Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 89

Januar 2009

"Ich glaube, dass die Zeugen, vor allem die Überlebenden, die wichtigste Rolle haben. Sie können einfach, mit den Worten des Propheten, sagen: Ich war da."

Elie Wiesel, selbst Auschwitz-Überlebender, von dem diese Worte stammen, beschreibt damit treffend die unüberschätzbare Bedeutung des Überlebenden als Zeugen - als Zeuge einer Wahrheit, die weder dem Menschen noch Gott zur Ehre gereicht, einer Wahrheit, die den bitteren Blick in die Abgründe der Geschichte öffnet, einer Wahrheit, die
noch immer und immer wieder von manchen nicht wahrgenommen und schlichtweg geleugnet wird. Der jüngste Skandal um die päpstliche Rehabilitierung des bischöflichen Holocaustleugners Richard Williams (siehe Compass 26.01.09) unterstreicht auf ebenso dramatische wie aktuelle Weise Notwendigkeit und Stellenwert der Berichte von Holocaust-Überlebenden.

Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht des heutigen Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus gewinnt das mit dem heutigen Online-Extra vorgelegte "Dokument der Unmenschlichkeit" besonderes Gewicht. Es stammt aus der Feder von Martin Starke, einem Hamburger Juden und Holocaust-Überlebenden, der in einem Brief im Februar 1947 an Freunde und Bekannte Zeugnis ablegte von seinen "Schreckensjahren in den Konzentrationslagern Fuhlsbüttel und Auschwitz".

Martin Starkes bislang nur hektographiert vorliegender Bericht wird an dieser Stelle erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Möglich ist dies dankenswerter Weise durch seinen Sohn Pit Goldschmidt, der COMPASS die Genehmigung zur Veröffentlichung des Berichts seines Vaters an dieser Stelle erlaubte.

Möge der hier nun publizierte Überlebensbericht von Martin Starke - gemeinsam mit dem Auszug aus dem Gespräch mit der Holocaust-Überlebenden Hanna Mandel (siehe Online-Extra Nr. 88) - einen kleinen Beitrag leisten, dem Vergessen zu widerstehen: um einer besseren Zukunft willen!


© 2009 Copyright bei Pit Goldschmidt 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 89


Ein Dokument der Unmenschlichkeit

Ein Bericht über meine Schreckensjahre in den Konzentrationslagern Fuhlsbüttel und Auschwitz, geschrieben am 5. Februar 1947 für Freunde und Bekannte in Südamerika

MARTIN STARKE
herausgegeben und zur Verfügung gestellt von seinem Sohn Pit Goldschmidt


Sehr geehrte Frau Seckel, liebe Freunde,

meine Schreibfaulheit, zu der die andauernde Kälte kommt, die lähmend auf jedem Menschen liegt, hat dieses Schreiben an Sie so lange hinausgezögert. Überdies sollte es aber nicht nur ein Brief, sondern ein Bericht über die letztvergangenen Jahre sein, und es hat Zeit gebraucht, sich dazu zu entschließen.

Ich will in ganz kurzen Zügen das aufzuzeichnen versuchen, was ich in den Schreckensjahren in den verschiedenen Lägern der Nazis erlebt habe:

Am 4. November 1942 wurde ich auf eine Denunziation von Schallert hin von Wohlers und Mecklenburg verhaftet. Ich kam nach Fuhlsbüttel und feierte Wiedersehen mit dem Raum, in dem mir im November 1938 die Nase demoliert worden ist. Nachdem ich alle die kleinen Schikanen (Einzelhaft, Prügel und was sonst noch dazugehört) hinter mir hatte, glaubte ich, dass ich wie viele andere auch wieder entlassen würde, stattdessen feierte ich mein erstes Weihnachten im KZ. In einem Brief, den ich damals hinausschmuggeln konnte, und der erhalten ist, finde ich folgende Beschreibung: Ko.-La.-Fu., Saal Bl, erster Weihnachtstag 1942.

