Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 30

April 2006


COMPASS dankt der Autorin für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

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Online-Extra Nr. 30


Jüdische Schicksale

Peter Weiss und der Holocaust



ANJA SCHNABEL



In dem folgenden Vortrag mit dem Titel “Jüdische Schicksale - Peter Weiss und der Holocaust” möchte ich Ihnen in einem ersten Teil das Leben von Peter Weiss vorstellen, um in einem zweiten ausführlicheren Teil auf Weiss’ bildkünstlerisch und literarisch skizzierte Holocaust-Bilder einzugehen. Weiss’ mentale Auseinandersetzung mit dem Rassenmord soll hierbei ebenso im Vordergrund stehen wie seine nicht minder wichtige Erinnerung an die Toten.

Ich beginne mit dem ersten Teil: dem lebensgeschichtlichen Abriss.

Peter Ulrich Weiss wird am 8. November 1916 in Nowawes (Neubabelsberg) bei Berlin geboren. Sein Vater, Eugen Weiss, ist Jude ungarischer Herkunft. Nach dem Ersten Weltkrieg nimmt er die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an. Seine Mutter, Frieda Franziska Weiss, geb. Hummel, stammt aus Basel. Sie ist Schauspielerin, als Eugen Weiss sie 1914 kennenlernt. Zu diesem Zeitpunkt ist Frieda bereits geschieden. Aus ihrer ersten Ehe mit dem zwanzig Jahre älteren Ernst Thierbach hat sie zwei Söhne: Arwed und Hans. Als sie 1915 - nach jüdischem Ritus - mit Eugen Weiss die Ehe schließt, ist sie 30 Jahre alt.

Peter ist das erste von vier Kindern. 1920 folgt die Schwester Irene, 1922 Margit Beatrice und 1924 der Bruder Gerhard Alexander. Im Jahre 1919 zieht die Familie Weiss nach Bremen, in die Grünenstraße; 1923 ins Patrizierviertel Bremen-Horn. Wirtschaftlich geht es der Familie gut. Der Vater ist persönlich haftender Gesellschafter der Textilhandelsgesellschaft Hoppe, Weiss & Co.. Der ökonomische Erfolg des Vaters schlägt sich in den Wohnverhältnissen sichtbar nieder. Peter wächst mit seinen Geschwistern in einer hochherrschaftlichen Villa auf. Äußerlich fehlt es ihm an nichts. Innerlich fühlt er sich einsam. Das Verhältnis zur Mutter ist schwierig. Von großer, stattlicher Figur ist die einst erfolgreiche Schauspielerin Frieda Weiss ständigen Wutausbrüchen und Stimmungsschwankungen unterworfen. Geborgenheit und Zuneigung erfährt Peter bei der Haushälterin, kaum bei seiner Mutter. Der Vater - schmal und zart gebaut - ist verschlossen und in sich gekehrt. Die einzige Verbündete in der Familie ist für Peter die sechs Jahre jüngere Schwester Margit Beatrice. Mit Beginn der Schulzeit tauchen auch andere Freunde auf. Beeindruckt von den Gemälden Feiningers und Noldes, beginnt Weiss in einer Abendschule zu zeichnen. Der Anfang der Malerei ist gemacht, der Wunsch, Maler zu werden, steht für Peter Weiss zu diesem Zeitpunkt fest. Es ist das Jahr 1933. - Am 3. August 1934 wird Margit Beatrice, sie ist gerade 12 Jahre alt, von einem Auto überfahren. Es ist eines der einschneidensten Erlebnisse in Peter Weiss’ Leben. Ihr Tod wird zum Trauma, an dem er sich schreibend und malend abarbeitet.

Im März 1935 emigriert die Familie nach England. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bewegt Eugen Weiss zu diesem Schritt. Peter arbeitet im Büro seines Vaters. Als 1936/37 der nächste Umzug der Familie ansteht - der Vater übernimmt die Leitung einer Textilfabrik in Warnsdorf in Böhmen (Tschechoslowakei) - , schreibt Weiss kurzerhand an Hermann Hesse. Er schickt ihm einige seiner Manuskripte und Bilder, mit der Bitte um künstlerischen Rat. Hesses Antwort ist aufmunternd, spricht er doch dem jungen Künstler Begabung zu. Weiss ist außer sich vor Freude und beschließt, Hesse zu besuchen. Im Sommer 1937 wandert er nach Montagnola (Schweiz), wohnt einige Monate in Hesses Casa Camuzzi und zeichnet und schreibt unermüdlich. Der Kontakt zum großen dichterischen Vorbild beflügelt die Sinne. Durch die Vermittlung eines Hesse-Bekannten (Max Barth) wird Weiss 1937 in die Malerklasse von Willi Nowak an der Prager Kunstakademie aufgenommen. Die Eltern haben - bedingt durch Hesses Intervention - zugestimmt. Endlich kann sich Weiss ganz und gar der Malerei widmen.

Am 1. Oktober 1938 besetzt die deutsche Wehrmacht das Sudetenland. Peter Weiss’ Eltern emigrieren nach Schweden. Aus Angst vor den Grenzbehörden zerschlägt und verbrennt Frieda Weiss kurz vor der Umsiedlung sämtliche Bilder ihres Sohnes. Für Peter ist der Verlust seiner Werke ein alptraumartiger Schock, den der labile Künstler erst Jahrzehnte später überwindet und der einen absoluten Tiefpunkt in der Beziehung zur Mutter markiert. 1939 verlässt auch Peter Weiss die Schweiz, wo er wieder einmal Hesse besuchte, und emigriert nach Schweden.  In der ersten Zeit arbeitet er als Textildrucker und Musterzeichner in einer Textilfabrik. Die latente Fremdenfeindlichkeit im Schweden des Zweiten Weltkrieges macht es dem Maler Peter Weiss unmöglich, sich künstlerisch zu etablieren. Die finanzielle Abhängigkeit von den Eltern, die Erfolglosigkeit als Maler setzen ihm psychisch zu. Von April bis August 1941 unterzieht er sich einer Psychoanalyse. 1942 schreibt er sich als Gaststudent an der Stockholmer Kunstakademie ein.

