Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 69

April 2008

Der 9. November wird in der Evangelischen Landeskirche Württemberg als Gedenktag an die "Reichskristallnacht 1938" eingeführt. So hat es die Landessynode im Herbst vergangenen Jahres beschlossen. “Der 9. November müsste verbindlicher begangen werden – überall in der Kirche.“ Dabei geht es nicht allein um die Erinnerung an die Opfer und die Benennung der unmittelbaren Täter. “Die Geschichte des christlichen Antijudaismus müsste gründlicher diskutiert werden“, sagte Pfarrer Michael Volkmann, gemeinsam mit seinem Kollegen Dankwart-Paul Zeller einer der Haupt-Initiatoren im Vorfeld des Beschlusses.

Der erste Gedenktag soll im November 2008 zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht in ganz Württemberg begangen werden. Die Landeskirche will sich zudem dafür einsetzen, dass die gesamte Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen und die anderen evangelischen Landeskirchen den Gedenktag ebenfalls einführen. Die einzelnen Kirchengemeinden sollen den Tag wenn möglich ökumenisch und gemeinsam mit den Kommunen gestalten.

Wolfgang Raupach-Rudnick, Leiter der Arbeitsstelle Kirche und Judentum im Haus kirchlicher Dienste der ev.-luth. Landeskirche Hannover,  der Autor des nachfolgenden Textes, hat ganz in diesem Sinne etwa schon vor dem Gemeinsamen Ausschuss der Evangelischen Kirche in Deutschland für dieses Vorhaben geworben. In seinem vorliegenden, exklusiv für COMPASS verfassten Beitrag "Der 9. November - Ein kirchlicher Gedenktag!" rekapituliert er die Geschichte des Gedenkens am 9. November in Deutschland, diskutiert den Stellenwert dieses Gedenktages für die hiesige Erinnerungskultur und plädiert engagiert dafür, diesen besonderen Tag als kirchlichen Gedenktag zu etablieren.

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2008 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 69


Der 9. November – ein kirchlicher Gedenktag!

WOLFGANG RAUPACH-RUDNICK

I.

Kein anderer verbrecherischer Akt des NS-Regimes war derart unmittelbar von Deutschen und Österreichern erfahrbar wie der 9. November. Die Bilder dieses Tages sind fest im kollektiven Gedächtnis verankert: die brennenden Synagogen, die zerbrochenen Schaufensterscheiben, die auf die Straßen geworfenen Möbel, die Plünderungen – das sind einprägsame und aus der Erinnerung abrufbare Szenen. Es gibt sicher andere, für die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden „wichtigere“ Ereignisse, wie der Erlass der Nürnberger Gesetze; diesen Ereignissen aber fehlt die Stärke der Bilder.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 markiert den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung und der 1941 auf der Wannseekonferenz beschlossenen „Endlösung“, der Vernichtung des europäischen Judentums. Während der „Kristallnacht“ wurden mehrere hundert Menschen ermordet oder nahmen sich das Leben. Etwa 30.000 Juden wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, wo nochmals Hunderte ermordet wurden oder an den Folgen der Haft starben.


II.

In den Jahren nach Kriegsende spielte die Erinnerung an den 9. November in Deutschland keine Rolle1 – erinnert wurde an die Pogrome in jüdischen Publikationen in Palästina/Israel und in den USA. Im November 1950 führte die Zeitung der jüdischen Gemeinde in Berlin „Der Weg“ eine Presseanalyse durch und fand die Ergebnisse „beschämend“: „Während in den letzten Jahren eine Anzahl größerer Tageszeitungen noch der ‚Kristallnacht’ gedachte, während in den vergangenen Jahren noch einige deutsche Rundfunkgesellschaften dem Gedenken dieses schaurigen Tages wenigstens zehn oder fünfzehn Minuten widmeten, war es im Jahr 1950 an diesem Tag recht ruhig. Wir haben am 9. und 10. November je über 100 Tageszeitungen gelesen und kamen zu dem überraschenden … Ergebnis, dass sage und schreibe vier Zeitungen des 12. Jahrestages der Vernichtung jüdischer Gotteshäuser, jüdischer Wohnungen und des Beginns der Liquidierung des Judentums gedacht haben. Unter diesen vier Artikeln war sogar noch einer von einem Landesrabbiner….“ (Der Weg, 17. November 1950)

