Zu Gast bei ...
Igal Avidan:
Israel. Ein Staat sucht sich selbst,
München: Diederichs 2008,
216 Seiten,
19,95 EUR.
Sylke Tempel:
Israel. Reise durch ein altes neues Land,
Berlin: Rowohlt Berlin Verlag 2008,
256 Seiten,
19,90 EUR.
Eine Rezension von Dr. Martin Kloke
Zwischen Gott und Google. 60 Jahre Israel
„Wird Israel noch weitere 60 Jahre existieren?“, ist die bange Frage, die den roten Faden des Buches von Igal Avidan markiert. Indem der israelische Autor den noch immer blutenden „Kaiserschnitt“ von 1948 in seinen Konsequenzen anschaulich und begreiflich werden lässt, erweist er sich als Insider und Grenzgänger zwischen den politisch-kulturellen Milieus seiner israelischen Heimat. 60 Interviews bilden die materialgestützte Essenz des denkwürdigen Buches.
Igal Avidan macht bereits in der Einleitung deutlich, was ihn politisch und moralisch im Innersten bewegt: Es ist die Position eines linksliberalen reformjüdischen Peaceniks, der für einen Friedensschluss mit den Arabern bis an die Grenze der nationalen Selbstaufgabe gehen würde. Einerseits hält Avidan die israelische Gesellschaft für „militant“ und „zerrissen“; andererseits sieht er in der friedlichen Umsiedlung der 14.000 Siedler aus dem Gazastreifen nach Israel eine „bemerkenswerte Leistung“. Insofern verkörpert der Autor den Typus des säkularen Tel Aviver Links- oder Postzionisten, für den die israelische Selbstkritik zu den Grundwerten jüdisch-zionistischer Identität zählt. Avidan umschreibt Israel in fast paradoxen Formulierungen: „Israel ist ein jüdischer Staat, weil die meisten Israelis Juden sind, aber keine Theokratie. Das Land ist säkularer als je zuvor. Aber der Anteil der Ultraorthodoxen steigt. Die Mauer zwischen ihnen und dem Rest der Bevölkerung wird immer höher.“
Es nimmt nicht wunder, dass Avidan in weiten Teilen seines Buches den israelisch-palästinensischen Konflikt in den Blick nimmt. Dabei seziert er die letzten tatsächlichen oder vermeintlichen „Tabus“ des israelisch-arabischen Konflikts, macht auf die unheilvollen Folgen der Besatzung auf die Palästinenser, aber auch auf die israelische Zivilgesellschaft aufmerksam, hält nach gelebten Modellen einer friedlichen Koexistenz Ausschau und versucht, Verständnis für die politischen Hoffnungen der Palästinenser zu wecken. Ein solches Unterfangen ist in einer Zeit, in der Israel tagtäglich von palästinensischen Raketen aus dem Gazastreifen beschossen wird, orchestriert von martialischen Vernichtungsdrohungen aus dem Iran, alles andere als populär.
Avidans selbstkritische Perspektive ist legitim, aus europäischem Blickwinkel sogar sympathisch. Dennoch sind einige von Avidans Tatsachenbehauptungen und Werturteilen mindestens fragwürdig: Wenn im Gespräch mit dem kritischen Historiker Benny Morris von der „Ausrottung der 700.000 Palästinenser“ im Unabhängigkeitskrieg die Rede ist, so dürfte diese ungeheuerliche Unterstellung einem Übersetzungsfehler geschuldet sein. Auch die naive Verwendung des historisch belasteten Begriffs „Blitzkrieg“ zur Charakterisierung des Sechstagekrieges von 1967 mag ein bloßer Lapsus sein, über den offenbar weder Autor noch Lektor gestolpert sind – möglicherweise auch deshalb, weil hierzulande schon 1967 mit solchen und ähnlichen Metaphern kollektive Emotionen geschürt worden sind, etwa in der Bild-Zeitung.
