden [...] Deutschland ist kein Boden für Juden.“4


Trotz der anhaltenden Kritik schlossen sich bald nach Kriegsende einige der überlebenden deutschen Juden in verschiedenen Städten zusammen und gründeten noch im selben Jahr jüdische Kultusgemeinden. In Frankfurt geschah dies schon im August 1945, also nur knapp 3 Monate nach der Kapitulation.5 Oft erhielten sie nach Verhandlungen ehemalige der Gemeinde gehörende Immobilien zurück. In diesen wurden bald neue Synagogen und Gemeindezentren eingeweiht. Mit der Zeit kehrten auch einige wenige Remigranten, die im Exil die Sehnsucht nach Deutschland nicht losgelassen hatte, in ihre Heimatstädte zurück.6 

Dann geschah etwas unerwartetes: Die folgenden Monate und Jahre brachten über einhundertfünfzigtausend Juden7 nach Deutschland. Dies waren Juden, die vor dem Krieg in Osteuropa gewohnt hatten. Als diese Juden aus den Konzentrationslagern befreit wurden und in ihre ehemaligen Städte und Dörfer zurückkehren wollten, sahen sie sich mit Antisemitismus und Pogromen konfrontiert. Die ehemaligen Nachbarn waren in ihre Wohnungen eingezogen und hatten kein Interesse, diese nach der Rückkehr der Juden wieder zu räumen. Als einziger Ausweg blieb die Flucht in den Westen, in das nun sichere Deutschland, wo sie von den alliierten Behörden in sogenannten „Displaced Persons“ (DP) (auf deutsch: Verschleppte Menschen)- Camps untergebracht wurden. Von dort hoffte man, bald weiter nach Palästina/ Israel oder in die Vereinigten Staaten auszuwandern zu können.8

Die meisten dieser DP-Juden verließen bis spätestens Anfang der 50er Jahre Deutschland wieder. Etwa 12.000 jüdische DPs blieben. Die meisten von ihnen waren entweder zu krank oder zu schwach, um eine erneute Auswanderung in Angriff zu nehmen. Manchen der jüngeren DPs war es im Laufe der Jahre gelungen, eine berufliche Existenz in Deutschland aufzubauen. In Deutschland lebten also sowohl Juden, die sich als „deutsche Juden“ verstanden als auch Juden mit osteuropäischen Wurzeln. In späteren Jahren folgten weitere Flüchtlingswellen nach Deutschland, so wegen des Ungarn-Aufstands 1956 oder während des Prager Frühlings 1968. Ende der 60er Jahre zählte die jüdische Gemeinde bereits zwischen 25.000 und 30.000 Mitglieder, alle mit sehr unterschiedlichem Background. Die Gemeinde unterlag einer hohen Fluktuation. Jährlich wanderten über 1.000 Juden nach Deutschland ein, etwa 400 wanderten aus.9 

Mit der Zeit, gründeten sich neue jüdische Institutionen, so 1950 der Zentralrat der Juden in Deutschland oder 1953 der jüdische Frauenbund.10 All dies könnte als Beginn eines neuen deutschen Judentums verstanden werden.

Jedoch bildete sich in den ersten 20 Jahren nach Kriegsende kaum eine deutsch-jüdische Identität heraus. Besonders für die ältere Generation der ursprünglich aus Osteuropa stammenden Juden konnte Deutschland kein neues Zuhause werden. Freundschaftliche Kontakte mit der nichtjüdischen Bevölkerung waren nur selten vorhanden. Familie und Freundeskreis waren jüdisch. Die „Außenwelt“ Deutschland galt als fremd und wurde abgelehnt.

Ich habe für meine Arbeit damals viele Interviews geführt. Eines davon führte ich mit Ruth, die in den 70er Jahren in Eurem alter war. Sie beschreibt den Umgang ihrer Eltern mit der deutschen Umwelt folgendermaßen:11  


„Meine Eltern hatten eine völlige Trennung zwischen der Innen- und Außenwelt. Die Innenwelt war die jüdische, die Familie, Freunde, die Außenwelt - das war da, wo man zum Arbeiten hinging, wo man sich zurecht finden musste unter Leuten, denen man nicht vertrauen konnte, die man fürchtete, die man zum Teil auch verachtete“.12


Auch plagte viele Juden das schlechte Gewissen, im „Lande der Täter“ geblieben zu sein. Ein anderer Student, Hans Jakob schrieb hierzu:


„Die bewusste Entscheidung zur Fortsetzung und Neugründung jüdischer Existenz in Deutschland hat gewöhnlich weder auf individueller noch auf kollektiver Ebene je stattgefunden; die meisten Mitglieder der jüdischen Nachkriegsgemeinden sprechen davon, daß es sich in ihrem Fall „so ergeben habe“.