Das Gedenken damals wurde von jüdischen Überlebenden und anderen Verfolgten des Nazi-Regimes getragen und fand abgeschlossen gegenüber dem Rest der Gesellschaft statt. Noch 1968, am 30. Jahrestag, brachte die ZEIT gar nichts, und der Spiegel nur am Rande einen Hinweis, während die Abdankung des Kaisers 1918 ausführlich abgehandelt wird.

Diese Situation ändert sich Ende der 70er Jahre deutlich. Die ersten kirchlichen Arbeitshilfen erscheinen, und die Medien greifen das Thema breit auf: die ZEIT widmet dem 9. November ein mehrseitiges Dossier und einen Aufsatz des Germanisten Hans Mayer über die „verbrannte Synagoge“. Diese neue Aufmerksamkeit trifft zusammen mit dem ersten Staatsakt in der Kölner Synagoge, bei dem Bundeskanzler Helmut Schmidt Hauptredner war.

Für die weitere Wirkung war die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Die abstrakten Opferzahlen erhielten Biographie und Gesicht. In dieser Zeit entstand die Form des Gedenkens, die wir bis heute kennen.

Wiederum zehn Jahre später, 1988, erreichte das Gedenken an die „Kristallnacht“ „einen nachgerade fieberhaften, epidemischen Höhepunkt in Westdeutschland und, verhaltener, auch in der DDR.“ Zahllose Ausstellungen, Radio- und Fernsehsendungen, Vorträge und Lesungen, Konzerte in Kirchen, Schulen, Stadthallen und Universitäten wurden veranstaltet, sowie Mahnwachen und Gedenkwege in vielen Städten organisiert. Den Höhepunkt bildete die Feierstunde im Deutschen Bundestag mit der Rede von Philipp Jenninger, die heftigen Protest auslöste. „Seine unkonventionelle, aber im Wesentlichen nicht anfechtbare Rede passte nicht in den politisch-korrekten Holocaust-Kanon und insbesondere nicht in das neu etablierte Holocaust-Gedenken.“ Er musste von seinem Amt zurücktreten.

Nach der Wende hat die Erinnerung an den 9. November einiges von ihrer Dynamik eingebüsst – obwohl fraglos das Gedenken an die Vernichtung der Juden insgesamt gewachsen ist.

Anfang der 90er Jahre trug der 9. November nach den Pogromen gegen Asylsuchende und Einwanderer ein doppeltes Gesicht. Das Gedenken an das Jahr 1938 wurde auf die die nationale und demokratische Einheit ausgeweitet. Deutlich wird das an der Großdemonstration am Vorabend des 9. November 1993 in Berlin. Mehr als 300.000 Menschen nahmen unter dem Motto des Artikels 1 der Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ teil. Die „Kristallnacht“ wurde nun zum sekundären Anlass für ein wichtiges Thema des vereinten Deutschland.

In den Folgejahren ist eine Abkehr der Politik von diesem Datum zu beobachten. Das Gedenken fand im Wesentlichen auf regionaler Ebene und in jüdischen Gemeinden statt.

Zum 60. Jahrestag der „Kristallnacht“, 1998, gab es trotz der kontroversen Rede Martin Walsers nur einen Monat zuvor nur wenige Veranstaltungen auf nationaler Ebene. Das Zeremoniell fand nun auch nicht mehr im Bonner Bundestag, sondern in der Synagoge Rykestr. in Berlin statt. Weder Bundespräsident Roman Herzog noch Ignatz Bubis sprachen in ihren Reden die Ereignisse des 9. November 1938 an: Im Hinblick auf die Erzählung des Geschehenen schien ein gewisser Sättigungsgrad erreicht.