Nicht nachvollziehbar bleibt, warum Avidan abenteuerliche Behauptungen seiner Gesprächspartner immer wieder kommentarlos stehen lässt – so auch die scheinbar beiläufige Bemerkung des Linksaktivisten Haim Hanegbi zum Sechstagekrieg: „Uns war klar, dass der Krieg gegen Ägypten ausgeweitet wurde, um das Westjordanland zu erobern, um das zu vollenden, was wir im Krieg von 1948 begonnen hatten, um bis zum Jordan zu gelangen.“ Tatsächlich aber starteten die Israelis ihren mehrtägigen Eroberungsfeldzug gegen Jordanien erst in dem Moment, als die jordanische Armee – in Unkenntnis der tatsächlichen militärischen Kräfteverhältnisse – Israel angriff, um ihrem ägyptischen Bündnispartner beizustehen, nachdem die Ägypter zuvor die Mär vom bevorstehenden „Endsieg“ über Israel verbreitet hatten.
Einerlei, ob sich Avidan den Aporien des Nahostkonflikts oder den innerjüdischen Spannungen zwischen Religiösen und Säkularen, Orientalen und Westlern widmet: Anhand des Brennpunkts Jerusalem kann er überzeugend vermitteln, dass die Uhren im Nahen Osten anders ticken als hierzulande: „Hier ist nicht der Prenzlauer Berg, sondern der Tempelberg“. Gleichwohl entwirft Avidan am Schluss seines Buches ein versöhnliches Szenario – am Beispiel zweier „moderner Propheten“, die beide an der Vereitelung ihrer jeweiligen „Horrorszenarien“ arbeiten und dennoch ein bemerkenswert realistisches Augenmaß an den Tag legen: Israel Harel, Vorsitzender des Instituts für Zionistische Strategie und als solcher ein eher moderater Vertreter der Siedlerbewegung, möchte den jüdisch-zionistischen Charakter Israels sicherstellen – Israels Existenz als zionistischer Staat ist ihm wichtiger als die Beibehaltung aller Siedlungen. „Der Sicherheitszaun wird die Grenze sein“, zeigt er sich sicher. Ron Pundak, Leiter des friedenspolitischen Peres Centers, glaubt, erst „die friedliche Festlegung der Grenze mit den Palästinensern“ werde Israel „stabilisieren“. Avidan, letztlich nun doch ein zionistischer Patriot, schlussfolgert: „Politisch könnten die beiden kaum unterschiedlicher sein. Sie sitzen aber dennoch im selben Boot, das sie vor dem Untergang retten soll. Ein anderes Land haben sie nicht.“
Die Journalistin und Publizistin Sylke Tempel zeigt in ihrer Reisereportage kaum Interesse an den tagespolitischen Ereignissen und „dramatischen Szenen“. Stattdessen rückt sie die eigentlich bedeutsame „Rahmenhandlung“ in den Vordergrund: die Tatsache, dass Israel nach fast 2000 Jahren überhaupt wieder existiert – „allein aufgrund der Kraft einer Idee“, die ihren Ausgangspunkt vor über 3000 Jahren in der sagenumwobenen „Offenbarung am Berg Sinai“ genommen hat. Da ist es nur folgerichtig, dass sich die Autorin in ihrer geschichts- und religionsphilosophisch akzentuierten Deutungsperspektive zunächst auf den Spuren des israelitischen Exodus durch die Sinai-Halbinsel bewegt. Weitere Stationen ihrer Reise „durch alle Schichten der jüdischen Historie“ sind die Felsenfestung Massada in der judäischen Wüste, die „alte Dame“ Jerusalem mit ihrer mehr als 3.000 Jahre währenden Geschichte, Algen züchtende Pioniere in der Negev-Wüste („idealistisch, aber nicht fanatisch“), die Siedlung Kirjat Arba bei Hebron, die nordisraelische Landschaft Galiläas, die Jesreel-Ebene, wo sich die ersten zionistischen Einwanderer niederließen, und schließlich die liberale Metropole Tel Aviv. Wo immer sich Sylke Tempel aufhält – im Bus, im Café, beim Trampen oder Wandern –, begegnen ihr Menschen, die anders sind als es das Klischee suggeriert: Es sind europäisch oder gar deutsch geprägte Jekkes, eislaufende Russen, religiöse Fanatiker, zionistische Pioniere der ersten Stunde, Beduinen, israelische Araber, arabische Juden, äthiopische Neuankömmlinge, Überlebende des Holocaust, Soldaten und andere Durchschnittsisraelis. Dabei ist Israel alles andere als ein Schmelztiegel – das Land ist Schauplatz einer einzigartigen multikulturellen Gesellschaft, in der mehr als 90 Sprachen gesprochen werden.
