ONLINE-EXTRA Nr. 11
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Online-Extra Nr. 11
Verantwortung oder Verpflichtung? Verantwortung wird zumeist ‘übernommen’. Das klingt nach einem Akt freier und freiwilliger Entscheidung. Man überlegt, übernimmt – und dann trägt und zeigt man: Verantwortung. Oder man weist sie zurück, gibt sie irgendwann wieder ab, überträgt sie auf andere. Verpflichtung hingegen entspringt nicht einer freiwilligen Entscheidung. Sie ist zwangsläufige Folge von etwas Vorangegangenem: man hat eine Verpflichtung, ob man nun möchte oder auch nicht. Darin zeigt sich ein weiterer Unterschied: man hat eine (bestimmte) Verpflichtung – Verantwortung hingegen bedarf sprachlich keiner Konkretisierung, nicht einmal durch den sog. ‘unbestimmten’ Artikel. Verpflichtung kann – im juristischen Sinne – die Folge einer Tat sein, die Sühne, Strafe oder Entschädigung erfordert. Sie kann auch – im moralischen Sinne – logische Konsequenz der Übernahme von Verantwortung sein. Aber Verpflichtung beinhaltet ein Versprechen und einen „aus dem Vertrag oder Versprechen hervorgehenden Handlungszwang", wie das ‘Deutsche Wörterbuch’ erklärt. Verantwortung ist eine Idee, ein zunächst abstrakter Begriff, der keine klaren Folgen impliziert, stattdessen eine äußerst breite Palette möglicher Konsequenzen offen lässt: Verantwortung für die Umwelt, Verantwortung für Kinder, Verantwortung für Sicherheit und Frieden … – die Schlüsse aus diesen Verantwortlichkeiten können, wie täglich zu sehen und erfahren ist, geradezu diametral gegensätzlich ausfallen. Verpflichtung hingegen hat einen klaren Bezug zum Ursprung, zur Ur-Sache – und daraus resultieren sehr viel klarere Vorgaben, wie sich Verpflichtung demzufolge äußern muss: a) sie muss sich überhaupt äußern, sonst wäre sie hinfällig (‘Handlungszwang’); b) sie muss sich auf die Ursache beziehen, sonst wäre ‘das Thema verfehlt’; c) sie muss sich (zumindest auch) auf die ursächlich Betroffenen beziehen, sonst verlöre sie sich in Beliebigkeit. Nach dem ‘Duden’ beinhaltet Verantwortung auch die „Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass das jeweils Notwendige und Richtige getan wird“ und „für etwas Geschehenes einzustehen (sich zu verantworten)“. Demnach wäre Verpflichtung ein unverzichtbarer Bestandteil von Verantwortung, d.h. es gäbe keine Verantwortung ohne Verpflichtung – aber kann es denn Verpflichtung ohne Verantwortung geben? Kann es einen Handlungszwang ohne Verantwortung geben? Diese abstrus anmutende Frage ergibt sich aus einer genauen Betrachtung des frühen israelpolitischen Redens und Handelns von Deutschlands erstem Bundeskanzler, Konrad Adenauer, im Zusammenhang mit dem so genannten ‘Wiedergutmachungsabkommen’. „Die Bundesregierung und mit ihr die große Mehrheit des deutschen Volkes sind sich des unermesslichen Leides bewusst, das in der Zeit des Nationalsozialismus über die Juden in Deutschland und in den besetzten Gebieten gebracht wurde. Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt. Es hat in der Zeit des Nationalsozialismus im deutschen Volke viele gegeben, die mit eigener Gefährdung (…) ihren jüdischen Mitbürgern Hilfsbereitschaft gezeigt haben. Im Namen des deutschen Volkes sind aber unsagbare Verbrechen begangenen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten, sowohl hinsichtlich der individuellen Schäden, die Juden erlitten haben, als auch des jüdischen Eigentums, für das heute individuell Berechtigte nicht mehr vorhanden [so!] sind. (…)“1 So sprach Bundeskanzler Adenauer am 27. September 1951. Jedes Wort dieser Regierungserklärung – eine Voraussetzung für Gespräche über ein ‘Wiedergutmachungsabkommen’ – war in wochenlangen Verhandlungen mit Vertretern Israels abgesprochen, vielmehr denselben abgerungen worden. Jedes Wort ist hier wohl und lange überlegt, keines zufällig und unbedacht: nicht die Rede von der angeblich ‘überwiegenden Mehrheit’ voller Abscheu und den ‘vielen’ Hilfsbereiten, nicht die rhetorische Windung, dass die Verbrechen ‘im Namen des deutschen Volkes’ – und nicht etwa ‘von Deutschen’ – begangenen worden seien, und auch nicht die Vermeidung einer näheren Quantifizierung der Millionen ermordeter Juden, die somit als ‚die Juden' eine unbestimmte Menge und Gruppe bleiben. Und es ist ebenso wenig ein Zufall, dass Adenauer zwar von Verbrechen, nicht aber von Schuld spricht, und auch nicht von Verantwortung. Aber er spricht von Verpflichtung, und er nennt deren Ursache: unsagbare Verbrechen, begangen ‘in deutschem Namen’, an den Juden. Diese Erklärung ist die ‘Urschrift’ aller späteren Bekenntnisse deutscher Regierungen zu Verantwortung und/oder Verpflichtungen gegenüber Israel und den Juden, und sie benennt mit Tat, Tätern (bzw. dem Namen des ‘Tätervolkes’) und Opfern die Bezugsgrößen der künftigen deutschen Verpflichtung: das Thema, die Verpflichteten und die Adressaten. Die „ernste und heilige Pflicht … der moralischen und materiellen Wiedergutmachung“ Wie nun begriff Adenauer diese „ernste und heilige Pflicht“2 der ‘moralischen und materiellen Wiedergutmachung’ gegenüber den Juden, die Opfer von NS-Verbrechen geworden waren? Als erste Konsequenz aus dieser Verpflichtung kommt es zur Aufnahme von Verhandlungen zum Luxemburg-Vertrag, dem so genannten ‘Wiedergutmachungsabkommen’. Doch bei der ersten Bundestagsberatung über das Luxemburg-Abkommen erklärt der Bundeskanzler (am 4. März 1953): „Bei den Leistungen der Bundesrepublik an den Staat Israel handelt es sich nicht um Reparationen. (…) Die in dem Abkommen zugesagten Zahlungen sollen vielmehr den Staat Israel im Rahmen unserer Leistungsfähigkeit für die Lasten entschädigen, die ihm durch die Eingliederung von Hunderttausenden von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland und den ehemals unter deutscher Herrschaft stehenden Gebieten erwachsen sind oder noch erwachsen.“3 Hier offenbart sich eine interessante Logik: Reparationen werden abgelehnt, weil das Deutsche Reich gegenüber dem Staat Israel – der ja erst 1948 gegründet wurde – keine Kriegshandlungen begangen hatte, „die die Bundesrepublik zu Reparationen verpflichten könnten“4, mithin kein juristischer Anspruch begründet wäre. Jedoch: auch für die Entschädigung der Eingliederungslasten besteht kein juristischer Rechtsanspruch, nach Adenauers Verständnis noch nicht einmal eine ‘moralische Verpflichtung’ die er schließlich nur auf die Opfer der NS-Verbrechen bezogen hatte. Adenauer bekräftigte in derselben Debatte wenig später: „Die Bundesregierung hat das Abkommen abgeschlossen, um einer zwingenden moralischen Verpflichtung (…) nachzukommen, nicht jedoch zur Befriedigung eines völkerrechtlichen Anspruches des Staates Israel. (…) Der Staatsvertrag macht die moralische Verpflichtung zu einer Rechtsverpflichtung. Auf dem Gebiete der individuellen Wiedergutmachung entstehen Rechtsansprüche erst durch die innerdeutschen Gesetze.“5 Es ist anzunehmen, dass der erfahrene Politiker und Jurist Adenauer seine Worte sehr wohl sorgfältig abwog und wählte. Doch die Begriffe Verantwortung oder Schuld vermeidet Adenauer erneut während seines gesamten Vortrags, was insofern nicht verwundert, als Adenauer wiederum ‘Deutsche’ nur als Regime-Gegner erwähnt, während die Verbrechen lediglich „unter Missbrauch des Namens des deutschen Volkes“ begangen worden seien. Also: keine Schuldanerkennung, keine Verantwortungsübernahme, und dennoch eine Pflicht – jedoch keine juristische, sondern eine moralische. Moralische Verpflichtung ohne Schuld und Verantwortung? „Wiedergutmachtung“ gegenüber Israel eine Pflicht – mehr nicht Man mag einwerfen, dass Adenauer diesen begrifflichen Spagat nur gewählt habe, um bei Politikern und Bevölkerung mehr Zustimmung für ein Abkommen mit Israel zu gewinnen, und weil den Deutschen ein Schuld- oder Verantwortungs- Eingeständnis damals nicht ‘zuzumuten’ gewesen sei, schließlich musste zuerst „die psychologische