Nun ist die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den letzten Jahren nicht schwächer geworden: Bitburg, Historikerstreit, Goldhagen-Debatte, Diskussion um das Berliner Mahnmal, Walser-Bubis-Debatte. Man kann natürlich fragen, ob solche Debatten nicht wichtiger seien als ein an einem Kalenderdatum haftendes Gedenken, das sich immer wieder gegen Erstarrung und Routine durchsetzen muss. Die Gegenfrage aber lautet: Ging es bei diesen Debatten wirklich um die Erinnerung an die Opfer? Michal Bodemann kommt zu der These: „dass in Deutschland das Interesse an der Schoa als einer Sequenz von Ereignissen, die das deutsche Volk betreffen, von vergleichsweise untergeordnetem Interesse ist. Die eigentliche Debatte dreht sich nicht um jüdische Erinnerung. Die Frage, die den Diskurs in Deutschland bestimmt, ist, wie Schuld und erhoffte Tilgung von Schuld – auch symbolisch durch finanzielle Entschädigung – mit den deutschen Kategorien nationaler Identität in Einklang zu bringen sind.“ (S. 96)



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III.

„Reichskristallnacht“ oder …?“ Bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde der 9. November 1938 ohne größere Diskussion „Reichskristallnacht“ genannt. Zum 40. Jahrestag 1978 kam eine neue Wortbildung auf“ „Reichspogromnacht“. Das Motiv für die Neubildung war offensichtlich das Bemühen, Nazisprache zu vermeiden. Dennoch ist dieser neue Begriff nicht angemessen; er verbindet das Wort „Pogrom“ mit dem von den Nationalsozialisten inflationär gebrauchten Reichsbegriff und gibt dem Ereignis eine historische Legitimität – gewissermaßen in einem Atemzug mit Begriffen wie „Reichsgründung“ oder „Reichswehr“ – die durch das makabre Wortungetüm „Reichskristallnacht“ gerade verhindert wurde. Über dieses Wort muss man stolpern. Gerade der Jargonausdruck war dem furchtbaren Geschehen – im Zusammenspiel von Machthabern und Bevölkerung – angemessen. Seine Doppelbödigkeit und Doppeldeutigkeit war typisch für die Zeit und für die Versuche eines Teils der Bevölkerung, sich ein Ventil zu schaffen, um mit dem, was sich anbahnte, doch noch leben zu können. Der Volkswitz bemächtigte sich der hochtrabenden Sprache der Herrschenden, und diese griffen mit der ihnen eigenen Selbstgefälligkeit auf, was ihnen davon zu Ohren kam. Man konnte „oben“ beruhigt sein, wenn es keine schärferen Reaktionen gab als diese bissig-ironische Formulierung.

Ich sehe auch nicht, dass dieser Begriff die Opfer verhöhne und die Gräueltaten verschleiere. Die eingeprägten Bilder des kollektiven Gedächtnisses verhindern, dass der Begriff Assoziationen wie diese eröffnet: „Kristallnacht! Da funkelt, blitzt und glitzert es wie bei einem Fest.“2 

Gegen den Begriff „Pogrom“ steht der historische Fakt, dass es sich um eine vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Zerstörung von Einrichtungen, Eigentum und Leben der Juden im Deutschen Reich handelte, und keineswegs um einen spontanen Ausbruch der Bevölkerung, wie es tags drauf die Nazipropaganda einhämmerte, wenn sie von „gerechter Empörung“ und „eindeutiger Antwort des Volkes“ sprach.

Im angelsächsischen Sprachraum hat sich der Begriff „Kristallnacht“ eingebürgert. Es gehört zur Geschichte, dass aus der deutschen Sprache nicht nur Worte wie „Kindergarten“, sondern auch „Endlösung“ und „Blitzkrieg“ exportiert wurden. Wir können das Wort „Kristallnacht“ weiter verwenden; es bleibt ein Denkanstoß.