Betrachtet man Weiss’ Malerei der Nachkriegszeit genauer, so offenbart sich eine veränderte Produktionspsychologie. Widmet Weiss seine Gemälde vor 1945 noch unterschiedlichen Stoffen, so dominieren nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges zunehmend die Themenbereiche Unterdrückung, Gewalt, Tod und Holocaust seine bildkünstlerischen Werke. Sie belegen Weiss’ intensive Auseinandersetzung mit den schrecklichen Kriegsgreuel und Naziverbrechen. Ich werde auf diese Bilder zu einem späteren Zeitpunkt zurück kommen.

Am 8. November 1946 erhält Peter Weiss die schwedische Staatsbürgerschaft. Eine kurz zuvor organisierte Ausstellung seiner Bilder in einer Stockholmer Galerie bringt wieder nicht den gewünschten Durchbruch. Es kommen Zweifel an der Malerei, ja an der Berufung als Maler auf. Zwischen 1947 und 1954 entstehen die letzten Bilder. Peter Weiss, der nie zu schreiben aufhörte, sondern seine Texte stets als ergänzende Produkte seines bildkünstlerischen Schaffens sah, widmet sich ab 1954 ausschließlich der Schriftstellerei. Von 1952 bis 1960 betätigt er sich ebenfalls als Filmemacher und dreht eine Reihe von Experimental- und Dokumentarfilmen. Bis 1962 entstehen zudem Collagearbeiten: zum einen Illustrationsfolgen zu Tausend und eine Nacht, zum anderen Collagen zu eigenen Büchern, wie beispielsweise zum autobiographisch geprägten Roman Abschied von den Eltern (1962), der sich unter anderem mit den kurz nacheinander verstorbenen Eltern auseinander setzt (Mutter Dez. 1958; Vater März 1959). Dass Weiss auch nach Abschluss seines bildkünstlerischen Werkes weiterhin an der Malerei festhält, wird an seinem Spätwerk der Ästhetik des Widerstands sichtbar. Gemälde von van Gogh, Goya, Picasso und Géricault halten in dem dreibändigen Werk ebenso Einzug wie die Laokkon-Gruppe oder der Pergamon-Altar.

1963 beginnt Weiss mit der Arbeit an seinem Stück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade - ein Stück, das trotz seines langes Titels dem Autor zu Weltruhm verhilft. Unter dem Kurztitel Marat/Sade geht das Revolutionsstück 1964 in die Literaturgeschichte ein. 1965 wird für Peter Weiss ein weiteres Entscheidungsjahr: Erstens bekennt er sich öffentlich zum Sozialismus und zweitens stellt er mit seinem Drama Die Ermittlung die Vergangenheitsbewältigung in der BRD öffentlich in Frage. Das von Erwin Piscator an der Freien Volksbühne in West-Berlin inszenierte Stück lässt die innerdeutschen Wellen hoch schlagen - ich werde auf das Stück im zweiten Teil meines Vortrages noch zu sprechen kommen. - In den folgenden Jahren findet Weiss’ politisches Engagement - insbesondere seine Kapitalismuskritik - immer mehr Eingang in seine literarischen Texte. Die Vorgänge in den portugiesischen Kolonien Angola und Mosambique, der Krieg in Vietnam, die Besetzung der CSSR sowie die Verbrechen der Stalin-Ära vor allem in der UdSSR beschäftigen Weiss zunehmend und prägen seine ästhetische Produktion. Weiss gerät zwischen die Fronten. Sein kritischer Sozialismus führt zu einer Ablehnung seiner literarischen Arbeit in Ost- und West-Deutschland. Aber auch der Mensch Peter Weiss wird abgelehnt. 1970 verhängt die DDR über den einst so geschätzten Künstler ein Einreiseverbot. Die Verbindung zu ostdeutschen Freunden, zum ostdeutschen Volkstheater reißt ab. Dieser Verlust, aber auch die ost- und westdeutschen Verrisse seines neuesten Stückes Trotzki im Exil stürzen Weiss in eine schwere gesundheitliche Krise. Im Juni 1970 erleidet er einen ersten Herzinfakt. Die nachfolgenden Schriften bis 1972 sind deutlich weniger politisch als die vorangegangenen. Mit dem Arbeitsbeginn an dem Buch Die Ästhetik des Widerstands ändert sich dies wiederum. Von 1972 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1982 - also fast 10 Jahre - arbeitet Weiss an diesem Jahrhundertroman. Das zunächst einbändig geplante Werk weitet sich zur Trilogie mit fast 1000 Seiten aus. Für seine Romanrecherche reist Weiss bis nach Kambodscha, für die Konzeption seiner Romanfiguren interviewt er unzählige ehemalige Widerstandskämpfer. Sogar als Maler erfährt Weiss noch späte Anerkennung. 1976 wird in der Kunsthalle von Södertälje in Schweden die Ausstellung, Peter Weiss - Malerei, Collagen, Zeichnungen 1933-1966 eröffnet; 1980 organisiert das Museum Bochum die Ausstellung Der Maler Peter Weiss. Als Weiss am 10. Mai 1982 in Stockholm stirbt, ist er sowohl als Schriftsteller als auch als Maler anerkannt.

Ich komme zum zweiten und letzten Teil meines Vortrages: zu Weiss’ bildkünstlerisch und literarisch skizzierten Holocaust-Bildern, - wobei auch der Frage nachgespürt werden soll, ob Weiss’ künstlerische Beschäftigung mit dem Judentum auf ein eigenes jüdisches Bewusstsein schließen lässt.

Für Weiss, der nach Ende des Zweiten Weltkrieges von der systematischen Ermordung der europäischen Juden erfährt, gewinnt der Genozid im Laufe seines ästhetischen Schaffens zunehmend an Bedeutung. Sensibilisiert durch die jüdische Abstammung seines Vaters, wird die Verarbeitung des Holocaust für Weiss zu einer produktionspsychologischen Bewältigung von Todesangst und Überlebenssyndrom. Die Shoah wird für ihn zu einem zentralen Thema.