Basis beim deutschen Volk vorbereitet werden“6, wie Adenauers Berater Herbert Blankenhorn damals erklärte. Beide Erklärungsversuche werfen ein bezeichnendes Licht auf die diesbezüglichen Befindlichkeiten in Gesellschaft und Bundestag. Aber es entschuldigt die verharmlosende und relativierende Wortwahl Adenauers nicht. Andere Politiker wie Kurt Schumacher (SPD) oder Theodor Heuss (FDP) hatten sich schon früher als Adenauer sehr viel mutiger und klarer zu Schuld und Verantwortung geäußert. Nein, man kann und muss davon ausgehen, dass Adenauer mit seiner auf den ersten Blick unscheinbaren, dann aber raffinierten Wortwahl durchaus seine eigene Haltung zum Ausdruck brachte: Er betrachtete die ‘Wiedergutmachung’ gegenüber Israel in der Tat als Pflicht – aber nicht mehr. Er sprach (in diesen Jahren) nicht aus tiefer ethisch-moralischer Überzeugung, sondern aus realpolitischen Erwägungen: Adenauer wollte die Westintegration (aus politischen und wirtschaftlichen Gründen), und dazu musste er zwingend eine Politik der Verständigung gegenüber Israel und den Juden betreiben. Es war dem weitsichtigen Politiker vollkommen klar, dass „die Art, wie die Deutschen sich den Juden gegenüber verhalten werden, die Feuerprobe der deutschen Demokratie sein wird“7, und darüber hinaus auch die Feuerprobe des angeblich ‘gewandelten Charakters’ der Bundesrepublik, den Adenauer propagierte und für den er stand. Überdies aber vermutete er einen enormen Einfluss der amerikanischen Juden auf die US-Regierung und -Wirtschaft, insbesondere auf die amerikanischen Großbanken. So ist es bei einem Realpolitiker, der Adenauer war, nur konsequent und doch aufschlussreich, wenn er eine ‘Wiedergutmachung’ zuallererst mit deren Unausweichlichkeit begründet, „wenn wir wieder Ansehen unter den Völkern gewinnen wollten. Und weiter: Die Macht der Juden, auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen. Und daher habe ich (…) meine ganze Kraft drangesetzt, so gut es ging, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem jüdischen Volk und dem deutschen Volk[MW1].“8 Man beachte: Die Macht der Juden … und daher hat sich Adenauer für ‘Versöhnung’ und ‘Wiedergutmachung’ eingesetzt. Adenauer sieht sich ‘in die Pflicht genommen’ – nicht von äußeren Mächten, auch nicht durch eine Schuld, die er ja nirgends anerkennt oder eingesteht, nein, der ‘Handlungszwang’ einer Pflicht ergibt sich schlicht und ausschließlich aus Adenauers eigenen (außen-)politischen Hauptzielen, nämlich Westintegration und Wirtschaftsaufbau (und dann, faktisch weit nachgeordnet und nur wenn es sich mit Erstgenannten vereinbaren ließe, die Wiedervereinigung Deutschlands). Es ist ein geradezu preußisches Pflichtverständnis, das mehr nach der sprichwörtlichen ‘verdammten Pflicht und Schuldigkeit’ klingt als nach ‘moralischer Verpflichtung’. Denn Verantwortung übernimmt Adenauer nicht. Kein Schuldeingeständnis, keine Verantwortung für Geschehenes und die Lehren daraus – was bleibt, unausweichlich bleibt, ist die Verpflichtung zur materiellen Entschädigung. Eine Haltung, die an jene Männer erinnern mag, die Vaterschaft und Fürsorge für ein Kind ablehnen und ihre ‘Verantwortung’ (günstigen Falles) auf Unterhaltszahlungen beschränken, zu denen sie gesetzlich verpflichtet sind. Kann das sein, wird mancher fragen, und der empörte Aufschrei einiger Adenauer-Biografen ist förmlich zu hören: Versöhnung mit Israel als ‘ungeliebtes Kind’ Adenauers, der doch (übrigens auch in Israel) als großer Versöhner gerühmt wird? Annäherung an Israel, was üblicher Weise zu den größten Verdiensten Adenauers gezählt wird, aus reiner Pflichterfüllung, ohne Herz und ohne innere Einsicht? Adenauer hat in dieser Frage mit den Jahren zweifellos eine Wandlung durchgemacht. Doch es wird Zeit, auch auf die gerne unterschlagenen ersten Jahre seiner Regierungszeit zu schauen, auf die Anfänge der deutsch-israelischen Kontakte. Wie hat sich Adenauers Haltung darin geäußert?
