ONLINE-EXTRA Nr. 59
© 2007 Copyright bei Autor und Verlag
Die industrielle Vernichtung der europäischen Juden duch das NS-Regime unter Mitwirkung und Duldung weiter Teile der deutschen Bevölkerung ist das größte Verbrechen, dessen der Mensch bisher fähig war. Der Glaube an einen gütigen, dem Menschen liebevoll zugewandten Gott scheint dieser historisch einzigartigen Katastrophe Hohn zu sprechen.
Der Problematik dieses spannungsgeladenen Zwiespaltes, die im Kern auf die sogenannte Theodizeefrage, also der Frage nach einem guten Gott im Angesicht des Bösen, abzielt, widmet sich eine vor wenigen Wochen erschienene Publikation unter dem Titel "Das Heilige Nichts. Gott nach dem Holocaust". Das von Tobias Daniel Wabbel im Patmos-Verlag herausgegebene Buch versammelt eine beeindruckende Schar jüdischer und christlicher Autoren, Theologen, Philosophen, Historiker u.a., die sich mit verschiedenen Aspekten des genannten Problems auseinandersetzen. In dem Buch findet man Beiträge von Benedikt XVI., Ralph Giordano, Irving Greenberg, Hans Küng, Karl Lehmann, Jürgen Moltmann, David Rosen u.v.a. (Weiter Infos sowie das Inhaltsverzeichnis des Buches finden Sie in der Anzeige weiter unten).
COMPASS präsentiert Ihnen mit vorliegendem ONLINE-EXTRA online exklusiv das Vorwort des Herausgebers, Tobias Daniel Wabbel, sowie seinen eigenen Beitrag im Buch unter dem Titel: "Ein Gott der Geschichte?".
COMPASS dankt dem Autor sowie dem Patmos-Verlag für die Genehmigung zur Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 59
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Vorwort des Herausgebers
und
Tobias Daniel Wabbel: Ein Gott der Geschichte?
Das unfassbare Grauen geschieht. Die Einwohner Jerusalems werden durch das markerschütternde Heulen der Sirenen aus dem Schlaf gerissen. Verwirrung und Beunruhigung greifen um sich. Instinktiv werden Radios und Fernseher eingeschaltet. Der stoische Gleichmut, der sich in den letzten Jahrzehnten durch die Gewalt des Palästinakonflikts und die Hisbollah-Angriffe in das Bewusstsein der Israelis gebrannt hat, weicht jäh Panik und Verzweiflung, als die Stimme Israels meldet: „Die Bevölkerung wird aufgerufen, sich sofort in die Schutzäume zu begeben. Ich wiederhole...“
Internet, Telefon- und Mobilfunkleitungen kollabieren. Gerüchte von einem Giftgasangriff verbreiten sich. Die Stimme des Nachrichtensprechers bebt, als er die Ortung von Langstreckenraketen durch das Militär mit den Zielen Jerusalem, Haifa und Tel-Aviv meldet. Das Sirenengeheul steigert sich zu einem Crescendo des Schreckens. Das Militär wird mobilisiert. Gasmasken werden ausgeteilt. Der Verkehr bricht zusammen. Die Menschen flüchten in die Schutzbunker.
Doch es ist zu spät. Über der Heiligen Stadt verwandelt ein gleißender Lichtblitz die Nacht zum Tag. Ein Atompilz steigt in den Himmel und die Druckwelle eines brüllenden, nuklearen Feuersturms fegt in Bruchteilen von Sekunden Zeugnisse von Millennien biblischer Geschichte hinfort. Hunderttausende Menschen verglühen auf der Stelle. Noch bevor das Militär Vergeltung üben kann, schlagen weitere Nuklearsprengköpfe in Tel Aviv und Haifa ein. Millionen Menschen sterben in den nächsten Tagen an der radioaktiven Verstrahlung. Nur vierundzwanzig Stunden nach dem Angriff eskaliert der Konflikt zu einem nuklearen Armageddon ungeahnten Ausmaßes. Es ist der Beginn des dritten und letzten Weltkriegs.
Vor einem solchen apokalyptischen Schreckensszenario warnt eindringlich der israelische Historiker Benny Morris. Das heilige Land existiert noch – doch die Frage ist, wie lange. „Der zweite Holocaust wird nicht so sein wie der erste.“, so Morris. „Gewiss, die Nazis haben den Massenmord industrialisiert. Trotzdem standen sie ihren Opfern Auge in Auge gegenüber, waren manchmal auf Tuchfühlung mit ihnen. [...] Sie mussten die körperlich Fitten von den Nutzlosen trennen und sie in „Duschräume“ locken und das Gas über ihnen ausschütten und dann die Leichen entfernen oder dies wenigstens überwachen und die „Duschen“ für die Nachfolger vorbereiten. Der zweite Holocaust wird vollkommen anders aussehen.“1
So wie die Überlebenden von Auschwitz sich fragten, wo Gott war, als sein Volk in den Gaskammern ermordet wurde, würden sich zukünftige Überlebende des nuklearen Holocaust fragen, wie ein Gott der Geschichte dieses noch größere Grauen zulassen konnte.
Die alles überschattende Frage wäre: Ist Gott nur ein Heiliges Nichts? Ein spiritueller Irrtum? Interveniert Gott überhaupt nicht, wenn er erst den Holocaust in den Jahren 1938 bis 1945 und dann die Vernichtung Israels in der Zukunft zulässt? Liegt es also allein im Ermessen des Homo sapiens, das zukünftige Unheil durch seine Vernunft und gegenwärtiges Handeln von der Menschheit abzuwenden – und nicht in Gottes Händen?