Aus der künstlerischen Phase vor Ende des Zweiten Weltkrieges dokumentiert das Bild Das große Welttheater die inhaltliche Verknüpfung von Gewalt, Tod, Krieg und Holocaust. Weiss’ monumentales Ölbild - es misst 120x170 cm - entsteht im Jahr 1937 während der Prager Kunstakademiezeit. Neben seiner gestalterischen Qualität zeichnet sich Das große Welttheater durch eine Bildvielfalt aus, die den Betrachter auf den ersten Blick überfordert. Auf jedem Bildteil zieht ein anderes Schauspiel die Aufmerksamkeit auf sich. Dass so viele verschiedene, simultan inszenierte Ereignisse in ihrer jeweiligen Totalität einen einzigen Bildmittelpunkt ausschließen, lässt alles Abgebildete gleichwertig exponiert erscheinen. Das monumentalisierte Gemälde avanciert zu einem Katastrophenpanorama mit magisch-realistischer Atmosphäre, zu einer apokalyptischen Kosmogonie.

Betrachten wir den rechten oberen Bildteil. Ein verhangener Mond bescheint trübe die Szenerie. Indem sein graues Licht die Konturen eines Segelbootes spielerisch umschreibt und dadurch einen friedlichen, fast idyllischen Eindruck hervorruft, vermag er die todesdurchflutete Stimmung der aus Depressionen, Angst und Gewalt existenten Weltlandschaft sogar ein wenig zu entkräften. Doch die unterschwellig stets vorhandene bedrohliche Spannung und Beunruhigung offenbart sich erneut, sobald man der unheilvollen Ereignisse auf den links vom Turm liegenden Hügeln gewahr wird. Der in einem Reigen stattfindende hexenartige Tanz um ein wild loderndes Feuer wirkt zunächst nicht außergewöhnlich. Erst die in der brennenden Glut sichtbar werdenden menschlichen Körperteile verdeutlichen die Ungeheuerlichkeit des infernalischen Geschehens und erinnern schauerlich an die Judenpogrome des Nationalsozialismus. Nicht weniger schrecklich gestaltet Weiss den Schauplatz auf dem benachbarten Berg. Auch hier konfrontiert er seinen Betrachter mit einem Ort tödlicher Handlung: Drei Figuren umstehen einen am Galgen hängenden Toten. Da der rechte Mann die zur Hinrichtungsstätte gehörende Leiter mit seiner Hand fest umklammert, entsteht der Eindruck, als habe er dem zum Tode Verurteilten die rettenden Stufen unter den Füßen weggerissen.

Die im Jahre 1937 skizzierten, zum Teil aufgrund persönlicher Erfahrungen entstandenen Bildmotive und Todesarten kristallisieren sich in den folgenden Jahren zu eigenen Themenkomplexen heraus. Den meisten von ihnen verleiht die Weltlage nach 1945 gesellschaftspolitische Bedeutung. Unter diesen erstmals im Gemälde auftauchenden, im bildkünstlerischen und schriftstellerischen Gesamtwerk beständig wiederkehrenden Themen nimmt der “Holocaust” eine zentrale Stellung ein. Versinnbildlicht in dem von Menschen umtanzten, aus Leichenteilen bestehenden Feuer, eilt Weiss der Geschichte malerisch intuitiv voraus. Die mit der Judenvernichtung inhaltlich eng verflochtene, auch für sein zukünftiges Werk eminent wichtige “Gewalt- und Kriegsthematik” stellt Weiss in seiner Weltlandschaft ebenfalls symbolisch dar.

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges verarbeitet Weiss behutsam und vorsichtig sein Entsetzen über den jüdischen Völkermord, versucht er erstmals das Undarstellbare darzustellen. In der Tuschezeichnung Die Gefangenen aus der Serie Konzentrationslager von 1946 entwirft er drei nackte, bis auf die Knochen abgemagerte Männer. An ihren kachektischen Körpern erkennt man sie sofort als KZ-Häftlinge. In unterschiedlichen Posen sitzen oder knien sie um ein Wasserloch herum und trinken. Die Behutsamkeit ihrer Gesten, die Ausdruckslosigkeit ihrer Gesichter sowie die Hoffnungslosigkeit ihres Blicks vermitteln einen Eindruck ihrer physischen Schwäche und psychischen Gebrochenheit. Ausschließlich auf den Vorgang des Trinkens fixiert, kümmert sie die Tragödie nicht, die direkt vor ihren Augen abläuft: Mindestens zwei, wahrscheinlich jedoch drei Menschen sind in die kleine, tiefe Wassermulde gefallen und ertrinken. Trotz des auf der Wasseroberfläche herrschenden Durcheinanders erkennt der Betrachter sofort zwei Gliedmaßen, einen rechten Fuß und eine nach oben greifende, linke Hand. Dass Hand und Fuß Körperteile ein und derselben Person sein könnten, muss bezweifelt, kann grundsätzlich aber auch nicht ganz ausgeschlossen werden. Anders dagegen bei dem unmittelbar in der Nähe im undurchsichtigen Wasser treibenden Mann. Knie, Fuß und Gesicht gehören hier eindeutig zusammen und bilden eine Einheit. Der krampfhaft nach vorn gestreckte Fuß sowie das schon halb im Wasser versunkene apathische Gesicht, das in seiner Seelenlosigkeit den Tod naturgetreu abbildet, veranschaulichen in concreto den verzögerten, schmerzvollen Prozess des Ertrinkens, der für den im Kampf gegen das Todeselement Wasser unterlegenen Mann in wenigen Sekunden beendet sein wird.