Heiliger Abend! Ganz Eurasien ist im Saal vertreten. Mit allem Zubehör. Selbst die Wanzen und Läuse fehlen nicht. – Ein kleines Tannenzweiglein mit goldenem Band (das ich in einem Päckchen bekam) schwebt einsam über den 85 Menschen. Heiliger Abend, eine Stimmung zum Heulen. Da haben wir die Idee, Gefangenen-Weihnacht zu machen. Jeder, der ein Paket erhielt, muss spenden. Zigaretten, hier ein Artikel von unermesslichem Wert, braune Kuchen, Brot, Strümpfe und ein Hemd werden an die verteilt, die nichts haben. Du kannst Dir nicht vorstellen diese Dankbarkeit der Kameraden, Russen, Tartaren, Chinesen, Franzosen und Malayen. Die Ausländer sangen mit gedämpfter Stimme Heimatlieder, alle Anstaltsdisziplin ging zum Deubel – Folge: Tür auf, Wachmeister! Gott sei Dank anständiger Kerl, Erlaubnis, bis sieben Uhr zu feiern, dann antreten, abzählen, ins Bett, Licht aus, Schluss! – Heiliger Abend.

Am 4. Februar 1943, genau ein Vierteljahr nach meiner Einlieferung wurde ich nach Auschwitz transportiert. In Tagesetappen über Berlin, wo ich 16 Tage im Alex in Quarantäne lag, Breslau, Oppeln, Bromberg usw. kam ich eines Tages dort an.

Meine Familie, der man eingeredet hatte, wir würden uns in Berlin treffen und dann gemeinsam irgendwohin gebracht werden, ist am 12. Februar 1943 über Berlin direkt nach Auschwitz gekommen. Ein Kamerad, Berthold Grass, hat mir von der Fahrt und dem Verleib der Meinen erzählt. Ich will hier kurz seine Geschichte einschalten, da Sie ihn wahrscheinlich noch aus dem Beth Chalus erinnern.

Nach den Novembertagen 1938 war er nach Dänemark ausgewandert, wo er den Entschluss fasste, Ende 1942 nach Palästina zu gehen. Es hätten ihm andere, wenn auch weitere Wege offengestanden, aber er hatte die abenteuerliche Idee, durch Nazi-Deutschland trampen zu wollen. Dabei hatte er die Novemberkälte nicht in Rechnung gestellt. Er hing völlig verklammt in den eisigen Gestellen eines Güterwagens, bis es ihm gelang, unbemerkt in einen Waggon zu schlüpfen. Sein Verderben! Er schlief vor Erschöpfung nämlich so fest ein, dass er jedes Gefühl für seine Umgebung verlor. Er bemerkte nicht, dass der Zug hielt, noch weniger, dass er in Hamburg auf ein Abstellgleis geschoben wurde.  Er wachte erst auf, als zwei Reinmachefrauen ihn aufstöberten. In seiner Verwirrung war er nicht gleich Herr der Situation, so dass er der Bahnhofspolizei vorgeführt wurde, die ihn an Herrn Göttsche abgab. So erschien er zu meiner größten Überraschung eines Tages in Kolafu.

Als ich ihn in Auschwitz wiedersah, blickte er aus einem Fenster des Krankenhauses. Er sagte mir, dass er dem gleichen Transport wie meine Familie angeschlossen worden sei, dass er gesehen habe, wie meine Frau und „der Peter“ (meine damals sechsjährige Tochter Irene Antionette) für die Gaskammer aussortiert worden sind, gleich nach der Ankunft, während Sulamith und Vera zu Fuß in das Frauenlager Birkenau gegangen seien. Ich habe später, als ich auch in Birkenau war, an arbeitsfreien Sonntagen durch freiwillige Arbeit Zutritt ins Frauenlager gehabt und alle mir erreichbaren Stellen ausgeforscht, doch nie etwas über die Kinder erfahren können.