Papst Pius XI. wollte handeln, er wollte nicht allein auf den Gott der Geschichte vertrauen. So prangerte er im August 1938 im Entwurf seiner Rassenenzyklika Humani Generis Unita (Die Einheit des Menschengeschlechts), die er durch die Jesuiten Gustav Gundlach, John LaFarge und Gustave Desbuquois verfassen ließ, den Antisemitismus in Deutschland an. Nachdem er bereits 1937 in seinem päpstlichen Rundschreiben Mit brennender Sorge die Judenverfolgung in Nazi-Deutschland verurteilt hatte, war es für Pius XI. durch die vielen beunruhigenden Berichte über dramatisch zunehmende Verfolgungen von Juden an der Zeit, einen schärferen Ton anzuschlagen. In der französischen Fassung dieses Entwurfs beklagte er im Abschnitt 132 über „Die gegenwärtige Verfolgung der Juden“: „Ist die Verfolgung einmal in Gang gekommen, dann werden Millionen von Menschen auf dem Boden ihres eigenen Vaterlandes der elementarsten Bürgerrechte und -privilegien beraubt.“2
Doch damit nicht genug, denn im Abschnitt 133, „Eine Frage nicht der Rasse, sondern der Religion“ greift er unverhohlen Hitlers Rassenwahn und die Judenverfolgung an: „Um den grundsätzlichen Irrtum dieser antisemitischen Politik, ihre Schädlichkeit und überdies ihre Wirkungslosigkeit gerade in bezug auf die Ergebnisse, die man erreichen möchte, klar zu begreifen, muss man sich auf die traditionelle Lehre der Kirche zu dieser Frage beziehen, auf ihre Haltung in der Praxis und auch auf die Lehren der Geschichte.“3
Pius XI. gestand hier die Fehler der katholischen Kirche ein, die den Antisemitismus durch die Jahrhunderte hinweg begünstigt hatte – beginnend mit Augustinus (354-430), der in den Juden nur aufgerührten Schmutz sah, der für den Tod von Jesus Christus verantwortlich war. Doch Pius XI. starb am 10. Februar 1939, bevor er diesen Entwurf einer Enzyklika absegnen und so zur Veröffentlichung freigeben konnte.
Sein Staatssekretär, Kardinal Eugenio Pacelli, der zu seinem Nachfolger gewählt wurde, behielt es sich vor, zu den kirchlichen Fehlbarkeiten gegenüber dem Judentum zu schweigen. Stattdessen entnahm er andere Passagen aus Humani Generis Unita, um sie am 20. Oktober 1939 in seinem eigenen päpstlichen Rundschreiben Summi pontificatus zu veröffentlichen. Der Rest der Enzyklika Humani Generis Unita verschwand im vatikanischen Geheimarchiv. Summi pontificatus enthielt einen Protest Pius XII. gegen die Besetzung Polens durch Nazi-Deutschland und verurteilte jede Form von Rassismus und Diktatur. Es sollte leider bei dieser harmlosen Beschwerde bleiben. Auch dann noch, als Gerhart Riegner, ein deutsch-jüdischer Anwalt, der von seinem schweizer Exil aus im Dienste des jüdischen Weltkongresses tätig war, im Sommer 1942 an Informationen gelangte, die Hitlers Absicht bestätigten, die europäischen Juden in Vernichtungslagern industriell zu ermorden. Anders als Pius XII., zögerte Riegner nicht und schickte Telegramme an die Regierungen in Washington und London. Von diesem Zeitpunkt an waren die Alliierten über den Völkermord informiert: „erhielt alarmierenden bericht in führerhauptquartier sei plan diskutiert und erwogen nachdem dreieinhalb bis vier millionen juden in den von deutschland besetzten gebieten nach deportation und konzentration im osten mit einem schlag vernichtet werden sollen um die judenfrage ein für alle mal zu loesen – stop.“4
Pacelli jedoch, der bereits 1942 durch seine Nuntiaturen über das Grauen in Auschwitz informiert war, zögerte mit einer öffentlichen Erklärung des heiligen Stuhls zum Holocaust. Er hatte zwei Seiten eines Entwurfs für eine Presseverlautbarung für den Osservatore Romano verfasst, die er jedoch verbrannte, da er befürchtete, dass ein öffentlicher päpstlicher Protest gegen den Völkermord an den europäischen Juden nur noch mehr Menschenleben kosten könnte.
Die spirituelle Schnittstelle zwischen Pius XII., Stellvertreter Christi genannt, und Gott war offenbar unterbrochen oder nie existent. Wie sonst ist es zu erklären, dass das göttliche Wunder, dass den Genozid am jüdischen Volk verhindert hätte, ausgeblieben ist? Warum schwieg Papst Pius XII., der das Schicksal der Welt und der europäischen Juden sprichwörtlich in seinen Händen hielt? Hatte er keine Eingebung? Warum erhörte Gott die Gebete des Papstes nicht? Hat Pacelli daher nur zu einem Heiligen Nichts gebetet, einem Gott, der nie existent war?
Pius XII. wird sich gefragt haben, wie Gott den Völkermord an den Juden Europas zulassen kann. Er wird sich ebenso gefragt haben, was er persönlich dagegen unternehmen kann – ihm hätte die enorme Wirkung einer verschärften Enzyklika bewusst sein müssen. Der deutschen-freundliche, antikommunistische Pacelli wusste durch seine diplomatischen Kanäle, dass die Alliierten frühestens 1942, doch spätestens 1944 durch Aufklärungsflüge und Spionageaktivitäten der militärischen Nachrichtendienste über die exakten geographischen Positionen der Vernichtungslager, der Schienenwege und der Giftgas-Produktionsstätten informiert waren und eine Bombardierung – die von Vertretern des jüdischen Weltkongresses wiederholt gefordert worden war – in Betracht zogen, doch immer wieder aus logistischen Gründen verwarfen.
So gelangt der renommierte US-Historiker Robert Katz zu der ernüchternden Schlussfolgerung, dass ein öffentlicher vatikanischer Protest durch Pius XII. gegen die Judenvernichtung die Weltöffentlichkeit wachgerüttelt und die Alliierten bereits 1942 zu frühzeitigem Handeln gezwungen hätte. Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill hätten dem Druck der Öffentlichkeit nicht standhalten können und trotz hoher Verluste unter den KZ-Häftlingen eine Bombardierung der Schienenwege und der Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, Sobibór, Treblinka und Majdanek befohlen. Der öffentliche Aufschrei der Empörung hätte Hitler gezwungen, die auf Hochtouren laufende Mordmaschinerie des Holocausts für unbestimmte Zeit auszusetzen. Hitler hätte es nicht gewagt, Pius XII. zu entführen oder gar zu ermorden, denn er hätte dadurch seinerzeit weltweit über 500 Millionen Katholiken gegen sich aufgebracht. Auch wäre im Falle eines päpstlichen Protestes der Widerstand innerhalb der Wehrmacht und in den Reihen der Generäle um Hitler gestiegen. Pläne für eine Absetzung oder Ermordung des „Führers“ wären wahrscheinlich geglückt. Somit wäre der Krieg viel früher beendet gewesen und die Weltgeschichte heute eine andere. Historiker Katz: „Am Ende müsste man zwar auch so von einem Holocaust sprechen, aber die „Endlösung“ wäre zum Scheitern verurteilt gewesen. Wir kommen wahrscheinlich der Wahrheit sehr nahe, wenn wir annehmen, dass von den 6 Millionen jüdischen und von den 5 Millionen nichtjüdischen Opfern, die zusammen mit den Juden umkamen, [...], bis zu 90 Prozent hätten gerettet werden können.“5
Doch so kam es nicht. Papst Pius XII., die Kardinale, die Bischöfe, aber auch die über 14.000 protestantischen Pfarrer in Deutschland schwiegen – und die Allierten bombardierten nicht die Vernichtungslager und ihre Schienenverbindungen. Warum versagte das Christentum? Warum griff Gott nicht in die Geschichte ein und ließ sein auserwähltes Volk im Stich? War der Holocaust vielleicht vom Beginn der Zeit an in Gottes kosmischem Plan vorhergesehen? Gibt es einen Sinn all des Leidens und des Sterbens in Auschwitz? Fragen, die in der Vergangenheit immer nur zaghaft gestellt wurden.