Noch wesentlich drastischer deutet Weiss die erlittenen Qualen der in Konzentrations- und Vernichtungslager ermordeten Juden in der verschollenen Zeichnung Die Zeit an. Mit Hilfe eines Röntgen-Blicks visualisiert er einen transparenten, bis aufs Skelett durchsichtigen Menschen. Lungen und Herz, Speise- und Luftröhre sind ebenso zu erkennen wie Muskelfasern, Arterien und Sehnen. Weiss bildet diesen Menschen genau in dem Augenblick ab, als er - so jedenfalls der erste Eindruck - vor unerträglichen Schmerzen, die Zähne aufeinander beißend, Kopf und Arme anklagend gen Himmel hebt. Und tatsächlich - die im Hintergrund glühende Sonne scheint die Haut, das Fleisch, ja den ganzen Körper des Menschen zu verbrennen. Jetzt erst wird die tiefere Bedeutung des skelettierten, gläsernen Korpus offensichtlich: An den Stellen, an denen der Bildbetrachter das Körperinnere zu sehen vermag, ist der Geschundene bereits verbrannt - besser gesagt: Brennt er. Weiss veranschaulicht demnach in der Zeichnung Die Zeit einen bei lebendigem Leib verbrennenden Menschen. Im Sinnbild der Sonne, in ihren tödlichen Strahlen verschlüsselt er die Verbrechen der Nationalsozialisten, wird der Genozid an den Juden, ihre Tötung und Verbrennung allegorisch evident. Dass die vor dem Gemarterten auf dem Tisch befindlichen Chronometer - Sonnen- und Taschenuhr - exakt zwölf Uhr zeigen, die Intensität der Sonneneinstrahlung also soeben ihren Höhepunkt erreicht, verweist einerseits auf den Bildtitel, unterstreicht andererseits aber wiederum die tödliche Wirkung des in der Sonne symbolisierten Antisemitismus.

Keinen Todes-Augenblick, dafür eine völlig andere, den Holocaust thematisierende Bildvariante wählt Weiss für seine Federzeichnung Adam, Eva und Kain, ebenfalls von 1946. Es ist das vierte und letzte Kunstwerk, das sich malerisch mit der Shoah auseinander setzt: Von ihrem Sohn vor einen Pflug gespannt, ziehen Adam und Eva mit ganzer Kraft an den über ihren Schultern hängenden Riemen. Während Kain schemenhaft im Hintergrund bleibt - Gesicht und Körper sind nur ansatzweise zu Papier gebracht - , skizziert Weiss die im Bildvordergrund ächzenden Stammeltern en détail. Ihre sich unter der Last biegenden, gekrümmten Leiber mit den vor Anstrengung hervortretenden Muskeln sprechen ebenso von der ungeheueren Mühsal der Arbeit wie die vor Erschöpfung geschlossenen Augen in ihren konzentrierten Gesichtern. Was das Umgraben so beschwerlich macht, wird deutlich, betrachtet man den Ackerboden genauer: Köpfe, Arme, Hände und Beine liegen - teils verwest, teils nicht verwest - verstreut im Erdreich. Angefüllt mit menschlichen Überresten offenbart sich das Brachland als letzte Ruhestätte unzähliger, unbekannter Toter. Ob Adam und Eva die Leichenteile unterpflügen oder vielmehr ans Tageslicht befördern, ob sie gemeinsam mit ihrem Sohn Kain für den Tod dieser Menschen verantwortlich sind oder lediglich durch Zufall auf die Gebeine stoßen - über die Rolle der beiden lässt sich nur mutmaßen. Ein Blick auf die biblische Schöpfungsgeschichte legt ihre schuldhafte Verstrickung in das bildkünstlerisch suggerierte Verbrechen allerdings nahe. Denn dass es sich um ein Verbrechen handelt, die Leichname nicht ohne Gewalteinwirkung zerschlagen, nicht ohne Grund anonym begraben wurden, steht wohl außer Frage. Bezieht man die gesellschaftspolitische Situation um 1946 in die Analyse mit ein, wird sehr schnell klar, worum es Weiss in seiner Zeichnung geht: Indem er den Bildbetrachter mit in der Erde verscharrten Totenschädeln, Knochen sowie abgetrennten Gliedmaßen konfrontiert, deutet er mit Nachdruck auf die von den Faschisten begangenen Massenmorde hin, entlarvt er den Ackerboden als Massengrab. Wesentlich direkter als in der Federzeichnung Die Zeit spielt Weiss in Adam, Eva und Kain auf die maschinelle Tötung der Juden an. Die zunächst verwirrende inhaltliche Verknüpfung von Zeitgeschichte und Altem Testament erweist sich in diesem Zusammenhang als besonders geschickt: Den Völkermord mit dem die Sünde in die Welt setzenden ersten Menschenpaar verbindend, stellt Weiss die Bluttaten der Nationalsozialisten in eine Reihe mit dem Sündenfall, stigmatisiert er die Täter des Dritten Reichs als Brüder Kains. Mit Hilfe dieser spannungsgeladenen Parallelisierung - der Verschachtelung zweier Erbsünden - gelingt Weiss eine weitere bildkünstlerische Verarbeitung des Holocaust.

In seinem schriftstellerischen Werk spricht Weiss die Vernichtung der Juden zum ersten Mal 1947 an, in dem Prosaband Die Besiegten. Dort sagt der Ich-Erzähler:


Mein Vater starb im Steinbruch, als die Peitschen knallten und die Bluthunde ihre spitzen [...] Eckzähne entblößten. [...] Mein Vater war kein Held, er starb den Tod eines Menschen, Menschen schlugen ihn tot. [...] Mein Vater liebte die Menschen und er sah sie in endlosen Reihen den großen Öfen entgegenziehen, durch deren Schornsteine der süßliche Geruch von verbranntem Menschenfleisch auf ihn herabfuhr.


Zum ersten Mal weist der Schriftsteller Peter Weiss auf Zwangsarbeit und Willkür, Gewalt und Tod, kommerzialisierten Massenmord und automatisierte Leichenverbrennungen hin. Der in den Bildern Die Zeit und Adam, Eva und Kain noch subtil vermittelte Völkermord wird dem Leser jetzt erbarmungslos präsentiert. Mit aller Macht führt Weiss sich und seinem Leser das bestialische Sterben mit seinen Millionen Toten vor Augen.


INTERNATIONALE PETER WEISS GESELLSCHAFT


Die Internationale Peter Weiss-Gesellschaft e. V. wurde im April 1989 in Karlsruhe gegründet. Der Verein ist gemeinnützig.

Ihr satzungsmäßiger Sitz ist Berlin; sie ist dort im Vereinsregister Berlin-Charlottenburg unter der Nummer 10099-NZ eingetragen.


Sie dient der Pflege und Erfoschung des literarischen, filmischen und bildkünstlerischen Werks von Peter Weiss (1916-1982); sowie der Unterstützung und Förderung kultureller und politischer Initiativen, die im Sinne von Peter Weiss einer emanzipativen Ästhetik des Widerstands gegen jede Form der Unterdrückung verpflichtet sind.