Bei meiner Ankunft in Auschwitz waren wir 24 Männer. Die zehn Frauen wurden am Bahnhof gleich von uns getrennt. Mit großer SS-Bewachung – vierundzwanzig Häftlinge und fünfzig Mann SS – wurden wir durch das riesige Gelände, das zum Lager Auschwitz gehört, geführt. Wenn ich vom Bahnhof Auschwitz rede, dann meine ich den Lagerbahnhof. Die Stadt, 10 km vom Lager entfernt, habe ich erst 1945 beim Rückmarsch gesehen.

Wie 1938 in Sachsenhausen bestand unser Empfang darin, dass wir Stunden vor dem Tor stehen mussten. Da ich eine gute Schule hinter mir hatte und in Fuhlsbüttel das Schlussexamen machen konnte, hat mir persönlich dies nicht viel anhaben können. Die anderen Kameraden, lauter Neulinge, mussten schon in diesen Stunden den Vorgeschmack der Hölle, die unserer wartete, kennenlernen. Nach fünfzehn Stunden wurden wir zerschunden und zerschlagen in das Lager geführt. In einem Vorraum des Duschraumes mussten wir uns entkleiden. Die Haare wurden geschoren, der Körper mit einer beizenden, stinkenden Flüssigkeit eingerieben (zum Entlausen). Dann gab es ein sehr heißes Duschbad. In diesem Zustand: nass, heiß, ausgehungert und schon vollkommen gleichgültig gegen das, was noch kommen könnte, wurden wir mit Stockhieben auf die vereiste Lagerstraße getrieben. Zweck: Abhärtung. Bei manchem Kameraden wurde da schon der Keim für den baldigen Tod gepflanzt. Die Zeitbestimmung ging verloren. Wieder nach Stunden empfingen wir Lagerkleidung: Ein dünnes Hemd, eine fadenscheinige blauweiß gestreifte Hose und dito Jacke. Keine Strümpfe, keine Kopfbedeckung, für die Füße schwere, klobige Holzschuhe. Ein jeder von uns dachte, nun hat es ein Ende. Es wurde schon dunkel, war es doch Ende Februar und bitterkalt. Wir wurden in einen Steinbau geführt und mussten auf dem Korridor warten. Nach Aufruf durfte man eintreten: Die Häftlingsschreibstube. Der Trauring wurde einem abgenommen, man wurde registriert und bekam eine Nummer. Meine ist 103 752. Im Nebenraum wurde dieses Abzeichnen auf den linken Unterarm tätowiert. Damit war man aus den Reihen der Menschen ausgestoßen. Man war nur mehr eine Nummer unter zehntausenden und lebte wie ein Automat.

Endlich kamen wir auf den Block. Immer drei Mann ein Bett, so groß wie ein Luftschutzbett, drei Etagen übereinander. In einem Raum von ca. 20qm schliefen 150 Personen. Hier blieb ich 14 Tage in Quarantäne. Wenn die alten Häftlinge zur Arbeit waren, durften wir an die Luft. Es wurden die Lagerstraßen gefegt, Fenster geputzt und die Blocks gereinigt, eine Beschäftigung, die bei halbwegs ausreichender Ernährung und etwas Wärme auszuhalten gewesen wäre. Es gab für uns aber, da wir „nicht arbeiteten“, nur 100g Brot und einen Viertelliter kaffeeähnlichen Getränks, mittags um 12Uhr  ¾ Liter dünne Wassersuppe mit ein paar Kohl- oder Rübenblättern als Einlage. Schluss für den Tag, was das Essen anlangt.