Die Debatte über eine neue Theologie nach Auschwitz wurde bezeichnenderweise in den Vereinigten Staaten von Amerika begonnen und nicht in Deutschland, dem Land der Täter. Der jüdische Theologe und Rabbi Richard Lowell Rubenstein prägte im Jahre 1966 nach dem Aufkommen der ersten Debatten über das Gottesbild nach dem Holocaust in seinem Buch After Auschwitz den Begriff „Holy Nothingness“ – Heiliges Nichts. Gott, so Rubenstein, ist im Angesicht des Grauens der Gaskammern und Verbrennungsöfen in den Vernichtungslagern nicht mehr als ein theologisches Vakuum, das die herkömmlichen jüdischen Auffassungen auflöste: Gott hatte nicht eingegriffen, weil er einfach nicht existent war. Der Gottesbund Israels hat keinen Bestand mehr, er ist nichtig geworden. Auschwitz ist der Beweis, dass Gott weder allmächtig noch gnädig oder liebend ist, sondern nur ein heiliges Nichts – ein Konstrukt des menschlichen Geistes.
Rubensteins Prämisse soll in diesem Buch hinterfragt werden: Ist Gott nur ein heiliges Nichts? Wenn dem nicht so ist, wie können wir das Grauen des Holocausts mit seiner allmächtigen Güte vereinbaren? Ein fundamentaler Aspekt der Debatte ist die Theodizee des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Leibniz postulierte, dass Gott zwar für das Übel in der Welt verantwortlich sei, weil er den Menschen in diesem besten aller möglichen Universen erschaffen habe, aber angesichts des Leids in der Welt ein gütiger und liebender Gott ist – göttlicher Determinismus und die menschliche Handlungsfreiheit, die auch böse Taten ermöglicht, schlössen sich daher nicht aus. Doch die Theodizee, die Verteidigung Gottes angesichts des Übels, wird durch die Vernichtung der europäischen Juden auf das Äußerste strapaziert. Für eine neue Theologie nach Auschwitz ist es daher unumgänglich, die theologischen Aspekte der Gottesfrage, die historischen Fakten der Schuldfrage und die philosophischen Konsequenzen der Sinnfrage des Holocausts unerschrocken und tabufrei zu beleuchten. Nach Sichtung dieser Aspekte ist es vielleicht möglich, den Ansatz einer Antwort auf die Zukunftsfrage des Gottesbildes der drei monotheistischen Weltreligionen und den künftigen Werdegang des Staates Israel nach der Shoah zu finden. Die Beiträge dieses Buches sind dementsprechend gegliedert.
Gewiss ist bereits jetzt, dass ein Paradigmenwechsel in der Gottesfrage überfällig und unumgänglich ist und nicht weiter verdrängt werden darf. Gott war deswegen nicht in den Vernichtungslagern, weil u.a. die Kirche schwieg und das Christentum – und vor allem die menschliche Vernunft – auf ganzer Linie versagte. Diesen Paradigmenwechsel zu bedenken, ist in Zeiten des wachsenden religiösen Fanatismus höchst bedeutsam, um, wie anfänglich geschildert, eine noch größere Katastrophe als die Vernichtung der europäischen Juden zu verhindern – nämlich einen zweiten, möglicherweise nuklearen Holocaust, der den Staat Israel auslöschen und die gesamte Menschheit in den Abgrund eines dritten Weltkriegs reißen könnte. Daher sind Zeichen der Versöhnung, wie die Erklärung „Nostra Aetate“ oder das Schuldbekenntnis und der Besuch Israels durch Papst Johannes Paul II. im Jahre 2000 bzw. 2003 von herausragender Bedeutung für die interreligiöse Verständigung. Papst Benedikt XVI. setzte im Jahre 2006 den eingeschlagenen Weg durch seinen Auschwitzbesuch und seine versöhnliche Ansprache fort.
Im Bewusstsein des unvorstellbaren Grauens der Shoah liegt es in unseren Händen und in der Verantwortung der gegenwärtigen und zukünftigen Generationen, den letzten Holocaust zu verhindern und neu aufflammenden Antisemitismus entschlossen zu bekämpfen. Die Schrecken und Abgründe der Shoah zu erinnern ist der erste und wichtigste Schritt, der Gefahr ihrer Wiederkehr entgegenzutreten.
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Tobias Daniel Wabbel (Hg.):
Das Heilige Nichts
Gott nach dem Holocaust
Patmos Verlag
Düsseldorf 2007
290 Seiten,
24.90 € (D), 25.60 € (A), 43.70 SFr (CH)
ISBN: 978-3-491-72510-2
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Vollständiges Inhaltsverzeichnis
Der planmäßige Versuch der Vernichtung des jüdischen Volkes in der NS-Zeit ist eines der größten Verbrechen der Menschheit. Die Grausamkeit des Massenmordes lässt fragen: Warum griff Gott nicht ein? – und seitdem führt kein Nachdenken über Gott und den Menschen mehr an Auschwitz vorbei.
Die Beiträge des Buches bedenken die Ungeheuerlichkeit des Ereignisses in seinen Auswirkungen auf die Gottesfrage aus jüdischer, humanistischer und christlicher Sicht: Ist der Gottesglaube völlig neu zu fassen? Sie stellen die historische Schuldfrage: Wie konnte aus einem christlichen Volk solches Morden erwachsen? Sie wenden sich der Sinn- und Zukunftsfrage zu: Gibt es eine tragfähige Antwort, die das Monströse des Geschehens nicht verdrängt? Was verhindert einen weiteren Holocaust?