IV.

Ein Problem gegenwärtiger Gedenkveranstaltungen hat eine Veranstaltung während des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Köln 2007 deutlich gezeigt. Es tritt vor allem dann auf, wenn Juden und Christen gemeinsam der Schoa gedenken. Die Kölner Veranstaltung fand unter dem Motto der Gedichtzeile von Hilde Domin „Nimm Steine und bau mir ein Haus“ statt. Es gab bewegende Musik; Textbeiträge des jüdischen Journalisten G. B. Ginzel – er erzählte von Interviews mit ehemaligen Kölnern und Kölnerinnen, ihren Erinnerungen an die Schulzeit, an den jüdischen Karneval; erzählte von solchen Feiern nach 1945, bei denen auch die eintätowierten KZ-Nummer von Überlebenden au den fröhlich bewegten Armen zu sehen gewesen seien… Am Ende der Veranstaltung gingen die meisten Menschen sichtlich bewegt und erschüttert nach Hause.

Diese Veranstaltung war typisch für viele andere: Juden tragen die Hauptlast des Erinnerns vor einem christlichen Publikum. Allzu oft lassen wir Juden vor uns und für uns und mit uns gedenken. Das ist bewegend – aber, was bewegen solche Veranstaltungen wirklich? Sind Kirche und Öffentlichkeit wirklich getroffen? Indem wir unsere Gedenkfeiern immer wieder mit der Einladung an die „Opfer und ihre Nachkommen“ verbinden – bereiten wir eine Situation vor, in der wir mit unseren Traditionen nicht wirklich „ins Gericht“ gehen können. Das gemeinsame Ritual überspielt die Differenzen zwischen Tätern und Opfern, auch in den Erinnerungen, auch in den Ursachen, die die einen zu Tätern und die anderen zu Opfern gemacht haben, und führt zum Stillstand.


V.

Für die Kirchen ist der 9. November durch keinen anderen Gedenktag zu ersetzen. Das gilt auch für den Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar. Auch wenn die Befreiung von Auschwitz für die Verfolgten von eminenter Bedeutung war: die Befreiung konnte innerhalb des Deutschen Reiches nicht beobachtet und erfahren werden. Zudem birgt dieses Datum die Gefahr, die Täter- und Opferperspektiven zu vermischen und sich unbewusst mit den Befreiern zu identifizieren. Der 27. Januar ist ein Tag ohne Erinnerung in Deutschland.

Auch der israelische Gedenktag Jom ha Schoa ist für ein Gedenken in Deutschland ungeeignet. Er ist auf den Warschauer Ghettoaufstand bezogen (27. Nisan) und hat als Datum keinen Bezug in Deutschland.

Der Israelsonntag, der 10. Sonntag nach Trinitatis, der frühere Gedenktag an die Zerstörung Israels, hat mehr und mehr seinen Schwerpunkt verschoben. Er ist jetzt vorwiegend ein Tag, an dem die Kirche ihrer jüdischen Wurzeln und der bleibenden Verbindung mit Israel gedenkt. Zudem ist dieser Sonntag traditionell nur in den lutherischen Kirchen verankert.

Ich halte fest:

1. Der 9. November hat wegen seiner bildhaften Verankerung in der Erinnerung der Deutschen als Gedenktag bessere Voraussetzungen als andere Daten des Kalenders.

2. Wenn (unausgesprochenes) Thema des bisherigen Gedenkens in der Bundesrepublik die Frage ist, wie Schuld mit den Kategorien nationaler Identität in Einklang zu bringen sei, dann ist diese Schuldfrage auch eine Herausforderung für die Kirchen; hier ist ihr Beitrag gefragt, immerhin haben sie im Umgang mit individueller Schuld eine reiche Tradition.

3. Und schließlich: Die zerstörten Synagogen und verbrannten Torarollen als Auftakt zur Ermordung jüdischer Bürger mahnt die Kirchen an die Geschichte christlicher Judenfeindschaft. Jede der ausgrenzenden Maßnahmen des NS-Regimes ist in den Jahrhunderten zuvor bereits von den Kirchen vorweggenommen worden.