Geweckt wurde morgens um fünf Uhr. Anziehen, Betten bauen, Raustreten zur Musterung durch den Blockältesten. Dann Antreten zum Appell. Stundenlanges Stehen im Wind und Wetter. Dann, nachdem wir inzwischen auf die verschiedenen Kommandos verteilt worden waren, wurde nach dem Appell zur Arbeit rausgerückt. Mittags und abends war noch mal Appell. Eingerückt wurde im Winter um acht Uhr bei Scheinwerferbeleuchtung. Ich war anfangs bei einem Glaserkommando. In Auschwitz wurde alles gearbeitet. Das Land Galizien hier unten ist unfruchtbar, das Klima rau. Als es noch zu Österreich gehörte, hat es hier nur Geflügel- und Fischzucht gegeben. Die Häftlinge unter deutscher SS-Verwaltung mussten riesige Werkhallen für Krupp bauen, Straßen wurden angelegt, Eisenbahnnetze gestreckt, Wasser- und Elektrizitätswerke aus dem Boden gestampft. Es war ein unerhörtes Arbeitstempo, schlimmer als Sklavenarbeit in den dunkelsten Tagen der Sklaverei. Wir waren Juden, wir kosteten nichts, es gab unseresgleichen in allen Ländern, die Hitler eroberte. In Auschwitz waren Juden aus fast allen Staaten Europas, Holländer, Belgier, Franzosen, Griechen, Norweger, Tschechen, Juden vom Balkan, sogar aus Afrika hatte man sie hierhergebracht, ehemals reiche, glückliche Menschen. Große Künstler und Politiker waren darunter, berühmte Ärzte und Wissenschaftler aller Nationen. Alle standen vom Sonnenaufgang bis zu ihrem Untergang im Kampf um das bisschen Leben. Wer krank wurde, war verloren. Ein paar Tage Krankenbau, bei Nichtgesundung ging es nach Birkenau in die Gaskammer. Glücklich sind die Menschen zu preisen, die diesen Weg gleich nach ihrer Ankunft gehen mussten. Sie wusste nicht, was ihrer harrte. Sie gingen in den Duschraum. Zu Hunderten pferchte man sie ein. Ein Handtuch, das man ihnen gab, täuschte sie: sie glaubten, baden zu sollen. Ein paar Bomben Cyklon B platzten, und wenn man die Räume wieder öffnete, waren ganze Transporte blühender, wertvoller Menschen ein im Todeskampf verkrampfter Haufen Nichts. Immer wieder frage ich mich in ruhigen Stunden: Wie hat ein Mensch dies aushalten können? – Dass es möglich ist, beweist meine Rückkehr.

Nach vielmaligem Wechsel der Kommandos wurde ich in das Lager Birkenau verlegt. Mit mir kamen 4000 Häftlinge dahin. Birkenau – Dein Name wird mit Grauen von Menschen geflüstert, Menschen, die Dich kennenlernten und das große Glück hatten, Deinen Klauen zu entkommen. Hier in Birkenau, wo die großen Judentransporte ankamen, wo drei Krematorien standen, wo meine Kameraden und ich als Facharbeiter noch drei weitere dieser Massenvernichtungskirchen bauen mussten, hier hat man fast geglaubt, es gibt keinen Gott, etwas Schlimmeres kann nicht gedacht werden.

Wenn ich von Massenvernichtungskirchen spreche, hat dies einen Grund. Die Gebäude waren hoch und groß, wie schöne Dorfkirchen. Hohe, gotische Fenster, aus hartem Klinker ausgeführt, wie für die Ewigkeit gebaut. Nur störte der an Stelle des Glockenturms stehende wuchtig ragende Schornstein. Diese Krematorien lagen wunderschön in dem in dieser Gegend sonst so spärlichen Tannengrün eingebettet. In Luftlinie hart neben dem Lager. Um hinzukommen, bedurfte es weiter Umwege, der elektrisch geladenen Drahtsperren wegen. Wochen und Monate habe ich Tag und Nacht aus dem Essen den feurig angeleuchteten schwarzen Qualm aufsteigen sehen. – Es wurde der Jude vernichtet. Der Führer befahl es, und seine Schergen haben mit einer bestialischen Lust das ihre dazugetan. In der Zeit, in der ich in Birkenau war, habe ich die Läger A, B und C mitbauen müssen. In diese Läger kamen Zigeuner die man genauso drangsalierte und misshandelte, wie uns Juden.