Ihr gehören derzeit rund 150 Mitglieder aus etwa 15 Ländern der Welt an. Eintritte sind jederzeit, Austritte zum Jahresende möglich.

Jedes Jahr mindestens einmal versammelt sich die Gesellschaft an wechselnden Orten auf einer Mitgliederversammlung.

Der Jahresbeitrag beläuft sich derzeit auf EURO 40,-- (für Berufstätige) bzw. EURO 25,-- (für SchülerInnen, Studierende und Arbeitslose) bzw. EURO 60,-- (für fördernde Institutionen).

Der Mitgliedsbeitrag beinhaltet den kostenlosen Bezug der zweimal jährlich erscheinenden Vereinsmitteilungen "Notizblätter" und der einmal jährlich erscheinenden Forschungspublikation "Peter Weiss Jahrbuch".

Die IPWG ist laut Bescheid des Finanzamts Marburg vom 11. Oktober 2005 als gemeinnützige Körperschaft anerkannt und berechtigt, Zuwendungsbestätigungen für Mitgliedsbeiträge und Spenden auszustellen.


Internationale Peter Weiss-Gesellschaft e.V.

Vorsitzender: Dr. Arnd Beise
Philipps-Universität Marburg
Fachbereich 9: Germanistik und
Kunstwissenschaften


Institut für deutsche
Literatur und Medien
Wilhelm-Röpke-Straße 6 A 221
D-35032 Marburg/Lahn
Tel. +49-(0)6421-28-24302
Fax. +49-(0)6421-163909
beise@peterweiss.org


Peter Weiss Jahrbuch

Zeitschrift für Literatur, Kunst und
 Politik im 20. Jahrhundert
 hrsg. v. Michael Hofmann,
 Martin Rector, Jochen Vogt



Anschrift der Redaktion:
Prof. Dr. Michael Hofmann
Universität Paderborn
Warburger Straße 100
D-33098 Paderborn
Telefon: (05251) 60-2891
hofmann@peter-weiss-jahrbuch.de



In dem 1961 erscheinenden Roman Abschied von den Eltern führt der Blick zurück- die Erinnerung an Kindheit und Jugend - zu einem künstlerischen Novum: Weiss verbindet den Holocaust erstmals mit seiner Biographie, verleiht ihm erstmals ein subjektiv-authentisches, persönliches Gesicht. Beiläufig erfährt der Romanleser von der ersten Konfrontation des Ich-Erzählers mit seinem Judentum. Nicht die Eltern, sondern der Stiefbruder Gottfried offenbart dem Heranwachsenden seine jüdische Herkunft. Nach einer gemeinsam am Weltempfänger verfolgten nationalsozialistischen Hetzrede, die beide Zuhörer begeistert aufnehmen, stellt Gottfried bedauernd fest: “[...] wie schade daß du nicht dabei sein darfst.” Gottfrieds Erklärung, daß der Vater des Ich-Erzählers Jude sei, überrascht den Ich-Erzähler nicht. Statt Verwunderung fühlt er nur Bestätigung für etwas, das er seit langem geahnt hat. Dass die Eröffnung des gut gehüteten Familiengeheimnisses in Wirklichkeit vollkommen anders ablief, Weiss auch dieses Ereignis, genau wie seine emotionale Auswirkung in Abschied von den Eltern fiktionalisiert, zeigen die Memoiren der Schwester Irene. Sie datiert das Geständnis, das Weiss in das Jahr 1934 verlegt, auf den Sommer 1938:


Eines Abends, als ich von einem Sonnentag in der Badeanstalt kam, sagte meine Mutter: “Irene, komm in den Salon. Wir müssen etwas mit euch besprechen.” Zu meinem Erstaunen warteten dort bereits Peter und Alexander. Mein Vater saß in seinem Sessel. Er wirkte besorgt. Aber wie meistens, wenn etwas Schwieriges bevorstand, überließ er meiner Mutter das Wort. “Es kann sein, dass wir bald wieder wegmüssen”, sagte meine Mutter. “Jenö ist hier nicht mehr sicher.” Mit diesen Worten eröffnete sie uns, dass unser Vater Jude war. [...] Die Tatsache, dass [...] wir selbst jüdisches Blut in den Adern hatten, traf uns Geschwister wie ein Schock.


Nicht der Stiefbruder, sondern die Mutter lüftet das Geheimnis; nicht Gelassenheit, sondern “Schock” ist die Reaktion des damals 21-jährigen Peter Weiss. Sein Judentum ist für Weiss also nicht so unproblematisch, wie er seinem Leser gern versichern möchte - weder im ersten Stadium des Bekanntwerdens noch im weiteren Verlauf seines Lebens. In seinem ästhetischen Schaffen bleibt es auf eine dunkle Weise mit Familie, Schuld und Verlust verknüpft. Der Grund für Weiss’ Schuldgefühl hängt mit seinen beiden jüdischen Freunden Lucie Weisberger und Peter Kien zusammen. Es ist nicht sicher, wann und wo sich Weiss und Weisberger das erste Mal trafen. Sehr wahrscheinlich hat Weiss Lucie Weisberger 1937/38 auf der Prager Kunstakademie kennen gelernt. Lucie ist Jüdin und wird nach Theresienstadt deportiert, als Weiss bereits in Schweden lebt. Verzweifelt versucht er, sie aus dem Konzentrationslager zu retten, indem er ihr einen Heiratsantrag macht. Doch eines Tages bricht der Briefkontakt zu Lucie ab. Sie wird nach Auschwitz verlegt und ermordet. Weiss plagt das Gefühl, sich nicht genug um ihre Freilassung bemüht und damit ihren Tod verschuldet zu haben.