Mit Beiträgen von Benedikt XVI., Edwin Black, Mark Ellis, Ralph Giordano, Irving Greenberg, Gideon Greif, Ofer Grosbard, Klaus Kühlwein, Hans Küng, Karl Lehmann, Jack Miles, Jürgen Moltmann, Christoph Münz, John T. Pawlikowski, Ralf Georg Reuth, Konrad Riggenmann, David Rosen, Richard Rubenstein, Tobias D. Wabbel.
von Tobias Daniel Wabbel 1.
„Es steht geschrieben!“
Arabisches Sprichwort
„Nichts steht geschrieben!“
Lawrence von Arabien
Die zentrale Frage des Buches ist, wie ein allmächtiger und liebender Gott den Holocaust zulassen konnte. Nähern wir uns einer Antwort auf diese Frage, indem wir über den theologisch-philosophischen Tellerrand hinausblicken und historische, aber auch naturwissenschaftliche Fakten in die Betrachtung einbeziehen.
Beginnen wir mit der Auskunft der Naturwissenschaft, dass das Universum nach aktuellsten astrophysikalischen Messungen vor 13,7 Milliarden Jahren aus einem Zustand unendlicher Dichte, unendlicher Hitze und unendlicher Ordnung entstand. Man vermutet, dass es durch den Urknall geschah. Zwei unumstößlich erscheinende Argumente für den Urknall sind die Expansion des Alls und die Hintergrundstrahlung im 2,7-Kelvin-Mikrowellenbereich. Das Weltall dehnt sich seit seinem Beginn immer schneller aus, die Temperatur sinkt, die Unordnung, die sogenannte Entropie, steigt an. Das Universum, in dem wir leben, zwingt uns durch die wachsende Expansion und die kosmische Abkühlung den kosmologischen Zeitpfeil aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Die unabänderliche Konsequenz daraus sind Vergänglichkeit und Tod – die monströsesten Konstanten im Universum. Wir Menschen balancieren jede Sekunde unserer Existenz auf dem rasiermesserscharfen Grat der Gegenwart, einem Grat, der ständig zwischen den Abgründen aus Vergangenheit und Zukunft verläuft. Die Vergangenheit ist jetzt für uns nicht real, sie ist eine abstrakte Welt, die nur durch menschliche Erinnerung und historische Quellen „existiert“. Die Vergangenheit kehrt – zumindest ohne gewaltige physikalische Anstrengungen – nicht mehr zurück und ist daher abgeschlossen: sechs Millionen ermordete Juden werden nicht wieder lebendig.
Die Zukunft ist diffus, ihre Möglichkeiten mögen unüberschaubar zahlreich sein. Gewissheit meinen wir nur darin zu haben, dass wir nicht immer unser jetziges Leben leben. Die Zukunft ist spekulativ, die Tatsache, dass die Taten der Gegenwart künftige Ereignisse beeinflussen oder bestimmen, wird oft verdrängt – und so nehmen Menschheitskatastrophen wie der Holocaust ihren Lauf. Die Ungewissheit der Zukunft veranlasst uns zu fragen, ob wir frei sind in unseren Handlungen, ob ein allmächtiger Gott das Geschick des Einzelnen wie die Geschicke des Universums lenkt. Ist also Gott, wenn er existiert, ein allmächtiger Herrscher über die Geschichte, wie es Islam, Christentum und Judentum zu glauben vorlegen?
2.
Das wichtigste Ereignis der biblischen Überlieferung finden wir im 2. Buch Mose geschildert: dem Buch Exodus. Moses hat nach seiner Flucht aus Ägypten, wo er einen der Aufseher, die sein geknechtetes Volk bewachten, erschlagen hatte, eine folgenschwere Begegnung auf dem Sinai. Er sieht sich vom Gott seiner Väter, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, angesprochen. Er, Mose, soll sein Volk aus der Knechtschaft befreien und er erfährt auch den Namen des Gottes, JHWH, was in der Übersetzung aus dem Hebräischen so viel heißt wie „Ich bin, der ich bin“ oder auch „Ich bin, der ich sein werde“. Andere Interpretationen gehen dahin, dass JHWH nichts anderes bedeutet als: „Ich werde da sein!“6
Gott begegnet auf dem Planeten Erde im Feuer eines Dornbuschs, obgleich es doch im All unendlich viele Möglichkeiten majestätischer Manifestationen gäbe. Gott übergibt Mose nach der Befreiung des Volkes auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben, du sollst dir kein Gottesbild machen, du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen, du sollst nicht morden, nicht ehebrechen, nicht stehlen ....7
Doch Gott geht noch weiter. Gott schließt mit Mose einen Bund: „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.“8
Von diesem Zeitpunkt an scheint das dramatische Schicksal des jüdischen Volkes besiegelt. Es ist ein auserwähltes Volk. Es sind beeindruckende Naturphänomene, in denen die Bibel Gottes Erscheinen vor seinem Volk darstellt – übernatürliche Ereignisse, über siebzig sind es an der Zahl. Das Metaphysische bricht mit aller Macht über den Nahen Osten herein.
Nun drängt sich aber folgende Frage auf: Wenn Gott immer wieder dem Volk Israel erschien, warum erscheint er heute nicht mehr in brennenden Dornenbüschen, in Feuersäulen, begegnet in einem Meer, das sich allen Naturgesetzen spottend teilt und das verfolgte Volk passieren lässt, in Wunderheilungen eines Mannes, von dem es heißt, dass er über Wasser gehen und selbst Tote auferwecken kann? Wo begegnet das Übernatürlichgöttliche in der Welt der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit in einem Universum, das von Naturwissenschaftlern bis in die entferntesten Winkel erforscht und erklärt wird? Krasser formuliert: Wo war Gott, als in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern das Volk seines Bundes in den Gaskammern ermordet wurde? Warum blieb das göttliche Wunder aus?
3.