Zu unseren allernächsten Vorgesetzten ernannte man die Hefe Deutschlands: Verbrecher aller Kategorien, die jahrelang hinter Zuchtausmauern ihr Leben verbracht hatten, wurden Lagerälteste, Blockälteste und Capos. Diese Menschen waren Herr über Leben und Tod. – Wenn die Krematorien nicht ausreichten, die Juden zu beseitigen, kamen Befehle heraus:

Die Kommandos dürfen in der Woche vom … bis … nur mit 50% ihrer Sollstärke einrücken. – Solche Befehle lösten eine Welle von Mord und Grausamkeit, die sich nicht in Worte kleiden lässt, aus. Junge gut gewachsenen Menschen gaben ihren Körper diesen vertierten Männern, die jahrelang keine Frau gesehen hatten, nur um ihr Leben zu retten. Väter haben ihre Rationen den Capos geschenkt, um ihre Söhne zu schützen. Aber allen konnte es nicht gelingen, der Befehl war da, der Capo wollte sich auf seinen Posten halten. Ich habe aus dieser schweren Zeit ein Bild, das ich nie vergessen werde, solange noch Atem in mir ist.

Es war wieder Winter geworden. Ein Transport folgte dem anderen. Die Toten lagen vor den Krematorien aufgestapelt wie Holz. In der Nacht war wieder der Zug angekommen. Alarm im Lager. Häftlinge wurden ausgesucht, um lange Gräben außerhalb des Lagers auszuheben. Bis zum Mittag war die Arbeit getan, die so schwer war am hartgefrorenen Boden, dass sie allein schon viele hundert Tote gebracht hat. Nun kam das Grauen:

Vom Dach eines Krematoriums, auf dem ich mit noch zwei Kameraden arbeitete, sah ich, was mir unauslöschlich im Gedächtnis haften blieb. Männer, Frauen und Kinder mussten sich in der Eiseskälte nackt ausziehen und wurden mit Lederpeitschen in die Gräben gejagt und dann mit Maschinengewehren von der SS erschossen. Wie die Menschen fielen, ob tot oder verwundet, man warf sie in die Gruben und bedeckte sie mit den harten Erdschollen. Als alles vorüber war, hob und senkte sich der Boden über den Begrabenen. Es lebten noch sehr viele. Die Häftlinge, welche die Gräben ausgehoben und alles mit angesehen hatten, wurden danach im Hof des Krematoriums I erschossen und später verbrannt. Es ist ein Gotteswunder, dass man uns drei auf dem Dach des Krematoriums IV vergessen hatte. Sollten meine Kameraden Moritz Weigel aus Lublin und Aron Rosenstock aus Biala mit dem Leben davongekommen sein und irgendwie diesen Bericht zu Gesicht bekommen, werden beide dieses und noch vieles andere bestätigen können.

Bald hiernach bin ich ins Hauptlager Auschwitz zurückverlegt worden. In der Quarantäne teilte ich mein Bett mit dem heutigen französischen Ministerpräsidenten Léon Blum, bis ich nach Buna kommandiert wurde, dem Arbeitslager für das Werk der IG-Farben, 12km von Birkenau entfernt, das auf der Stelle des geschleiften Dorfes Monowitz errichtet worden war. Dieses Werk, größer als Leverkusen, ist in drei Jahren in Tag- und Nachtschichten fast nur von Juden erbaut. Hier wurde alles hergestellt, was deutscher Erfindergeist in den Laboratorien ersann:

Künstliches Gummi = Buna, daher der Name, synthetisches Benzin, Methylalkohol, Seife, Teer, Gas, Karbid, Zement, kurz alles, um die Kriegsmaschine in Gang zu halten. Selbst die in Birkenau anfallende Asche unserer Toten wurde hier mit Chemikalien vermischt und dann der Landwirtschaft als Düngemittel verkauft. Ich selbst habe in diesem Mischbetrieb mehrere Wochen arbeiten müssen. Wir waren 10.000 Häftlinge in der Nähe des Werkes in Baracken untergebracht. Ich war inzwischen in einem Malerkommando (Nr. 106).