Viele Jüdinnen und Juden hatten immer noch Angst vor „den Deutschen“. Man verbot den Kindern in der Schule, den anderen Kindern von ihrem Judentum zu erzählen und auch die Eltern erzählten auf ihrer Arbeit nicht, dass sie Juden waren. Oft hofften die Eltern, dass die eigenen Kinder früher oder später aus Deutschland auswandern würden. Die eigene Präsenz auf deutschem Boden galt als vorläufig. Offiziell saß man auf gepackten Koffern.

Entsprechend wollten auch jüdische Jugendlichen und Studenten damals ihr eigenes Leben in Deutschland für sich selbst nicht akzeptieren. 1964 beantworteten bei einer Umfrage 73% der jüdischen Jugendlichen die Frage, wo sie zukünftig leben wollten, mit „Israel“. Nur 8% gaben an, sie wollten in Deutschland bleiben.13



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Diese Einstellung begann sich erst Anfang der 1970er Jahre zu verändern. Sehr langsam begannen jüdische Jugendliche und Studenten, ihre eigene Präsenz in Deutschland positiver zu werten. Sie fragten, ob Ziel der jüdischen Jugendarbeit wirklich die Auswanderung nach Israel sein müsse.


Dani: „Ich hab’ damals schon diese [...] Liquidationspolitik in den jüdischen Gemeinden sehr stark kritisiert und habe gesagt: Wenn ihr nicht an eure eigene Jugend glaubt [...],  wenn ihr der Meinung seid, alles müsse nach Israel, dann habt ihr doch selbst keine Zukunft in Deutschland. [...] Ich war nicht gegen Israel, ich war nicht dagegen, dass wir auch ein Zentrum als Juden, ein Zentrum im Staat Israel haben, ich hab’ nur gesagt: Die ausschließliche Erziehung junger Leute mit dem Ziel, nach Israel auszuwandern, ist falsch.“14


Ein Grund für diesen Stimmungswandel war sicherlich auch die Atmosphäre in Deutschland. Die Studenten der sogenannten 1968er Generation setzten sich erstmals kritisch mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinander und stellten auch zu Hause kritische Fragen, warum so wenige etwas gegen Hitler getan hätten, wie so etwas denn nur hätte passieren konnte. Es war eine Zeit, in der viele Studierende Utopien hatten, wie man eine bessere Welt aufbauen könnte, sei es durch den Sozialismus, sei es durch die sexuelle Revolution der Hippie-Bewegung. Auch viele jüdische Jugendliche und Studenten waren begeistert von solchen Ideen und fühlten sich weniger fremd von ihren Gleichaltrigen als früher.

Diese Stimmung kippte 1967. Im Nahen Osten brach ein Krieg aus, der später als der 6-Tage Krieg bekannt werden sollte. Ich will hier gar nicht auf die Einzelheiten und Hintergründe dieses Krieges eingehen. Die Interpretationen sind vielfältig.15 Da sich im Juni diesen Jahres der 40. Jahrestag jährt, wäre das vielleicht ein Thema für den Geschichts- oder Politikunterricht. Nur soweit. Viele Juden weltweit fürchteten damals um die Existenz des jüdischen Staates. Sie hatten Angst, dass Israel von den arabischen Staaten zerstört werden könnte. In der studentischen Linken kam es gleichzeitig zu einem radikalen Stimmungswechsel. Da Israel den Krieg gewann und gar Gebiete eroberte, warf man dem jüdischen Staat „Imperialismus“ vor und formulierte Forderungen, die die jüdischen Studenten überraschte und zur Verzweiflung brachte. Eine dieser Forderungen stammte vom SDS, vom Sozialistischen Deutschen Studentenverband, der 1970 forderte.


„Nieder mit dem chauvinistischen und rassistischen Staatsgebilde Israel.“


Ich möchte an dieser Stelle nur zwei Zitate anbringen, wie jüdische Studenten diese Zeit empfanden.