Anders als Avidans kritisches Sachbuch mutet Tempels Reisebericht streckenweise wie eine Hommage für Israel und seine Menschen an. Man möge sich vom eigenwillig-düsteren Mauer-Cover, das dem anklagenden Agitprop-Flyer propalästinensischer „Aktivisten“ entnommen sein könnte, nicht in die Irre führen lassen. Tatsächlich ist das Buch eine ebenso klug wie unterhaltsam geschriebene Liebeserklärung an ein Land, das der Autorin seit ihrem ersten Israel-Aufenthalt in den frühen 1980er Jahren ans Herz gewachsen ist. Die „geschichtsträchtige Schwere Jerusalems“ ging ihr mit den Jahren ein wenig „auf die Nerven“; heute schätzt sie eher die „fröhliche Oberflächlichkeit“ des hedonistischen Tel Avivs mit seiner bunten Partyszene: „Ich wurde Jerusalem untreu und begann, mich in Tel Aviv zu verlieben. ?...? eine Entscheidung für einen anderen Lebensstil.“
Macht sich in Sylke Tempels Buch ein unangenehm lobhudelnder Tonfall breit, der die komplexen Realitäten des vorderorientalischen Landes ausblendet? Keineswegs: Die ehemalige Nahostkorrespondentin lässt uns, en passant, teilhaben an ihrer langjährigen engagiert-mitfühlenden Auseinandersetzung mit der Geschichte, Politik und gegenwärtigen Situation Israels im Nahen Osten. Tempel schreibt in erfrischender Direktheit und Klarheit, was sie denkt – und das stets transparent und wohlbegründet. Kein gutes Haar lässt sie z. B. an den umstrittenen Siedlungsprojekten im Westjordanland, die die israelische Gesellschaft schleichend korrumpieren, jeden erdenklichen Friedensprozess erschweren und die israelische Gesellschaft Milliardenbeträge kosten. Es seien die Siedler in der Westbank, die als „neuzeitliche Zeloten“ die „zionistischen Ideale verraten“ würden. Auch die Funktion und Folgen des „Trennungswalls“ zwischen Israel und der Westbank, der inzwischen zu mehr als 50 Prozent fertiggestellt ist, analysiert sie in aller gebotenen Ambivalenz: Einerseits nimmt sie die Beschlagnahmung palästinensischer Felder für die vorgelagerten Sicherheitsschneisen und die Einkreisung grenznaher palästinensischer Ortschaften wahr, die das Alltagsleben vieler Palästinenser erschweren; andererseits gibt sie zu bedenken, dass seit dem Bau des Sicherheitswalls die Zahl der Terrorattentate nachhaltig abgenommen hat: „Der Verlauf einer Mauer kann verändert werden. Auch Betonwälle kann man wieder abreißen. Aber ein verlorenes Menschenleben ist nie wieder zurückzubringen.“
Doch Israel ist weit mehr als ein krisengeschüttelter Akteur im Nahostkonflikt, dessen genuin jüdisch-demokratische Werte von außen wie von innen bedroht sind: Es ist die gelebte Erfahrung eines modernen Wunders – ein Land, das sich vom „kollektivistisch organisierten Familienbetrieb“ zum modernen „Hightechland“ entwickelt und gleichwohl von der Frage umgetrieben wird, worin die „Jüdischkeit“ seiner vom Kulturkampf zwischen Religiösen und Säkularen geprägten Gesellschaft besteht.
Die stärksten Momente des Buches sind jene liebevollen Beobachtungen, die dem Buch eine Atmosphäre verleihen, die unter die Haut gehen: So erzählt Sylke Tempel von der unglaublichen Arbeit der Biologin Elaine Solowey, die unter „nächtlicher Bewachung und gutem Zureden“ es schafft, einem fast 2.000 Jahre alten Dattelkern, der bei Aufgrabungen auf der Festung Massada gefunden worden war, zu neuem Leben zu verhelfen. Der Dattelkern „Methusala“ ist inzwischen zu einer respektablen 50 Meter großen Dattelpalme herangewachsen.