Mit der Zeit machten sich die Folgen von Stalingrad auch bei uns bemerkbar. Die Männer wurden knapp, es fehlte an Arbeitskräften, die Transporte wurden nicht mehr wahllos und im Ganzen in die Gaskammern gebracht. Wer arbeitsfähig war, wurde eingesetzt. Die Ernährung ist dabei nie besser geworden, das hatte zur Folge, dass die Kameraden, wenn sie abgearbeitet waren und zu nichts mehr zu gebrauchen waren, immer noch den Weg der Vielen gingen. Mit dem Vorrücken der Russen hatten wir auf dem Werk sehr unter Bombenangriffen zu leiden. Da Häftlinge in keinen Bunker duften, konnte man sich nur schützen, indem man im Werk auf den Straßen, an der Stelle, wo man arbeitete, sich hinter Mauern oder in Unterführungen verkroch oder auf freiem Feld sich in einem Graben niederwarf. Doch viele hat es erwischt, wenn nicht durch Bomben direkt, dann durch herunterkommende Mauern oder Maschinen, die hunderte von Tonnen wogen. Mancher Kamerad ist nach dem Angriff nicht wiedergekommen. Beim Abendappell wurde die Nummer verlesen und in der Kartei gestrichen.

Die Polen und Russen, die sich hier im Bereich ihrer Sprache befanden, haben in dieser Zeit vielfach versucht, in Freiheit zu kommen. Die Front rückte näher. Im Werk arbeiteten zivilinternierte Polen. Manches Stück Zivilkleidung ist aus dieser Quelle zu den Ausbrechern gelangt. Einigen ist die Flucht geglückt, die meisten sind wieder eingefangen worden. Diese armen Kerle wurden dann nach 14 Tagen an unserem freien Sonntag im Beisein der angetreten Häftlinge erhängt.

Auch ich habe an einem sonnigen Sonntagnachmittag mit einer Schlinge um den Hals unter dem Galgen gestanden. Außer mir sollten zwei Polen, mit denen ich die Flucht versucht und etwa fünfzig km des Weges in die Freiheit hinter mich gebracht hatte, ausgelöscht werden. Es war alles so gleichgültig geworden. Verhungert, zerschlagen, mürbe gemacht durch 14 Tage Stehbunker, wo Tag und Nacht grelle Birnen dicht über einem brennen, in einem absichtlich unerträglich überheizten Raum, der so eng ist, dass man sich nicht hinsetzen kann, schien mir der Tod eine Erlösung. Meine übrigen Kameraden waren angetreten, von der SS mit Maschinenpistolen in Schach gehalten. Manch einen sah ich, dem ich durch gemeinsame Leidensjahre verbunden war. Es ist etwas Schönes um die Kameradschaft. Sie zeigt sich erst dann, wenn einer für den anderen eintritt, und nichts dafür erwarten kann, als einen festen Händedruck und das Wort: Dank Dir Kamerad. Dieses Erleben, diesen wahren Mut, wenn es heißt, den Kameraden zu schützen, gibt es nur unter Menschen, die unter solchen Bedingungen wie wir von der Außenwelt abgeschlossen sind. Wir waren alle allein auf uns selbst gestellt. -

Der Lagerführer erscheint. Das Schauspiel nimmt seinen Lauf. Die Todeskandidaten werden auf polnisch und deutsch gefragt: „Hast Du noch etwas zu sagen?“ Ob ja oder nein, gehängt wird doch. Die polnischen Kameraden hatten nichts zu sagen; ich einiges. Es war mir gleich, aber raus musste es, ich wollte es dem Lagerführer nicht schenken.