Dani: „Ich bin in die Uni gekommen als jüdischer Student, [...] und [ich] habe mich sehr einsam [gefühlt] [...]. Erst mal fühlt man sich einsam, unverstanden und dann aber auch sagt man, ja ihr habt ja überhaupt keine Ahnung, weder über Israel noch über den Nahostkonflikt.


Eine andere Studentin, Edith, beschreibt die Einstellung ihrer Mitstudenten an der FU-Berlin im Jahre 1972:


„Sie waren begeistert über den Ärger, den sie bei ihren Eltern verursachten, wie wenn der kleine Fritz zum ersten Mal vor dem Papi Scheiße sagt, so sprudelte ihnen das linke Vokabular aus dem Mund. Aber geändert hatte sich nichts. Juden, Judentum, Antisemitismus, mit all dem wollten sie eigentlich nichts zu tun haben. Die neue israelische Regierung war ihrer Meinung nach sowieso so schlimm wie die Faschisten. Galinski, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Berlin, ein Rechtsextremer. [...] Und immer wieder diese verlogene Logik: Wir sind Linke. Und Linke können keine Antisemiten sein.“16


Das Problem war hierbei nicht, dass jüdische Studenten nicht bereit gewesen wären, Kritik an der israelischen Politik zu akzeptieren. Die jüdische Studentenschaft war hier geteilter Meinung und in jüdischen Jugendzeitschriften hagelte es später an Kritik an israelischen Politikern wie Menachem Begin oder der rechtskonservativen Likudpartei. Doch es gibt einen Unterschied zwischen Kritik und Diffamierung.

Vielmehr verstanden viele jüdische Studenten, dass die Kritik an Israel durch die Kommilitonen teilweise durch antijüdische Vorurteile motiviert war und sehr wenig mit der eigentlichen Situation im Nahen Osten zu tun hatte. Besonders stutzig machte die Studenten, dass Israel so oft mit Nazideutschland verglichen wurde. Warum tat man so etwas, warum solche absurden Vergleiche? Wollte da jemand von der eigenen Geschichte ablenken?

Einige jüdische Studenten begannen, sich für Israel einzusetzen, Veranstaltungen zu organisieren um den nichtjüdischen Studenten eine andere Perspektive zu vermitteln, aufzuklären und ein anderes Israelbild zu zeichnen. Israel, so betonten diese Studenten, sei ein trotz allem ein demokratischer Rechtsstaat, der vielen äußeren Gefahren ausgesetzt ist. Die Frage aber bleibt, die für uns heute vielleicht interessant ist: Warum spielte Israel überhaupt für jüdische Jugendliche eine wichtige Rolle? Hätte man die Diffamierung nicht ignorieren können? Dort leben wollten die wenigsten, viele fühlten sich trotz aller Probleme in Deutschland kulturell zu Hause und wollten nicht „in den Orient“ ziehen – in ein Land, dessen Sprache sie nicht beherrschten und dessen Kultur ihnen fremd war.

Manche in diesem Raum werden vielleicht vermuten: „Na klar, Israel ist doch die religiöse Heimat der Juden. In den Gebeten und religiösen Texten spielt das Land doch eine wichtige Rolle:“ Aber: Die wenigsten Juden in Deutschland waren religiös. Genau wie heute in Berlin viele Menschen Weihnachten feiern, feierten jüdische Studenten evtl. einige der jüdischen Feste, aber die meisten religiösen Gebräuche und Gebote wie das koschere Essen waren den jüdischen Jugendlichen ebenso fremd wie die Idee, dreimal täglich beten zu gehen. Gott spielte zumindest in den 1970er Jahren für junge Juden oft die selbe Rolle wie für ihre christlichen Kommilitonen: Keine!