Albert Einstein glaubte nicht an den Zufall. Der große jüdische Physiker glaubte an die Vorsehung. „An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs.“, schrieb Einstein in Mein Weltbild und seinem Freund, dem Quantenphysiker Max Born, gestand er, dass er überzeugter Determinist sei. Der Wille des Menschen wäre nicht frei, sondern unterläge den göttlichen Gesetzen des Universums. Einstein hielt bis zu seinem Tod standhaft am Determinismus fest: „Alles ist vorherbestimmt. Anfang wie Ende, durch Kräfte, über die wir keine Gewalt haben. Es ist voherbestimmt für Insekt nicht anders wie für Stern. Die menschlichen Wesen, Pflanzen oder der Staub, wir alle tanzen nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in den Fernen des Weltalls anstimmt.“9
Einsteins Auffassung konnten auch die bahnbrechenden Erkenntnisse u.a. der Physiker Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger und Nils Bohr nicht ändern, die mit der Formulierung einer Theorie zur Mechanik der Quanten, also der kleinsten Teilchen des Universums, das Weltbild der Physik auf ähnlich dramatische Weise revolutionierten wie Einstein selbst mit seiner speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie. Die sogenannte Heisenbergsche Unschärferelation besagt, dass es für einen Beobachter unmöglich ist, gleichzeitig die exakte Position und den Impuls eines Teilchens zu messen. Heisenberg folgerte aus seinen Berechnungen, dass kein quantenphysikalischer Zustand im Universum vorhergesagt werden kann – daher wäre kein Ereignis in der Zukunft gewiss oder determiniert. Einstein wollte das nicht glauben. Ihm war immer eine besondere Religiösität zu eigen, die einen vorhersehenden Gott in sein physikalisches Weltbild mit einbezog. Er war so ernüchtert über die neuesten Erkenntnisse der Quantenmechanik, dass er Max Born 1926 in einem Brief mitteilte, er glaube nicht, dass „der Alte“ würfele.
Einstein muss folgendes Paradoxon geflissentlich übersehen haben – nennen wir es Hitler-Paradoxon: Wenn jedes Ereignis in dieser Geschichte des Universums vorherbestimmt und nicht zufällig ist, wäre der Wille des Menschen nicht frei, wie Einstein glaubte. Daher wäre die Geschichte des Universums seit ihren Anfängen vor 13,7 Milliarden Jahren bis zum heutigen Tag bis auf das kleinste Ereignis vorherbestimmt und festgelegt. Was wie ein zufälliges Ereignis erschiene, wäre göttliche Fügung – unabhängig von seiner Grauenhaftigkeit. Zum „Zeitpunkt“ des Urknalls müsste also Gott bereits die Geburt eines gewissen Adolf Hitler geplant haben, der später von sich behaupten sollte, vom „Allmächtigen“ höchstpersönlich auserkoren zu sein, ausgerechnet das jüdische Volk zu vernichten. Jenes Volk, mit dem Gott über 13 Milliarden Jahre später im 2. Buch Mose seinen Bund schließen würde. Kann ein liebender Gott für sein auserwähltes Volk ein solch grausames, unabwendbares Schicksal vorherbestimmt haben?
Auch Adolf Hitler glaubte an die Vorsehung. In seiner luxuriösen Zuchthauszelle von Landsberg diktierte er seinem Sekretär und späteren Stellvertreter Rudolf Hess: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“10
Dieser Irrsinn erscheint im Juli 1925 in seinem Buch „Mein Kampf – Eine Abrechnung“ im Verlag Eher der NSDAP. Die Veröffentlichung wird durch die großzügige finanzielle Unterstützung reicher Parteigenossen möglich. Bis zum Jahr 1933, als Hitler zum Reichskanzler gewählt wird, werden mehr als 287.000 Exemplare des Buchs verkauft. Aus heutiger Sicht ein Bestseller. Im Jahre 1943 ist im Impressum des Buchs die Zahl von 10.240.000 Exemplaren vermerkt. Doch anscheinend hatten nur wenige Deutsche das Buch gelesen. Wenn doch, so hatte ein Großteil der deutschen Bevölkerung Hitlers Pläne bis zum 9. November 1938, der Reichspogromnacht, nicht ernst genommen.
Einstein jedenfalls beschließt, keinen Augenblick mehr zu zögern. Er hat Hitlers mörderisches Spiel durchschaut. Einstein gibt seinen deutschen Pass ab und tritt von allen Ämtern an der preußischen Akademie der Wissenschaften zurück. Im Dezember 1932 besteigt er in Antwerpen ein Schiff nach Los Angeles, um eine Vortragsreise anzutreten und setzt nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden. „Ich kann die Passivität nicht verstehen, mit der die ganze zivilisierte Welt auf diese moderne Barbarei reagiert. Sieht die Welt nicht, dass Hitler den Krieg zum Ziel hat?“, sagt Einstein im Oktober 1933.11
Niemand in Deutschland muss zu diesem Zeitpunkt so genial sein wie Albert Einstein, um zu erkennen, dass Adolf Hitler, wie er es in seinem Buch „Mein Kampf“ angekündigt hatte, die Juden auf diesem Planeten auszurotten gedenkt. Hitler will damit nicht nur das jüdische Volk vernichten, er will sogar den hebräischen Gott einäschern.
4.
Und das, was Hitler für den „Allmächtigen“ hält, scheint ihm wohlgesonnen zu sein. Denn Hitlers Machtergreifung gelingt erstaunlich reibungslos: General Paul von Hindenburg ernennt Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Am 27. Februar 1933 brennt der Reichstag. Hitler nutzt die Gunst der Stunde, um diesen von der SA inszenierten Anschlag den Kommunisten anzulasten, die er mit seiner „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ massenweise verhaften und deportieren lässt. Am 23. März 1933 verabschiedet der Reichstag das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das „Ermächtigungsgesetz“. Am 2. August 1934 vereint Hitler das Präsidentenamt mit dem Amt des Reichskanzlers und lässt die Streitkräfte auf seinen Oberbefehl vereidigen – somit kann Hitler ohne das Parlament regieren, neue Gesetze und „Führerbefehle“ erlassen, die seine Macht unangreifbar machen. Seit seinem ersten gewaltsamen Putschversuch am 9. November 1923 und seinem Marsch auf Berlin, sind nur knapp zehn Jahre vergangen. Hitler hat auf „legalem“ Wege die exekutive Macht und die totale Kontrolle über das deutsche Volk an sich gerissen. Im Ausland reagiert man nicht gerade mit Panik, als am 10. Mai 1933 die Werke von jüdischen und oppositionellen Intellektuellen in Berlin öffentlich verbrannt werden. Man beobachtet die Vorgänge zwar mit Argwohn, sieht aber keinen Grund zu handeln: Die Sozialdemokraten werden verboten und verfolgt, die Gewerkschaften aufgelöst, Presse und Rundfunk durch das Reichspropagandaministerium von Joseph Goebbels gleichgeschaltet. Die Verbreitung des Volksempfängers ermöglicht dem NS-Regime den Deutschen per Rundfunk den Judenhass einzutrichtern: Der „Führer“ erlässt am 15. September 1935 die Nürnberger Rassengesetze, denen zufolge Juden nur noch „Untermenschen“ mit niederen Instinkten sind. Diese fatale Entwicklung gipfelt vorläufig am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht. In ganz Deutschland werden mehr als 90 Juden getötet, Hunderte von Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte geplündert und zertrümmert. 20.000 Juden werden danach in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen deportiert.