BEGEGNUNGEN - Zeitschrift für Kirche und Judentum

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Aus dem Inhalt (Auszug):

Ulrich Knufinke:
Aktuelle Synagogenarchitektur in Deutschland
Klaus Wengst:
Vom Saulus zu Paulus?
Saul Friedländer
Stimmen, die bewegen

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VI.

Gedenken heute muss der Situation Rechnung tragen, dass Zeitzeugen kaum mehr anwesend sind; es muss beachten, dass heute die dritte und vierte Generation nach dem Geschehenen angesprochen ist.
In dieser Situation hilft die Frage, welche biblischen Traditionen für die Bearbeitung von politischer Schuld und für eine Erinnerungskultur insgesamt fruchtbar gemacht werden können.

„Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nichts vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt, dein ganzes Leben lang. Und du sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun, den Tag, da du vor dem HErrn, deinem Gott, standest am Berg Horeb, als der HErr zu mir sagte: Versammle mir das Volk, dass sie meine Worte hören und so mich fürchten lernen alle Tage ihres Lebens auf Erden und ihre Kinder lehren. (Dtn 4,9.10)

Die jüdische Erinnerungskultur ist auch in ihren pädagogischen Dimensionen, etwa am Beispiel des Sederabends an Pessach oft beschrieben3 worden und hat diese Einsichten gebracht:

1. Diese Erinnerung ist emotional.
2. Es wird erzählt, es werden keine Dokumente oder Berichte vorgetragen.
2. Solche Erinnerung schafft die Möglichkeit einer positiven Identifizierung. Eine solche Identifizierungsmöglichkeit ist auch bei der Erinnerung an Katastrophen notwendig: Jad Vaschem wäre ohne die hinführende Allee der Gerechten kaum zu ertragen.
4. Die Erinnerung wird mit der eigenen Lebensgeschichte verknüpft.

Alle Erfahrungen in der Schul-, vor allem aber in der Gedenkstättenpädagogik bestätigen diese Kriterien.


VII.

Ich plädiere also dafür, der „Kristallnacht“ in einem eigenen Gottesdienst zu gedenken4, und zwar unabhängig davon, ob eine jüdische Gemeinde vor Ort oder die politische Gemeinde zu eigenen oder gemeinsamen Gedenkveranstaltungen einlädt. Das Gedenken an die eigene christliche Schuldgeschichte und die drauf folgende Umkehr kann nicht delegiert werden. Der 70. Jahrestag 2008 fällt auf einen Sonntag und eröffnet breite Möglichkeiten bereits innerhalb des sonntäglichen Gottesdienstes.

Der 9. November ist das exemplarische Datum, an dem die Geschichte christlicher Judenfeindschaft – und die Umkehr der Kirchen nach der Schoa – angesprochen werden kann. Wegbereiter dieser Umkehr nach 1945 waren auch die Wenigen in der Kirche, die bereits 1938 nach dem 9. November in Predigten o. ä. ihre Stimme erhoben haben. Ihre Stimmen gehören in das Gedenken hinein. Der Gottesdienst kann zur Identifikation mit dieser Umkehr einladen. Der 9. November ist auch ein Tag der „Kirchengeschichte“, nicht nur der jüdischen Geschichte.

Der 9. November kann die Verknüpfung mit der eigenen Lebensgeschichte leisten – fraglos für die noch wenigen Älteren. Aber auch nachgeborene Generationen können hinein genommen werden. Sie haben heute vielfältige Erfahrungen mit nicht-ethnisch Deutschen und können der Frage nachgehen: Warum kamen bestimmte Gruppen in das Visier der Nazis? - Hier wären noch andere Verknüpfungen zu entdecken.


VIII.