Deutsch-israelische Beziehungen sind auf allen Ebenen – von zwischenmenschlich bis zwischenstaatlich – von den Begriffen ‘Verantwortung’ und ‘Verpflichtung’ begleitet. Dabei zeigen sich stets zwei Probleme: Erstens werden diese Termini zumeist synonym verwendet, und zweitens werden sie selten erklärt oder definiert. Man verwendet auf beiden Seiten dieselben Begriffe ohne zu klären, was man meint, und vor allem: ob man dasselbe meint, von dem Gleichen redet. Eine erschöpfende Begriffsbestimmung kann hier nicht erfolgen, doch einige Aspekte sollen erwähnt werden.
MARKUS WEINGARDT
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Für „jeden ermordeten Juden eine DM und sechzig Pfennige“ Adenauer war bestrebt, „Deutschland aus der Tiefe wieder emporzuheben[MW2]“.9 Wie bereits erwähnt brauchte er dazu dringend ein Abkommen mit Israel, das den Westmächten zufriedenstellend zeigen würde, dass die Bundesrepublik Deutschland nichts mehr mit dem nationalsozialistischen ‘Deutschen Reich’ gemein hätte. Also wurden bald nach Adenauers Regierungserklärung vom September 1951 Verhandlungen mit Israel über ein ‘Wiedergutmachungsabkommen’ aufgenommen. Schon früher hatte Adenauer als „erstes, unmittelbares Zeichen“10 für seinen Wiedergutmachungs-Willen Israel Waren im Wert von 10 Millionen DM angeboten. Angesichts der unschwer zu schätzenden Dimension der materiellen Verluste von Juden im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich war dies eine lächerliche, oder besser: unverschämte Summe, die in Israel höhnische Kommentare hervorrief, Adenauer würde „in makabrer Art für jeden ermordeten Juden eine DM und sechzig Pfennig bieten“.11 Bei den nunmehr aufgenommenen Verhandlungen, geführt im niederländischen Wassenaar bei Den Haag, ging es um andere Summen: Im Vorfeld hatte Adenauer dem Vertreter der ‘Claims Conference’ (Dachorganisation jüdischer Flüchtlingsverbände), Nahum Goldmann, schriftlich die Summe von 4 Milliarden DM als Gesprächsgrundlage bestätigt. Doch als es ernst wurde, ruderte die deutsche Regierung hektisch zurück. Zwar hatten die deutschen Delegationsleiter, Prof. Franz Böhm (Frankfurt) und Rechtsanwalt Otto Küster (Stuttgart), die israelischen Forderungen schon bald als „gemessen an der Höhe des zugefügten Schadens, ohne Zweifel durchaus gemäßigt“ anerkannt: „Es wird nichts Unbilliges verlangt.“12 Doch unter dem Druck Adenauers mussten sie den ‘Preis’ herunter handeln. Nach wenigen Wochen präsentierten Böhm und Küster einen Kompromissvorschlag über 3 Milliarden DM. Der israelischen Seite schien dies zu Wenig, der deutschen Regierung noch immer viel zu hoch. Es begann ein unwürdiges Feilschen um Tote und Flüchtlinge, um Eingliederungskosten, ‘erbenlose Ansprüche’ und die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Adenauer, unter starkem Einfluss seines Beraters Hermann Josef Abs (seit 1938 (!) Vorstandsmitglied der Deutschen Bank) und des Finanzministers und erbitterten Abkommens- Gegners Schäffer (CSU), drängte weiter und weiter auf eine geringere Entschädigungssumme. Der israelische Delegationsleiter Giora Josephtal schrieb damals an seine Frau: „Die Deutschen haben eine große Chuzpe, und unter sich sagen sie, wir seien so am Boden, dass wir nach allem grapschen werden, was wir bekommen können[MW3].“13 Diese für die Bundesregierung durchaus zutreffende Feststellung galt allerdings nicht für Böhm und Küster, die schließlich unter deutlichem Protest als Verhandlungsleiter zurücktraten. Inhaltlich konnten sie die Vorgaben der Bundesregierung nicht mehr guten Gewissens vertreten, doch darüber hinaus beklagten sie – wie auch die israelische Delegation – den fehlenden „aufrichtigen Willen für eine Vereinbarung“14 seitens der Bundesregierung, ja mehr noch: Küster zweifelte – indirekt immer auch an Adenauer gewandt – gar die Ehrlichkeit von Abs und Schäffer an und unterstellte letzterem, „kein Gefühl für die moralische und ethische Verpflichtung gegenüber den Juden[MW4]“15 zu haben. Erst als dadurch der erfolgreiche