Am 30. Januar 1939 erklärt Hitler, dass das Ergebnis eines Krieges gegen Deutschland nicht die Bolschewisierung der Welt sei, sondern die Vernichtung der „jüdischen Rasse“ in Europa. Hitlers Kriegsabsicht ist offensichtlich. Am 1. September 1939 überfällt Nazi-Deutschland Polen, und beginnt somit den Zweiten Weltkrieg. Hitlers Feldzug gegen die Juden in Osteuropa hat begonnen. England und Frankreich erklären Deutschland den Krieg. Am 22. Juni 1941 lässt Hitler Russland ohne Vorwarnung überfallen und „kündigt“ somit den Nichtangriffspakt mit Stalin. Heinrich Himmlers Einsatzgruppen der SS richten in Osteuropa grauenerregende Massaker an Millionen Menschen an. Es kommt zu Exzessen barbarischster Gewalt, die jegliches menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen. Als Einstein von der Judenvernichtung erfährt, sagt er 1944 in seinem Nachruf auf die Helden des Warschauer Ghettos: „Die Deutschen als ganzes Volk sind für diese Massenmorde verantwortlich und müssen als Volk dafür gestraft werden ... Hinter der Nazipartei steht das deutsche Volk, das Hitler gewählt hat, nachdem er ihm seine schändlichen Absichten in nicht misszuverstehender Form in seinem Buche und seinen Reden allgemein bekanntgemacht hatte.“12
Am 20. Januar 1942 diskutieren fünfzehn Männer in einer Villa am Ufer des Berliner Wannsees die Zukunft der europäischen Juden – zu einem Zeitpunkt als der Genozid bereits in vollem Gange ist und die Deutsche Reichsbahn Hunderttausende Juden über die Schienenwege nach Auschwitz und in andere Todeslager transportiert. Im Protokoll der Wannseekonferenz heißt diese „Endlösung“ offiziell noch Verlagerung der Juden nach dem Osten. Inoffiziell handelt es sich dabei um die industrialisierte Vernichtung eines ganzen Volkes. Allein im Monat August des Jahres 1943 werden 400.000 ungarische Juden in Auschwitz vergast. Tausende Kleinkinder werden bei lebendigem Leib in die brennenden Öfen geworfen, um Gas zu sparen. Von 1938 bis 1945 werden mehr als sechs Millionen Juden ermordet, allein 1,1 Millionen in Auschwitz-Birkenau. Der Holocaust, die Hölle auf Erden.
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5.
Wo war Gott? Wir kehren nach diesem historischen Exkurs zu unserer Ausgangsfrage zurück. Offensichtlich gibt es keine Spur eines göttlichen Eingreifens in der Zeit von 1933 bis 1945. Dabei wäre es für Gott unproblematisch gewesen, die Geschichte der Menschheit auch unauffällig zu beeinflussen, so dass ein Holocaust niemals stattgefunden hätte. Noch haarsträubend frustrierender wird es, wenn wir uns die versäumten Chancen Gottes ansehen:
Ein Gott der Geschichte hätte verhindern können, dass Hitlers Mutter Klara Pölzl ihren Ehemann, den Zollbeamten Alois Hiedler, kennenlernt. Adolf Hitler wäre nie am 20. April 1889 im österreichischen Braunau am Inn als viertes von sechs Kindern geboren. Nur Adolf Hitler und seine Schwester Paula überlebten das Kindesalter, die übrigen Geschwister starben sehr früh. Es hätte auch Hitler treffen können.
Hitler war ein durchschnittlicher bis schlechter, aber vor allem fauler Schüler. Er träumte nach seiner erfolglosen Schulkarriere von einer Existenz als Kunstmaler, doch die Wiener Kunstakademie lehnte ihn ab. In „Mein Kampf“ berichtet Hitler später über diese Zeit der Ablehnung und sozialen Isolation: „... und was damals mir als Härte des Schicksals erschien, preise ich heute als Weisheit der Vorsehung.“13
Hier hätte Gott die Geschichte so manipulieren können, dass Hitler an der Kunstakademie angenommen wird. Die Welt hätte ihre Ruhe gehabt.
Die nächste Gelegenheit wäre gewesen, den „Führer“ in den Selbstmord zu treiben, denn mit achtzehn Jahren verliebt sich Hitler im Linzer Vorort Urfahr unglücklich in die junge Stefanie Jansten, die sich nicht für ihn interessiert. Gegenüber seinem Freund, dem Pianisten August Kubizek, gesteht Hitler ein, dass er sich von einer Linzer Brücke in die Fluten der Donau zu stürzen gedenke. Hitler: „Ich halte es nicht mehr aus. Ich will Schluss machen!“14 Er hat bereits einen detaillierten Selbstmordplan ausgearbeitet. Es soll jedoch anders kommen, denn als der erste Weltkrieg ausbricht, sagt Hitler irgendetwas, dass er zu „Höherem“ berufen sei.
Hitler meldet sich am 16. August 1914 freiwillig zur Armee und kommt in das 6. Rekruten-Ersatz-Bataillon des 2. bayerischen Infanterie-Regiments Nr. 16. Das Glück, das ihm hier wiederfährt, ist unheimlich. Am 28. Oktober 1914 entkommt Hitler um Haaresbreite dem Kugelhagel in den umkämpften Schützengräben bei Ypern. In einem Brief schreibt Hitler: „Mir reißt ein Schuss den ganzen rechten Rockärmel herunter. Aber wie durch ein Wunder bleibe ich gesund und heil ...“ 15
Diese „Wunder“ wiederholen sich. Mitte November 1914 entkommt Hitler einem verheerenden Granateneinschlag, der drei seiner Kameraden tötet, nachdem er ein Zelt verlassen hat, in dem eine Besprechung über die Verleihung von Tapferkeitsorden stattfinden soll. Am 25. September 1915 soll der Meldegänger Hitler die Gefechtstände über einen bevorstehenden Großangriff der Engländer informieren und entkommt britischem Dauerfeuer.