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Der starke Israelbezug hatte andere Ursachen:

Ruth bemerkt in Bezug auf ihre gelegentlichen Israelbesuchen dazu:


"Ich habe mich [in Israel] immer als eine Fremde gefühlt, es ist nicht meine Muttersprache, es ist nicht mein Lebensrhythmus, das Tempo, die Temperatur [...] es tickt einfach vollkommen anders als ich als Mitteleuropäerin [...] Es ist für mich ein anderes Land. Aber eines, was wichtig ist, weil natürlich mir auch klar ist, wenn ich hier in Deutschland nicht bleiben könnte, dann müssten sie mich nehmen, ob sie mich wollen oder nicht."17 


Einerseits war Israel für viele Juden das Land, in das man hätte flüchten können, wenn es wieder zu Ausschreitungen oder Pogromen kommen würde. Man empfand Israel als potentiellen Zufluchtsort. Dort hatte man vielleicht auch Familie, zu der man regen Kontakt pflegte. Israel war das Land, in dem Juden nicht mehr Minderheit zu sein brauchten, was sie sonst überall in der Welt waren. Israel war die Gewissheit einer Alternative, auch wenn man für sich (insgeheim?) längst beschlossen hatte, in Deutschland leben zu wollen.

Israel war für vielen Studenten ein fremdes und „orientalisches" Land, in welchem man nur „schwer glücklich werden kann“18, in welchem man jedoch im Falle eines Wiedererstarkens des Antisemitismus in Deutschland ein neues Zuhause finden könnte. Doch gerade die Zuschreibung Israels als „Fluchtort“ aus Deutschland sagt viel über das Verhältnis der jungen Juden zu Deutschland aus, auf welches ich nun noch kurz eingehen möchte.

Verhältnis zu Deutschland

Obwohl man sich ab den 1970er Jahren zu dem Leben in Deutschland bekannte, war die eigene Präsenz im „Land der Täter“ immer wieder ein Thema, über das man viel nachdachte. Wenn man sich anschaut, welche Themen jüdische Studenten selbst in den 1980er Jahren noch auf ihren Seminaren diskutierten, sind Themen wie :„Wie lebt es sich als Jude in Deutschland“, „Welche Stellung hat man in der deutschen Gesellschaft“, „Welche Aufgabe kommt Juden in Deutschland zuteil“ immer wieder zentral.
In einer Seminarankündigung 1979 hieß es:


„Wir werden uns auf dem Seminar mit uns selbst als Thematik beschäftigen, wie wir unsere Situation heute hier in der Bundesrepublik sehen, welche Identifikationsmöglichkeiten und -probleme sich ergeben und welche Wege es in der Zukunft gibt, unsere jüdische Identität zu erhalten und auszubauen.“


Die Studentin Dana bemerkte während einer  Jugend- und Kulturtagung 1977, dass in vielen Familien das Misstrauen gegenüber der deutschen Umwelt noch immer stark ausgeprägt sei. Dieses Misstrauen präge auch die Kinder, die mit starken Identitätskonflikten zu kämpfen hätten und weiterhin nicht wüssten, wie sie ihre Zukunft gestalten sollten.

Tatsächlich stellten sich insbesondere die Angehörigen der ersten Nachkriegsgeneration regelmäßig die Frage, wie die überlieferten Vorbehalte der Eltern gegenüber Deutschland, so deren oben erwähnte Unterscheidung zwischen positiver Innenwelt (jüdische Gemeinde) und negativer Außenwelt (restliche deutsche Gesellschaft) durchbrochen und eine eigene Einstellung entwickelt werden könne, ohne die Würde der Eltern sowie der sechs Millionen in deutschem Auftrag ermordeten Juden zu verletzen.


Ruth: „Ja, ich habe natürlich noch immer diese Hypothek der Eltern, diese Trennung von Innen- und Außenwelt mit mir herumgeschleppt, und da gab es auch gewissermaßen nur ein "entweder oder" [...]. Es gab [bei mir] die Phase während des Studiumbeginns, wo ich ganz in [die] Außenwelt eingestiegen war, wo mir das Studium ganz wichtig war und ich irgendwie weiter kommen wollte, und dann habe ich eben diesen Einstieg in den Studentenverband gefunden und dann wurde auf einmal diese Innenwelt immer wichtiger.“19 


Eine Kombination aus beiden Welten fiel vielen sehr schwer oder war damals vielleicht auch kaum möglich.

Fragen, die in diesem Zusammenhang auch gestellt wurde, waren: Darf man mit einem Nichtjuden/ Nichtjüdin eine „Liebesbeziehung“ eingehen.