Peter Kien ist Weiss’ engster Freund aus der Prager Akademiezeit. Sie lernen sich in der Malerklasse von Willi Nowak kennen. Noch bevor Peter Kien seinen Plan, nach Palästina zu gehen, wahrmachen kann, wird er 1941 als einer der ersten Juden nach Theresienstadt deportiert. Selbst an diesem Ort geht er seinen künstlerischen Tätigkeiten nach. Ende 1944 wird er zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz gebracht und ermordet. Wie im Falle Lucie Weisbergers wird Weiss bei dem Tod Peter Kiens von Schuldgefühlen geplagt. Verbunden mit der Tatsache, dass auch ihm als Halb-Juden die Vernichtung gedroht hatte, hält ihn die Erinnerung an die ermordeten Freunde gefangen. So fühlt er sich aufgrund seiner Erinnerung den Toten zeitweise näher als den Lebenden. Die Ermordung der Freunde löst bei Weiss eine produktionspsychologische Auseinandersetzung mit dem Holocaust aus. Sie wird zum Anlass seines Auschwitz-Komplexes, dessen Ursache


[...] in dem doppelten Selbstvorwurf [liegt], erstens als Sohn jüdischer Eltern für Auschwitz bestimmt gewesen und diesem Ort der Vernichtung unverdient, ohne eigenes Zutun, entkommen zu sein, während Freunde dort umkamen; und zweitens ins rettende Ausland gegangen zu sein, ohne dies mit einer bewußten politischen Entscheidung verbunden und ohne von dort aus Widerstand gegen den Faschismus geleistet zu haben - also ein unpolitischer Schein-Exilant gewesen zu sein.


Das Schuldgefühl bewirkt zweierlei: erstens, Weiss’ kontinuierliches Eingedenken der Shoah, das mit einer Erinnerung an die Toten verknüpft ist; zweitens, seine schon im bildkünstlerischen Werk erkennbare Politisierung nach 1945, die sich in den frühen sechziger Jahren noch einmal intensiviert.

In dem autobiographisch geprägten Roman Fluchtpunkt - eine Fortsetzung von Abschied von den Eltern, an der Weiss seit 1961 schreibt, bekennt sich Weiss zum ersten Mal in seinem schriftstellerischen Werk über die Figur des Ich-Erzählers offen zu seinem Halb-Judentum. Allerdings übernimmt die halbjüdische Herkunft auf inhaltlich-substantieller Ebene keine identitätsstiftende Funktion. Sie bleibt eine von anderen aufgezwungene Bezeichnung. Als Sonderstatus - von außen gewissermaßen verordnet - wird sie für Weiss zur Bestätigung einer längst gefühlten Unzugehörigkeit, die sich mit dem Trauma des Übriggebliebenen, des ehrlos Davongekommenen verbindet. Das Überlebenssyndrom avanciert zur traumatischen Wunde, die ihm eine Identifikation mit seinem Judentum unmöglich macht.

1964 bringt Weiss seine mentale Auseinandersetzung mit dem jüdischen Völkermord auf den Punkt. Am 13. Dezember 1964 besucht er im Rahmen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Gleich im Anschluss entsteht der Text Meine Ortschaft. Dass die für den Sammelband “Atlas” bestimmte Schrift ursprünglich Weiss’ Geburtsort Nowawes zum Thema haben sollte, nun jedoch Auschwitz im Mittelpunkt steht, unterstreicht erneut jenes Überlebenssyndrom, das Weiss seit Abschied von den Eltern dauerhaft versprachlicht. Interessant und spannend wird Meine Ortschaft vor allem, als Weiss seine jetzige Situation - die des Besuchers aus dem Jahr 1964 - mit der Lage ehemaliger KZ-Häftlinge vergleicht:


Ich bin hierher gekommen aus freiem Willen. Ich bin aus keinem Zug geladen worden. Ich bin nicht mit Knüppeln in dieses Gelände getrieben worden. Ich komme zwanzig Jahre zu spät hierher.


Die ohnmächtige, mit unüberhörbarem Selbstvorwurf behaftete Feststellung, “zwanzig Jahre zu spät” zu kommen, eröffnet eine schwerwiegende Differenz, die Weiss in Meine Ortschaft zum ersten Mal verbalisiert: die Differenz, nicht dabei gewesen, kein Holocaust-Überlebender zu sein. Diese auf den ersten Blick banale Erkenntnis ist für den Auschwitz-Besucher Weiss von entscheidender Bedeutung, beeinflusst sie doch neben seinem Wahrnehmungsvermögen vor allem seine Gefühlswelt. Tatsächlich wird Weiss erst während seiner Wanderung durch das Todeslager schmerzlich bewusst, wie uneinholbar weit die Vergangenheit zurückliegt. Das in sich abgeschlossene, traumatische Vergangene kann für den zu spät Gekommenen weder wiederbelebt noch erfahrbar gemacht werden. Ernüchterung, ja Enttäuschung stellt sich ein: “Ich gehe langsam durch dieses Grab. Empfinde nichts. Sehe nur diesen Boden, diese Wände.” Der kalten, schweigenden Materie gegenüberstehend, bleibt jegliche Imagination aus, läuft jeglicher Wiedergutmachungsversuch ins Leere. Die an diesen Stätten verübten Verbrechen bleiben unvorstellbar. Trotz oder vielmehr gerade wegen der direkten Konfrontation mit den realen, besser gesagt “musealen” Gegebenheiten misslingt die Synthese aus geschichtlicher Bildung und Örtlichkeit, Gegenwart und Vergangenheit. Das angelesene, künstliche Wissen über Auschwitz hilft nicht weiter. Auf dem Höhepunkt seiner mentalen Auseinandersetzung mit der Shoah erkennt Weiss die Unmöglichkeit, das Grauen in seinem ganzen Ausmaß zu begreifen, wird ihm die unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Vorstellungskraft und Faktizität in all ihren Konsequenzen deutlich. Die nicht zu schließende Kluft zwischen Unbeteiligtem und Opfer wird für Weiss zum ausschlaggebenden Faktor. In dem Augenblick, in dem Weiss bewusst wird, die ausgestandenen Leiden eines Holocaust-Überlebenden niemals nachvollziehen zu können, wird für ihn eine Identifikation mit seinem Judentum unmöglich. Die Tatsache, dass sich vor jedem Nicht-Augenzeugen “verschließt [...], was hier geschah.”, entzieht ihm den Boden für eine ontologische Identifikation mit seiner jüdischen Herkunft. Meine Ortschaft avanciert damit zum schriftstellerischen Beweis eines gescheiterten Identifikations- und Zugehörigkeitsversuchs.