Und so geht es weiter – im fast zärtlich-fabulierenden Tonfall: Wenn Tempel etwa vom herben „preußischen Charme“ der Jeckes berichtet, von der sprichwörtlichen Direktheit und herzlichen Unhöflichkeit junger Israelis oder vom Zwiegespräch mit dem theoretischen Vordenker des Zionismus, einer zwei Meter hohen Holzstatue am Rande der Schnellstraße 2 im „Emek Silikon“ zwischen Herzlija und Tel Aviv: „Theodor Herzl blickt nicht mehr auf Sand und Dünen, sondern auf die Glaspaläste von IBM und Motorola, Intel, Google und Cisco Networks, SAP und Microsoft ?...?. ‚Ist doch nicht schlecht, oder?’, wende ich mich an den Holz-Herzl. Der wäre kein waschechter Wiener, würden ihm allein wirtschaftlicher Erfolg und ‚Unternehmensgeist’ genügen. ‚Gibt’s auch genügend Kaffeehäuser?’ ‚Reichlich’, nicke ich ihm zu. ‚Pro Einwohner mehr als in Manhattan, Bars und Restaurants nicht mitgerechnet.’ ‚Ein ordentliches Kulturleben?’ ‚Fünf größereTheater, eine Menge kleinerer Bühnen, ein philharmonisches Orchester, ?...? eine Oper, ?...?, zwei Universitäten, mehrere große Museen, viele kleine Galerien, von Kinos ganz zu schweigen. – Zufrieden?’ ‚Zufrieden’, nickt er.“
Auf die Frage „Woher kommen Sie?“ erfährt die Autorin Geschichten von Flucht, Vertreibung, Tod oder Überleben. Der Holocaust ist bis zum heutigen Tag Bestandteil zahlloser Familiengeschichten; das Trauma der Schoah will nicht vergehen. Zum innerisraelischen Narrativ gehört die Überzeugung, dass das Leben von Millionen Menschen hätte gerettet werden können, wenn es den jüdischen Staat einige Jahrzehnte früher gegeben hätte. Scharfsinnig beobachtet Tempel: „Kein Land war (und ist) solch entschlossen geäußerten Vernichtungsdrohungen ausgesetzt wie Israel. Keines wird mit solcher Aufmerksamkeit beobachtet oder an derart hohen moralischen Maßstäben gemessen wie der jüdische Staat – als ob gerade die Opfer zeigen müssten, dass sie aus ihrer eigenen Geschichte die richtigen Lektionen gelernt haben.“ Wen wundert’s, dass viele Israelis diese neurotische Außenwahrnehmung als Beleg dafür nehmen, dass der jüdische Staat heute jene Außenseiterrolle einnimmt, in die früher die Juden der Diaspora gedrängt worden war. „Hinter dem oft trotzig zur Schau gestellten Selbstbewusstsein, hinter dem Beharren, nur man selbst könne am besten für die eigene Sicherheit sorgen, steckt ein tiefes Einsamkeitsgefühl“, vermutet die Autorin. Das „Haus Israel“, bilanziert Sylke Tempel, ist und bleibt eine demokratische Baustelle ohne verbindliche Hausordnung – zusammengehalten durch einen ungebrochenen Überlebenswillen, den Optimismus und das Improvisationstalent seiner streitbaren Bürger, deren nationale Identität in der altneuen Heimat erst im Entstehen begriffen ist.
Wird Israels Lebensgrundlage eines Tages so normal und so selbstverständlich sein wie die Existenz der USA oder der Schweiz? Werden die Israelis mehr Zeit und Muße finden, sich mit den wunderbaren Banalitäten des Alltags zu beschäftigen? Es ist der passionierte Radfahrer Igal Avidan, der für diesen postzionistischen Traum ausgerechnet auf eine Quelle des frühen Zionismus zurückgreift: „An einem sonnigen Wintertag radle ich entlang der wunderbaren Promenade am Hafen von Tel Aviv und denke an Theodor Herzl ?...?. Vor mehr als einhundert Jahren prophezeite er nicht nur den Judenstaat, sondern auch die Massenverbreitung des Radfahrens“ – als „Verkehrsmittel“ für moderne „Individualisten“. Ob sich die Israelis in 60 Jahren den Luxus leisten können, über diesen Denkanstoß Herzls ebenso leidenschaftlich zu räsonieren wie über die Existenzaussichten ihres – trotz aller Sorgen, Schmerzen, Selbstzweifel und Sünden – großartigen Gemeinwesens? Zu wünschen wäre es – Masal-tov Israel!
(COPYRIGHT beim Autor)
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