Die Frage der Legitimität interkonfessioneller Ehen war in Deutschland wahrlich kein neues Thema. Wie bereits oben erwähnt, hatte ein Großteil der in Deutschland überlebenden Juden in sogenannten „privilegierten Mischehen“20 überlebt. Viele der Nachkriegsgemeinden wurden von „Mischehepartnern“ oder getauften Juden gegründet, was z. B. in Köln zu dem Umstand führte, dass kein einziger der in den ersten Vorstand gewählten Personen jüdisch verheiratet war.21  

Obwohl der jüdische „Mischehen“-anteil in der BRD konstant über 20, zeitweise sogar über 60 und 70 Prozent lag22, wurde diese Entwicklung meistens negativ gesehen. Viele der in einer interkonfessionellen Partnerschaft lebenden jungen Juden plagte ihr schlechtes Gewissen, keinen jüdischen Partner gefunden zu haben.23   

Die Diskussion um den Umgang mit interkonfessionellen Partnerschaften wiederholte sich im Laufe der Zeit, so 1984, als das Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland die Empfehlung formulierte, Personen, die in sogenannten „Mischehen“ leben, keine leitenden Funktionen in der Gemeinde und den Gemeindeverbänden zukommen zu lassen.24

Verhältnis zur jüdischen Religion


Aus einer religiösen Perspektive gesehen ist Deutschland seit 1945 eine Wüste [...] Die meisten Juden haben Kindergartenniveau, was ihre jüdische Bildung anbetrifft.25 


Während vor 1933 das deutsche Judentum insbesondere durch seinen religiösen Pluralismus und durch das Wissen, die intensive Pflege und die Erneuerung jüdisch-religiöser Inhalte glänzte, war in diesem Bereich nach 1945 die Zerstörung und Vernichtung durch das Naziregime am deutlichsten spürbar. Der Mangel an qualifizierten deutschsprachigen Rabbinern und Religionslehrern sowie die dem Zeitgeist entsprechende zunehmende Geringschätzung religiöser Werte und religiösen Wissens führte auch in der jüdischen Welt in Deutschland zu einem zunehmenden Desinteresse an der Religion.

Entsprechend war für die meisten jüdischen Studenten Religion lange Zeit ein „Unwort“.26 Religion war das, was Karl Marx darüber geschrieben hatte, und somit war für viele das Thema abgeschlossen. Dana betont in ihrem Interview, dass es in den 1970ern unter den jüdischen Studierenden keine frommen Menschen gegeben hätte. Die einzige Beschäftigung mit dem Judentum hätte evtl. darin bestanden, dass man versuchte, eine Symbiose zwischen den Ideen der neuen Linken und dem „Jüdisch-sein“  zu entwickeln.27 Man verstand sich als säkular. Als Peter Anfang der 1970er Jahre vorschlug, einen studentischen Pessach-Seder zu organisieren, erhielt er hierfür im Vorstand des Studentenverbands keine Mehrheit.28 Ein weiteres Beispiel für das Nicht-Interesse der jüdischen Studenten an der Religion zeigt das Protokoll der Jugend- und Kulturtagung des Zentralrats der Juden in Deutschland 1977 in Würzburg. Die Arbeitsgruppe „Synagoge und Liturgie“, welche von Rabbiner Joel Berger organisiert wurde, fiel wegen mangelnder Interessenten aus.

Entwicklungen heute:

Der Fall der Mauer und der Zustrom von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben das jüdische Leben in Deutschland grundsätzlich verändert. Gut 90% der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist in den letzten 17 Jahren nach Deutschland immigriert. Interessant für unser Thema ist die Tatsache, dass diese Juden grundsätzlich einen anderen Bezug zu Deutschland haben, da sie sich freiwillig für ein Leben in Deutschland, und nicht etwa in Israel, entschieden haben. Inzwischen haben auch viele internationale Organisationen, so die Ronald Lauder Foundation, die Jewish Agency for Israel und die World Union for Progressive Judaism begonnen, sich mehr für das aktuelle Judentum in Deutschland zu interessieren, in eigene Infrastrukturen zu investieren und somit die neu entstehende Gemeinschaft nach ihren Vorstellungen mit zu prägen. Dieses Engagement führt in Teilen des jüdischen Establishments zur Sorge die eigene Einflusssphäre zu verlieren. Doch das ist eine anderes Thema...