Zu einer anderen Gelegenheit befällt Hitler plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Dem Zeitungskorrespondenten Ward Price schildert Hitler später einen historisch verbürgten Vorfall: „Ich war mit mehreren Kameraden beim Mittagessen in unserem Graben. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob eine innere Stimme mir sagte: >Los, steh auf und verschwinde hier.< Ich glaube das so klar und nachdrücklich zu hören, dass ich mechanisch gehorchte, als wenn es ein militärischer Befehl gewesen wäre. Ich stand auf und ging im Graben zwanzig Meter weit weg; mein Mittagessen im Kochgeschirr nahm ich mit. Dann setzte ich mich hin und war beruhigt. Ich hatte kaum wieder angefangen zu essen, als aus dem Teil des Grabens, den ich eben verlassen hatte, eine ohrenbetäubende Detonation zu hören war. Eine verirrte Granate war genau dort eingeschlagen, wo ich mit den anderen Kameraden gegessen hatte. Sie waren alle tot.“16
Auf Hitler wurden zweiundvierzig Attentate verübt. Manche dieser Mordversuche sind so sorgfältig geplant gewesen, dass sie eigentlich nicht misslingen konnten. So auch am 8. November 1939, als eine 20-Kilo-Bombe, versteckt in einer Säule hinter dem Rednerpult im Münchener Bürgerbräukeller, explodiert, acht Menschen tötet und dreiundsechzig verletzt. Der Attentäter, der Schreiner Georg Elser, wird noch am gleichen Abend während seines Fluchtversuchs in die Schweiz von der Grenzpolizei in Konstanz verhaftet. Hitler hatte 13 Minuten zu früh das Rednerpult verlassen, weil eine schlechte Wetterprognose ihn dazu bewogen hatte, statt mit dem Flugzeug mit dem Zug zurück nach Berlin zu fahren. Er kommt mit dem Schrecken davon. „Dass ich den Bürgerbräu früher als sonst verlassen habe, ist mir eine Bestätigung, dass die Vorsehung mich mein Ziel erreichen lassen will!“, deutet der „Führer“ die glückliche Fügung wenige Stunden später.17
Höhepunkt der Attentatsversuche ist der gescheiterte Versuch der Verschwörergruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 in der ostpreußischen Wolfsschanze. Eine Aktentasche mit einer Bombe ist so ungeschickt unter dem Kartentisch positioniert, dass die Wucht der Explosion gedämpft wird und Hitler nur mit einigen Schrammen davonkommt. Mal ist Hitler zu sehr durch die SS abgeschirmt, mal zündet eine Bombe in einem Flugzeug nicht, mal verlässt Hitler aus unerfindlichen Gründen einen bestimmten Raum, in dem sich ein Attentäter mit ihm zusammen in die Luft sprengen will. Hitler scheint den sechsten Sinn gehabt zu haben – er konnte den Tod wohl wittern wie eine Hyäne das Aas.
6.
Wo war Gott? Auch hier keine Spur von ihm. Dabei hätte er, wie gerade gesehen, genug Gelegenheiten gehabt, Hitler vom Erdboden zu tilgen oder ihm gar nicht erst eine Existenz auf diesem Planeten zu ermöglichen. Um ganz sicherzugehen, dass niemals ein Adolf Hitler geboren wird, dessen Absicht es ist, irgendwann das jüdische Volk zu vernichten, hätte Gott die Geschichte der Menschheit so vorsehen können, dass sie stets anders verlaufen wäre. Ein Gott der Geschichte hätte die Entstehung des Lebens auf der Erde oder gar die Entstehung des Universums verhindern können – denn er selbst wäre in seinem Schöpfungswillen frei. Doch das Universum existiert und in ihm eine Menschheit, deren Geschichte seit Jahrmillionen von Töten und Getötetwerden geprägt ist. War es also Gottes Wille, dass Hitler stets um Haaresbreite überlebte, um den Holocaust durchzuführen? Krasser: War es Gottes Wille, dass sechs Millionen Juden in den Vernichtungslagern ermordet wurden?
Welch absurde, wahnwitzige und gefährliche Vorstellung! Die Logik gebietet stattdessen eine rationale, aber erschreckende Denkweise: Gott verhindert das Leid auf der Erde nicht. Gott greift nicht in die Geschichte ein, weil er kein Gott der Geschichte ist. Kein Ereignis im Universum ist vorherbestimmt. Hitler war nicht durch den Allmächtigen auserwählt, das jüdische Volk zu vernichten und die Menschheit tanzt nicht nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in der Ferne des Weltalls anstimmt, wie Einstein glaubte. Der Zufall und der freie Wille des Menschen regieren die Welt. Adolf Hitler hatte pures Glück, mit dem Leben davongekommen zu sein.
Aktuellsten historischen Forschungen zufolge hatte Hitler die Vernichtung von über 500.000 aus Deutschland nach Palästina geflohenen Juden durch ein Einsatzkommando unter Erwin Rommel beabsichtigt.18 Doch die schwere Niederlage Rommels in Ägypten gegen die von Feldmarschall Montgomery befehligten britischen Truppen vereitelte Hitlers Plan, die Judenvernichtung im Nahen Osten fortzusetzen. Es war nicht Gott, der die Ausweitung des Holocaust nach Palästina verhinderte, sondern Hitler selbst, der Gott die Arbeit abnahm, in dem er Russland angriff und damit die Wehrmacht entscheidend schwächte. So war es nur eine Frage der Zeit, bis Nazi-Deutschland kapitulierte und besiegt war. Das Ursache-Wirkung-Prinzip regiert also das Universum und nicht göttliche Interventionen. Der Horror der Geschichte ist stets das Resultat der Aktivitäten von Menschen und nicht eines Gottes.
Nach Sichtung der Fakten drängt sich die schmerzhafte Schlussfolgerung auf, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass der biblische Gott Mose erschienen ist, und es ist ebenso unwahrscheinlich, dass Gott mit dem jüdischen Volk in einem Bundesverhältnis steht. JHWH wäre demnach nur ein allzu menschlicher Schutzmechanismus, um spirituell über die monströseste Konstante des Universums hinwegzukommen, die aus dem gnadenlosen kosmologischen Zeitpfeil aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft resultiert: den Tod. JHWH war mithin nicht da, als der Holocaust geschah, als sein Volk seine Hilfe am dringendsten benötigt hätte. Er war nicht da, weil er nicht in die Geschichte eingreift.