Abschluss einer Vereinbarung mit Israel ernsthaft gefährdet war und folglich ein Rückschlag für Adenauers Image und außenpolitische Ambitionen drohte, lenkte der Kanzler ein. Er bat Franz Böhm, die Gespräche wieder aufzunehmen, obschon er der Auffassung blieb, dieser würde nicht mit der nötigen Härte verhandeln und dadurch die Bundesrepublik teuer zu stehen kommen (– weshalb er später auch ablehnte, Böhm für das Bundesverdienstkreuz vorzuschlagen).16 Küsters Rücktritt hingegen wurde nicht ungern akzeptiert, denn „seine gewissensbetonte und freundschaftliche Haltung störte vor allem Adenauer und Schäffer“.>referenz 17> Gewissensbetont und freundschaftlich – so weit sollte die ‚moralische Verpflichtung, die ‘Versöhnung’ und Annäherung an Israel offenbar nun doch nicht gehen. Schließlich ging es für Adenauer nicht um eine Gewissensfrage, gar ein ‘schlechtes Gewissen’, auch nicht um Schuld und auch nicht um Israel – es ging um Deutschland, und es ging um Pflicht! Nun einigte man sich rasch auf Waren und Dienstleistungen an Israel im Wert von 3,45 Milliarden DM (einschließlich 450 Millionen DM für die Claims Conference), zu liefern über einen Zeitraum von 12 Jahren.18 Der Deutsche Bundestag stimmte am 18. März 1953 mit 239 Ja-Stimmen von 360 abgegebenen Stimmen dem Vertragswerk zu (41 Abgeordnete waren der Abstimmung ferngeblieben). Dabei befürwortete nicht einmal die Hälfte von Adenauers Regierungskoalition das Abkommen, doch das geschlossene Votum der oppositionellen SPD verhinderte eine Blamage für die Bundesregierung und Adenauer persönlich. Entscheidend war für Adenauer jedoch, dass nach der Ratifizierung des Abkommen „die Bundesregierung nunmehr durch die Tat den feierlich versprochenen Abschluss eines für jeden Deutschen traurigsten Kapitels unserer Geschichte“19 verkünden konnte, und damit der Weg frei war für ein „ganz neues Verhältnis zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volke" wie auch für eine „Normalisierung der Beziehungen“20 zwischen Deutschland und Israel. Schlussstrich, Neuanfang und Normalisierung im Jahre 1953! Hatte Adenauer wirklich begriffen, was im ‘Dritten Reich’ geschehen war? Oder ging es ihm bei alledem im Grunde um etwas ganz anderes? – „Der Name unseres Vaterlandes muss wieder die Geltung bekommen, die der geschichtlichen Leistung des deutschen Volkes in Kultur und Wirtschaft entspricht.“21 Wider den Mythos vom „Freund Israels“ Nein, die Entwicklungsgeschichte des Luxemburg-Vertrages ist wahrlich kein Ruhmesblatt für Adenauer. Sein Terminus von der ‘moralischen Verpflichtung’ ist in sich widersprüchlich und unzutreffend bezüglich seiner eige eigenen Haltung: Er beschränkte sich ganz bewusst auf die Pflicht und damit auf jenen Teilaspekt von Verantwortung, der eben ohne ‘Moral’ auskam. Eine moralische Komponente, wie sie ein Schuldeingeständnis oder eine ausdrückliche Verantwortungsübernahme zwangsläufig mit sich gebracht hätten, lehnte er ab. Adenauer fügte sich in die Pflicht, in das realpolitisch Notwendige und Unausweichliche, aber er tat es nicht aus Verantwortung oder gar weil er sich persönlich schuldig gefühlt hätte.22 Mit Blick auf die wichtigen Jahre 1949 bis 1953 – existentiell für den jungen Staat Israel – muss der Mythos, das sorgsam gepflegte Bild Konrad Adenauers korrigiert werden: Er war kein inniger Freund Israels noch der Juden, er fühlte sich moralisch weder (mit- )schuldig noch (mit-)verantwortlich, er hatte kein ernsthaftes Interesse an Versöhnung und echter Beziehung. Das zeigen seine Worte und Taten in dieser Zeit. Sein israelpolitisches Denken kreiste um Begriffe wie Pflicht, Gesetz, (materielle) ‚Wiedergutmachung' und Normalisierung. Wohl wurde Adenauer mit den Jahren interessierter, mutiger und großzügiger gegenüber Israel, etwa bezüglich Wirtschaftshilfekrediten oder Waffenlieferungen. Doch eines wagte er trotzdem nicht in den 14 Jahren seiner Regierungszeit: das klare politische Bekenntnis zu Israel vor aller Welt – die Aufnahme diplomatischer Beziehungen.