Anfang des Jahres 1965 beendet Weiss sein Dokumentarstück Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Das Stück wird am 19. Oktober 1965 in einer gemeinsamen Uraufführung auf 15 Bühnen in Ost- und West-Deutschland gezeigt. Erwin Piscator, ein Veteran des politischen Theaters, inszeniert Die Ermittlung in West-Berlin. In Ost-Berlin gibt es eine szenische Lesung in der Akademie der Künste. Prominente Politiker und Künstler wie Anna Seghers, Helene Weigel und Alexander Abusch lesen in verteilten Rollen. Das Medieninteresse ist enorm, die Resonanz kritisch, lebhaft, kontrovers. Was aber macht Die Ermittlung zum Medien- und Theaterereignis des Jahres 1965? In ihrem inhaltlich Aufbau gleicht Die Ermittlung dem Text Meine Ortschaft: Beide Schriften vollziehen den Gang von der Rampe zu den Krematorien topographisch nach, beide autopsieren den Prozess der Vernichtung. Erst nach seinem Besuch in Auschwitz wird Weiss bewusst, wie er sein Drama schreiben kann. Mit Blick auf Die Ermittlung dient Meine Ortschaft, insbesondere - und dieser Punkt ist wichtig - hinsichtlich der Vergegenwärtigung des gescheiterten Zugehörigkeitsversuchs, als Vorarbeit, denn das Wissen um die missglückte Identifikation bildet fortan die Grundlage für Weiss’ ästhetisches Schaffen. Wie gefestigt die Distanzierung vom eigenen jüdischen Ursprung tatsächlich ist, wird in einem Interview vom Oktober 1965 deutlich, in dem Weiss auf die Frage, ob er sich mit dem Judentum existentiell verbunden fühle, antwortet:


Eigentlich nicht. Indirekt vielleicht, weil mein Vater Jude war. Mein Vater war nicht streng jüdisch, und ich wurde nicht als Jude erzogen. Ich schrieb das Stück [Die Ermittlung; Anm. A.S.], weil es mir um die menschliche Situation unterdrückter Völker geht. Ich kann mich genausogut mit der Lage der Schwarzen in Südafrika identifizieren.


In Die Ermittlung unterstreicht der Autor sein universalistisch-politisches Engagement, indem er die Juden als Opfergruppe nicht mehr explizit erwähnt, sondern ihre Herkunft anonymisiert - bis auf vier Ausnahmen: Erstens, durch die Spezifizierung eines Gefangenentransports als “französisch”; zweitens, durch die Nennung des Namens “Sarah”, da alle weiblichen Juden in Deutschland ab Januar 1939 [den Namen Sarah] in ihren Personalausweis eintragen lassen mußten; drittens, durch die Konkretisierung eines weiblichen Häftlings als “polnische Frau”; viertens, durch die mehrmalige Erwähnung russischer Kriegsgefangener. Sieht man von diesen Sonderfällen ab, die zweifellos zu einer inhaltlichen Schieflage führen, setzt Weiss sein Konzept der “Universalisierung durch Anonymisierung” konsequent um - ein Novum in der Theaterwelt des Jahres 1965.

Mit der Anonymisierung leitmotivisch verbunden ist die das Oratorium kennzeichnende Namenlosigkeit der Zeugen. Sie führte ebenfalls zu heftigen Kontroversen. Ihr im Stück gewahrt bleibender Status des Unbekannten entspricht der Reduzierung der Opfer auf eine Registriernummer, genauer gesagt: ihrer Entindividualisierung im totalitären Vernichtungslager. Weiss’ Hauptanliegen bleibt nach wie vor, den Ermordeten eine Erinnerung zu geben. Aufbauend auf seiner absoluten Solidarität mit den Opfern, wird ihm die Gedächtniswahrung jener, die vernichtet wurden, zur existentiellen Verpflichtung. Indem Weiss die Ermordeten durch sein ästhetisches Schaffen zum Sprechen bringt, trägt er gleichzeitig seinen Schuldkomplex, dem Holocaust unverdientermaßen entronnen zu sein, ab. Die Ermittlung wird somit zur Chiffre eigener Vergangenheitsbewältigung.

Ein weiterer Punkt, der die Gemüter in Ost- und West-Deutschland erregte und nachhaltig schockierte, war die Art und Weise, wie Weiss die “industrielle” Art der Vernichtung darstellt. Dass Nazi-Schergen und deutsche Industrie beim systematischen Zugrunderichten der KZ-Häftlinge Hand in Hand arbeiteten, die Opfer bis aufs Blut ausbeuteten, die Leichname - bis hin zu ihrer Asche - als Rohprodukte weiterverwerteten, stellt Weiss in Die Ermittlung konsequent heraus. Immer wieder nennt er die Namen von Firmen, die maßgeblich von der Arbeitskraft der Verschleppten profitierten, hebt er die Verquickung des Dritten Reichs mit der deutschen Wirtschaft deutlich hervor. Auch die von faschistischem Gedankengut unterlaufene, kapitalistische Nachkriegsgesellschaft, in der ehemalige Nationalsozialisten nicht nur ohne große Probleme wieder eingegliedert wurden, sondern hohe Ämter bekleideten und verantwortungsvolle Posten inne hatten, kritisiert der Autor offen. In Die Ermittlung dekuvriert Weiss die Täter von damals als die gesellschaftlich anerkannten Leistungsträger von 1965. Vor allem dieser Aspekt war es, der Die Ermittlung zum Zankapfel werden und den Autor, gelegentlich auch die Theaterregisseure - wie z.B. Erwin Piscator - ins Schussfeld der Kritik geraten ließ.
Auch in der Ästhetik des Widerstands (ÄdW), dem dreibändigen Lebenswerk von Peter Weiss, finden sich zahlreiche Textstellen zum Holocaust. Leid, Tod und Todesangst bestimmen insbesondere den 1981 erscheinenden dritten und letzten Teil der ÄdW. Mit Blick auf alle drei Bände ist es der Band, der die destruktive Wirkung des Krieges, seine schrecklichen Verwüstungen, aber auch den Holocaust am Eindringlichsten beschreibt. Indem Weiss durch die Todesvisionen der Mutter des Ich-Erzählers dem Leser den perfekt organisierten Massenmord vor Augen führt, greift er auf den schon in den ersten beiden Romanteilen inhaltlich eng mit ihr verflochtenen Handlungsfaden zurück und führt ihn fort. Wie es zu ihren Todesvisionen kommt, verdeutlicht die von ihrem Mann detailliert nacherzählte Geschichte ihrer gemeinsamen Flucht durch Osteuropa:


Einmal sei meine Mutter tagelang verschwunden gewesen, sagte mein Vater, er habe sie wiedergefunden, im Schneetreiben, zwischen Juden, die ihre Angehörigen verloren hatten. [...] doch lange hatte es gedauert, bis sie ihrem Mann gesagt hatte, was ihr zugestoßen war, im Schneegestöber, südlich von Brest, bei Sobibor, sie war mit den anderen gestürzt, in die Grube, sie hatte zwischen ihnen gelegen, die Wärme der Körper war um sie gewesen, sie war umgeben gewesen von den zuckenden Armen und Beinen, sanft war der Schnee über das Röcheln und Knirschen gefallen, dann war es still geworden, sie war hinausgekrochen durch den rieselnden Sand, sie war durch ein Meer von Schnee gewatet, [...]


Erst jetzt wird klar, was der Mutter zugestoßen ist: Stets die Nähe der Vertriebenen suchend, denen sie sich zugehörig fühlt, gerät sie zusammen mit den zur Vernichtung vorgesehenen jüdischen Gefangenen in eine der unzähligen, um das weißrussische Vernichtungslager Sobibor stattfindenden Massenerschießungen. Wundersamerweise überlebt sie sowohl den Kugelhagel als auch den Sturz ins Massengrab. Anstatt den Todesort sofort zu verlassen, harrt sie bei den tödlich Verletzten aus und wartet ihre letzten Regungen, ihr “Knirschen” und Stöhnen ab. Ausgangspunkt und Ursprung dieser bedeutungsvollen Begebenheit ist die Identifikation der Mutter-Figur mit den Vertriebenen und Verfolgten, ihre Übernahme des jüdischen Schicksals. Ihr Zugehörigkeitsgefühl, in erster Linie aber ihre Eigenschaft als Augenzeugin der fabrikartigen Menschentötung rufen in der Mutter-Gestalt ein Gefühl der Ohnmacht, der Trauer und des Schocks hervor. Das Wissen um den nicht enden wollenden Genozid, um die pausenlos steigenden Opferzahlen belastet die Mutter-Figur seelisch so stark, dass sie das Erlebte - ihre Erfahrungen mit dem unfassbaren Grauen - nur visionär verarbeiten kann. Die nicht benennbare, weder sprachlich noch rational fassbare “Katastrophe” setzt den Lebenswillen der Mutter-Gestalt außer Kraft. Im Angesicht des Grauens verliert sie ihre Kommunikationsfähigkeit. Sie wird vom Schmerz übermannt, kann das Unfassbare nicht ertragen und verstummt. Nach Monaten der Agonie, der geistigen Verstörung und physischen Lähmung stirbt sie in Schweden, fällt sie dem Geschauten - dem erlebten Genozid - zum Opfer.

Wie eng sich Weiss mit der Mutter-Figur verbunden fühlt, wird an seiner Reaktion in einem Interview deutlich. Dort sagt er: “Die Figur der Mutter und die des Vaters sind für mich Gestalten, die ich gar nicht analysieren will.” Der Rückzug ist Ausdruck tiefer Anteilnahme, projiziiert Weiss doch in seine Protagonistin eben jene emotionale Zugehörigkeit mit den Opfern, jene Identifikation mit dem Judentum hinein, die ihm selbst ehedem missglückte. Mit Hilfe der Mutter-Gestalt gelingt Weiss demnach eine auf schriftstellerisch-fiktiver Ebene nachgeholte Identifikation mit dem eigenen Judentum. Wohlgemerkt, - es handelt sich hier um eine literarisch-fiktive Identifikation, nicht um ein zu Tage tretendes jüdisches Bewusstsein. Seit seinem Besuch in Auschwitz schließt Weiss eine jüdische Zugehörigkeit für sich konsequent aus.

Ich komme zum Schluss und fasse noch einmal kurz zusammen:

Ausgelöst durch seinen Status als Halbjude, beschäftigt sich Weiss zunächst in seinen autobiographisch gefärbten Schriften mit seinen jüdischen Wurzeln. Von Anfang an handelt es sich bei ihm um ein säkularisiertes Judentum. An der religiösen Frage ist er zu keiner Zeit wirklich interessiert. In Fluchtpunkt bekennt sich Weiss erstmals zu seinem Judentum, ohne sich jedoch wahrhaftig als Jude zu fühlen. Sein in den folgenden Jahren einsetzendes universalpolitisches Engagement modifiziert die ästhetischen Inhalte. Fortan steht die Kontinuität der faschistischen Strukturen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die industrielle Ausbeutung der Holocaust-Opfer im Vordergrund. Seit seinem Besuch in Auschwitz - genauer gesagt: seit seinem Text Meine Ortschaft - ist für ihn eine Identifikation mit dem Judentum nicht möglich. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Genozid eine lebenslange Schaffenskondition. Mit seinen Holocaust-Darstellungen gelingt Weiss ein Stück Vergangenheitsbewältigung. Dank seiner Literatur bleiben die Opfer im Gedächtnis, kommen die Toten zu Wort. Dank seiner Texte entsteht eine Verbindung zu den Toten über den Tod hinaus. Aisthesis und Mnemosyne - Wahrnehmung und Erinnerung – offenbaren sich als verborgenes Zentrum der weiss’schen Kunstauffassung.


Die Autorin

ANJA SCHNABEL


Literaturwissenschaftlerin, Jahrgang 1968, studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie in Hannover. Sie schreibt an einer Dissertation mit dem Titel "'Nicht ein Tag, an dem ich nicht an den Tod denke' - Peter Weiss' Todesvorstellungen und Todesdarstellungen in seinen Bildern und Schriften". Seit 2000 bereut sie die "Kontaktstelle Peter Weiss-Forschungsprojekte" der Internationalen Peter Weiss-Gesellschaft e.V. (www.peterweiss.org), seit 2002 ist sie Vorstandsmitglied der IPWG.