Für viele junge jüdische Studenten ist heute oberste Priorität, in Deutschland anzukommen, die Sprache zu lernen, einen guten Schul- oder Uniabschluss zu bekommen. Die deutsche Gesellschaft empfinden dabei viele (meiner Meinung nach zurecht) als integrationsfeindlich. Somit sitzen sie gewisser Weise zwischen allen Stühlen, denn auch die Minderheit der in Deutschland sozialisierten Juden sieht die Zuwanderung zwar mit Wohlwollen, aber auch mit viel Skepsis und empfindet Ängste. Die osteuropäisch-jüdische Identität unterscheidet sich oft von jener der „deutschen“ Juden, so z.B. beim Narrativ des 2. Weltkriegs: Viele russisch-jüdische Soldaten kämpften damals in der roten Armee und empfinden sich somit nicht nur als Opfer des Naziregimes, sondern auch als Sieger und Befreier – eine Tatsache, die auch die junge Generation russischstämmiger Juden mit Stolz erfüllt. Ein Veteranentreffen jüdischer Rotarmisten in der Synagoge oder Gemeinde empfinden viele der „Alteingesessenen“ jedoch als unpassend und unwürdig. Sie werfen den russischstämmigen Mehrheit eine „falsche“ jüdische Identität vor und fordern größere Anpassung an bestehende Identitätsmodelle.



ANMERKUNGEN



1 Arndt 1991.

2 Richarz 1988, S. 14.

3 Robert Weltsch (1891-1982) wurde insbesondere durch seine Redaktionstätigkeit in der Jüdischen Rundschau von 1919-1938 bekannt. Seinen bekanntesten Artikel Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck verfasste er anlässlich des von den Nazis organisierten Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April 1933.

4 zit. n. Heuberger 1998, S. 18.

5 Homann 2000, S. 131.

6 Bis 1959 kehrten zwischen 7000 und 11500 Remigranten zurück nach Deutschland. Vgl.: Burgauer 1993, S. 25.

7 Wolffsohn 1997, S. 168.

8 Burgauer 1993, S. 18ff.

9 Richarz 1988, S. 22.

10 Dieser wurde erstmals am 15.06.1904 anlässlich eines Internationalen Frauenkongresses in Berlin von Bertha Pappenheim gegründet. Vgl. hierzu
http://www.juedischerfrauenbund.org/css/geschichte.htm am 19.11.2004.

11 Auch Dana äußert sich entsprechend: „Meine Eltern, lebten hier, hatten aber keinen Kontakt zu Deutschen. Meine Eltern hatten überhaupt keine deutschen Freunde. Es war ein Problem für mich, deutsche Schulkameraden nach Hause einzuladen. [...] in anderen Familien war es ähnlich. Beziehungen zu Deutschen hieß auch immer, die Eltern zu verraten.“ In: Kropat 1983, S. 466.

12 Vgl. Interview mit Ruth. (Alle Namen meiner Interviewpartner wurden anonymisiert)

13 Heuberger 2000, S. 208.

14 Interview mit Dani.

15 Vgl. hierzu auch das neue Buch von Tom Segev: 1967 - Israels zweite Geburt.

16 O.N., Edith 1985, S. 143. Ähnlich äußert sich auch Fleischmann 1982.

17 Interview mit Ruth.

18 Vgl. Interview mit Peter.

19 Interview mit Ruth.

20 Unter einer „privilegierten Mischehe“ verstand man eine Partnerschaft zwischen einem Juden und einem Nichtjuden, deren Kinder Mitglied einer christlichen Kirche waren. Vgl.: Hilberg 1982, S. 294.

21 Vgl.: Burgauer 1993, S. 33ff.

22 Levinson 1988, S. 159ff, Burgauer 1993, S.99ff u. Wolffsohn 1999.

23 Vgl. Interviews von Sichrovsky 1985 und Rapaport 1997.

24 Vgl. Allgemeine vom 10.11.1985.

25 Ahren 1985 zit. nach Levinson 1988, S. 141.

26 Vgl. Interview mit Peter.

27 Vgl. Interview mit Dana.

28 Vgl. Interview mit Peter.


Der Autor

URIEL KASHI


ist ehemaliger Geschäftsführer des Bundesverbandes Jüdischer Studierender
in Deutschland und war von 2001-2007 als Bildungsreferent im Jüdischen Museum Berlin tätig.

Zurzeit lebt und arbeitet er als freiberuflicher Autor in Israel.