ANMERKUNGEN
1 Adenauer, zitiert nach Auswärtiges Amt (Hg.): Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994. Verantw. Reinhard Bettzuege. Köln 1995, S. 185 f.
2 Zit. n. Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 1. Wahlperiode 1949, Stenographische Berichte Band 16, S. 12092.
3 Zit. n. ebd., S. 12093.
4 Zit. n. ebd., S. 12093.
5 Zit. n. ebd., S. 12093 f.
6 Blankenhorn, zit. n. Inge Deutschkron: Israel und die Deutschen. Köln 1991, S. 19.
7 Äußerung des amerikanischen Hochkommissars für Deutschland, John McCloy, am 30.7.1949 in Heidelberg. Neue Zeitung vom 31.7.1949, zit. n. Kurt Birrenbach: Meine Sondermissionen. Rückblick auf zwei Jahrzehnte bundesdeutscher Außenpolitik. Düsseldorf/Wien 1984, S. 84.
8 Adenauer, zit. n. Jekutiel Deligdisch: Die Einstellung der Bundesrepublik Deutschland zum Staate Israel. Bonn/Bad Godesberg 1974, S. 21.
9 Konrad Adenauer: Erinnerungen. Bd. 1, 1945-1953. Frankfurt/M. 1967, S. 47. Vgl. ebd., S. 236 f.: „Vertrauen zu uns Deutschen zu schaffen, war (…) das oberste Gebot“, und es musste alles vermieden werden, „was geeignet war, wieder Misstrauen gegen uns zu wecken“.
10 Adenauer, zit. n. Deutschkron 1991, a.a.O., S. 12.
11 Yeshayahu A. Jelinek (Hg.): Zwischen Moral und Realpolitik. Deutsch-israelische Beziehungen 1945-1965. Gerlingen 1997, S. 15.
12 Brief von Böhm an Adenauer, zit. n. Rolf Vogel: Der deutsch-israelische Dialog. München 1987, Bd. 1, S. 63.
13 Brief vom Mai 1952; zit. n. Deutschkron 1991, a.a.O., S. 56.
14 Otto Küster in seinem Rücktrittsgesuch, zit. n. Deutschkron 1991, a.a.O., S. 56.
15 Küster, zit. n. ebd., S. 56.
16 Vgl. Rudolf Morsey/Hans-Peter Schwarz (Hg.): Adenauer – Heuss: Unter vier Augen. Gespräche aus den Gründerjahren 1949-1959. Berlin 1997, S. 120.
17 Jelinek 1997, a.a.O., S. 28.
18 Zum Vergleich: Alleine im Jahr 1952 betrug der Bundesetat für die innerdeutsche Flüchtlingshilfe 2,9 Mrd. DM. Näheres in: Markus A. Weingardt: Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Frankfurt/M. 2002, S. 85.
19 Adenauer, zit. n. Verhandlungen des Deutschen Bundestags, a.a.O., S. 12092.
20 Adenauer, zit. n. ebd., S. 12095.
21 Adenauer, zit. n. ebd., S. 12092.
22 Fraglich ist selbst, ob Adenauer für das deutsche Volk eine Schuld annahm, denn im Bundestag spricht er von der Pflicht des deutschen Volkes „zu helfen, auch wenn dabei von uns, die wir uns persönlich nicht schuldig fühlen, Opfer verlangt werden (…)“; zit. n. ebd., S. 12092.
Der Autor
promovierte und publiziert über die deutsche Israelpolitik. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Weltethos (Tübingen) und Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen; zurzeit arbeitet er an einem Forschungsprojekt zum Friedenspotential von Religionen in politischen Konflikten. Hauptwerk: „Deutsche Israel- und Nahostpolitik. Die Geschichte einer Gratwanderung seit 1949.“ Campus Verlag, Frankfurt/Main 2002.