Inzwischen hat die Evangelische Landessynode in Württemberg, am 25. Oktober 2007, mit überwältigender Mehrheit bei einer Gegenstimme und 4 Enthaltungen eine Bitte an den Oberkirchenrat beschlossen:

- „den 9. November als Tag der Erinnerung und Umkehr einzuführen,
- landeskirchenweit dafür zu sorgen, dass der 70. Jahrestag im Jahr 2008 allgemein verbindlich begangen wird;
- den Gemeinden zu empfehlen, jährlich am 9. November der Ereignisse am 9. November 1938 zu gedenken, wo möglich in ökumenischer Verbundenheit und in Verbindung mit den Kommunen…
- die Möglichkeit zur Aufnahme in den liturgischen Kalender des Evangelischen Gesangbuches zu prüfen;
- das Anliegen dieses Antrags der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen und über den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland den übrigen Mitgliedskirchen der EKD bekannt zu machen.“

Der Antrag für diesen Beschluss beruht auf einer Initiative des Arbeitskreises „Begegnung mit der jüdischen Gemeinde Petrosawodsk“ an der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde Tübingen. Diese Initiative wurde am 7. September 2005 durch Pfarrer Dankwart-Paul Zeller und Pfarrer Dr. Michael Volkmann gestartet. Nacheinander machten sich der Kirchengemeinderat der Dietrich-Bonhoeffer-Kirche, der Gesamtkirchengemeinderat Tübingen, die Kirchenbezirkssynode Tübingen und die Kirchenbezirke Münsingen, Leonberg und Blaufelden sowie die landeskirchliche Arbeitsgruppe „Wege zum Verständnis des Judentums“ in Denkendorf den Beschluss zu Eigen.

Inzwischen mehren sich die Stimmen, die diese Initiative begrüßen. Einzelne Arbeitskreise in den Landeskirchen und die EKD planen mit Gottesdiensthilfen das Gedenken an diesem Tag zu unterstützen. Es bleibt zu hoffen, dass die vielfältigen Chancen, die der 70. Jahrestag der „Kristallnacht“ an einem Sonntag bietet, in großer Breite für das kirchliche Gedenken genutzt werden. An diesem Tag kann sichtbar werden, dass die Kirchen die Stimmen jüdischer Erinnerung wahrgenommen haben, indem sie auf diese Stimmen mit der Erinnerung an ihre eigene Geschichte antworten.



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ANMERKUNGEN



1 Ich orientiere mich bei dem Überblick in diesem Abschnitt wesentlich an den Arbeiten des kanadischen Soziologen Y. Michal Bodemann, Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung ,Hamburg 1996, und In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland, dtv 2002. Dem zweiten Titel, S. 89 bis 97, sind die Zitate entnommen.

2 So Avraham Barkai, „Schicksalsjahr 1938“, in: Walter H. Pehle (Hg.) Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkermord. Frankfurt a M, 1988, 94-117. 113. Zitiert nach: Shoa.de – Die „Kristallnacht“-Lüge.

3 z. B. Astrid Greve: „Erinnern lernen – Impulse aus biblisch-jüdischen Wurzeln für eine notwendige Zukunftsaufgabe“, in: epd-Dokumentation 3/2005, Erinnern und Verstehen – Schwerpunkte eine nachhaltigen Pädagogik nach Auschwitz, S. 23-31.

4 Vgl. „Als die Synagogen brannten. Gedenkgottesdienst am 9. November 1998“, Arbeitshilfe Kirche und Judentum 12. Hg. Der Beauftragte für Christentum und Judentum der ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Wolfgag raupach-Rudnick, Amt für Gemeindedienst, Archivstr. 3, 30169 Hannover.


Der Autor

WOLFGANG RAUPACH-RUDNICK


Ehemals Geschäftsführer der Aktion Sühnezeichen und jetzt Beauftragter für christlich-jüdischen Dialog in der Hannoverschen Landeskirche.
Herausgeber der Zeitschrift "Begegnungen. Zeitschrift für Kirche und Judentum", im Auftrag des Evang. Lutherischen Zenteralvereins für Begegnung von Christen und Juden e.V.