Schlussfolgerung
Die Konsequenz hieraus ist ein theologisch-philosophischer Paradigmenwechsel. In einer Zeit wachsenden religiösen Fanatismus und explosivem Fundamentalismus in den drei monotheistischen Weltreligionen ist allerhöchste Eile geboten für einen Sinneswandel, für ketzerische Gedanken, für eine neue Interpretation der heiligen Schriften, ja, der Gottesfrage. Wir müssen nun fragen, ob der biblische Gott nicht doch nur eine „Erfindung des Menschen“ ist, wie Nanrei Kobori, der verstorbene Abt des buddhistischen Tempels des leuchtenden Drachen in Kyoto, Japan, einst sagte: „Die Natur Gottes ist deshalb nur ein seichtes Mysterium. Das tiefe Mysterium ist die Natur des Menschen.“19
Die politische wie religiöse Forderung aus diesem Paradigmenwechsel ist ebenso dramatisch: die monotheistischen Weltreligionen müssen umdenken, bevor ein letzter Holocaust den Nahen Osten, vor allem Israel und das jüdische Volk vernichtet – und dadurch ein dritter Weltkrieg entsteht, der unsere Spezies endgültig vom Erdboden fegt. Nach all dem Grauen, das der Homo Sapiens angerichtet hat – und angesichts seiner unvorstellbaren Steigerung in der Menschheitskatastrophe des Holocaust –, sollten wir nicht fragen, ob wir noch an Gott glauben können. Nein, wir sollten uns fragen, ob Gott, wenn er existiert, noch an uns glauben kann.
Gott ist vielleicht der schöpferische Urgrund des Universums – endgültige Gewissheit darüber haben wir nicht. Die fein abgestimmte Naturgesetzlichkeit, die selbstorganisierende Prozesse und intelligentes Leben im All ermöglicht, lässt es uns annehmen. Wir haben allen Grund angesichts der Shoah und ihrer Opfer und um unserer selbst willen, Gott bis zum Letzten zu verteidigen: Gott ist in meinen Augen unschuldig. Wir haben allen Grund zu denken und zu handeln, als ob wir glaubten, der Mensch sei Gottes geliebtes Geschöpf, dessen Macht ihn durch den Tod tragen kann. Das könnte uns in die Lage versetzen, der beständig wachsenden Gefahr, dass sich die Menschheit selbst vernichtet, entgegenzutreten. Gott wird auch hier nicht eingreifen. Denn nur der Mensch ist seines eigenen Schicksals Schmied.
Weiterführende Literatur
Hannah Arendt, Über das Böse, Piper Verlag, München, 2003
Albrecht Fölsing, „Albert Einstein“, Suhrkamp, Frankfurt, 1995
Gideon Greif, Wir weinten tränenlos, Fischer, Frankfurt a.M., 2005
Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, Kindler, München, 1978
Stephen W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, Rowohlt, Reinbek, 1998
Adolf Hitler, Mein Kampf, Fr. Eher, München, 1943
Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Fischer, Frankfurt a.M., 1990
Guido Knopp, Sie wollten Hitler töten, C. Bertelsmann, München, 2004
Guido Knopp, Der Holokaust, Goldmann, München, 2001
Hans Küng, Existiert Gott?, Piper, München, 1995
Hans Küng, Das Judentum, Piper, München, 1999
John L. Mackie, Das Wunder des Theismus, Reclam, Leipzig, 1985
Jürgen Matthäus, Klaus Michael Mallmann, „Deutsche, Juden, Völkermord – Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2006
Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Pendo, Hamburg, 1999
Birte Petersen, Theologie nach Auschwitz?, Institut Kirche und Judentum, Berlin, 1996
R. Brockhaus, Das große Bibellexikon, Brunnen Verlag, Giessen, 1996
Mark Roseman, Die Wannseekonferenz, Ullstein, München, 2002
Simon Singh, Big Bang – Der Ursprung des Kosmos, Hanser, München, 2005
John Toland, Adolf Hitler, Weltbild, Augsburg 2004
Die Wannseekonferenz, Haus der Wannseekonferenz, Berlin, 2006
Elie Wiesel, Die Nacht, Herder Spektrum, 2005
ANMERKUNGEN
Vorwort
1 Morris, Benny, in Die literarische Welt, 6. Januar 2007
2 Passelecq, G. und Suchecky, B., Die unterschlagene Enzyklika, Carl Hanser, München 1997, S.261
3 Passelecq, G. und Suchecky, B., Die unterschlagene Enzyklika, Carl Hanser, München 1997, S.262
4 Knopp, G., Der Holokaust, Goldmann, München, 2002, S. 298.
5 Katz, R., S. 427, in Cowley, R. „Was wäre geschehen wenn?“, Droemer, München, 2004
Ein Gott der Geschichte?
6 Exodus 3, 14, vgl. Hans Küng, Existiert Gott?, Piper, München 1995, S. 680.
7 Exodus 20, 1-20.
8 Exodus 19, 5-6.
9 Einstein sagt, Piper, München 1999, S. 174.
10 Adolf Hitler, Mein Kampf, Zentralverlag der NSDAP., Frz. Eher Nachf., München, 1943, S. 70.
11 Einstein sagt, Piper, München 1999, S. 57.
12 Einstein sagt, München 1999, Piper Verlag, S. 58.
13 Adolf Hitler, Mein Kampf, Zentralverlag der NSDAP., Frz. Eher Nachf., München, 1943, S. 54.
14 John Toland, Adolf Hitler, Augsburg, 2004, S. 45.
15 John Toland, Adolf Hitler, Augsburg, 2004, S. 88.
16 John Toland, Adolf Hitler, Augsburg, 2004, S. 93.
17 Guido Knopp, Sie wollten Hitler töten, München 2004, S. 18.
18 Jürgen Matthäus/Klaus Michael Mallmann, Deutsche, Juden, Völkermord – Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart, (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 7) Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006.
Der Autor
Jahrgang 1973, ist Schriftsteller, Fachjournalist und Publizist. Er beschäftigt sich seit langem mit den theologischen und philosophischen Fargen der Menschheit, u.a. mit der Theodizeefrage in Verbindung mit dem Holocaust.
Wabbel ist Autor und Herausgeber u.a. der Werke SETI - Die Suche nach dem Außerirdischen (Beustverlag 2002), Im Anfang war (k)ein Gott - Naturwissenschaftliche und theologische Perspekiven (Patmos 2004), Leben im All - Positionen aus Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie (Patmos 2005).
Er arbeitet ständig an neuen Buchprojekten.
Website:
www.tobiasdanielwabbel.com