Bei einem Bombenangriff auf Buna hatte ich einem Untersturmführer das Leben gerettet. Ich sah den Mann in einen Bau des Kommandos 26 hineinrennen, Bombensausen mit irrsinnigem Geheul aus den Maschinen schlagen rundherum ein in die Straßen und Gebäude, Menschen hasten, schreien, toben, das Kommando 26, in dem das Elektrolager war, ist getroffen. Beim Rettungsversuch, der Kameraden gilt, die dort gearbeitet haben, komme ich an den Untersturmführer, der unter Trümmern eingeklemmt liegt und blutet. Ich machte ihn frei und band mit meinem Hemd das blutende Bein ab. Als es etwas ruhiger wurde, schleppte ich ihn in unser Lager und übergab ihn der Wache. Nach dem Abendappell wurde mir in der Politischen Abteilung eröffnet, dass der Verwundete vor seinem Abtransport alles zu Protokoll gegeben habe, mit dem Bemerken: Sollte ich aus irgendeinem Grunde bestraft werden, so könne ich mich auf seine schriftlich niedergelegte Aussage berufen.

Das habe ich in knappen Worten dem Lagerführer erzählt. Großes Schweigen. Die Execution wird ausgesetzt. Unruhe in der stummen Menge der Häftlinge. Bewegung bei der SS. Nach einer kleinen halben Stunde erscheint die Lagerleitung wieder. Auf einen Wink fällt die Bodenklappe zu meiner linken, bald baumelt auch der Arme an meiner rechten Seite. Nun kommt das große Wunder: Auf Befehl wird mir die Schlinge abgenommen, die Handfessel gelöst. Urteil lautet: 6 Monate Strafkompanie Fürstengrube. Das galt fast gleich einem Todesurteil und ließ nur geringe Chance.

Die Fürstengrube, ein altes verkommenes polnisches Bergwerk, war in den Vierjahresplan eingespannt. Es wurde eine minderwertige Kohle dort gefördert. Von den schon so knappen Rationen wurde fast die Hälfte strafweiße gekürzt. Die Arbeit unter Tag war hart, und der Tag dauerte vierzehn Stunden. Mag kommen was will, solange noch der Atem reicht, wird geschaffen. Wieder hatte ich Glück. Mein Capo unter Tag entpuppte sich als Landsmann aus dem Holsteinischen. Sein Verbrechen war, Kommunist zu sein. Er hatte in seiner Gegend gegen Hackens und Genossen agitiert. Ich kannte nur seine Nummer in den 68.000 und seinen Vornamen: er hieß Alfred. Dieser Mann hat es fertiggebracht, mich in einer Kolonne über Tag unterzubringen. Ich hatte Gelegenheit, mit Polen zusammenzukommen und mit gestohlenen Kohlen Brot einzutauschen, so konnte ich mein Leben fristen.

Nach Ablauf der Strafzeit kam ich nach Buna zurück und bekam wieder mein altes Kommando. Dort blieb ich bis zu unserem Abmarsch am 17. Januar 1945, als die Russen bis in unsere unmittelbare Nähe vorrückten und die Läger geräumt werden mussten.

Viele Einzelheiten kann ich in diesem Bericht, der Ihnen und den Bekannten im Großen meine Erlebnisse veranschaulichen soll, nicht bringen, sonst müsste ich ein Buch schreiben.

Wie schon gesagt, begann am 17. Januar 1945 der Marsch in die Freiheit, der soviel länger dauern sollte, als wir anfänglich annahmen, dass er für die meisten ein Todesmarsch wurde. Wie vielen guten Kameraden ist es nicht vergönnt gewesen, die Heimat wiederzusehen.

Abends sechs Uhr begann der Marsch. Zehntausend Häftlinge. Vor uns auf allen möglichen und unmöglichen Fahrzeugen die deutschen Zivilarbeiter vom Werk. Beim Durchmarsch durch Auschwitz Stadt – der Ort ist auf einer Anhöhe wunderschön an der Sola, einem Nebenfluss der Weichsel gelegen – hörten wir das Krachen der Sprengungen. Das, was in jahrelangem Mühen, gekittet mit dem Blut der Juden aus der halben Welt, aufgebaut worden war, ist in einer hellen, kalten Mondnacht in Trümmer gesunken. Wir marschierten in unserer dünnen Kleidung, mit Holzschuhen an den Füßen, in dieser Nacht und dem nächsten Vormittag bei fast meterhohem Schnee 90km nach Gleiwitz. Mit ca. 6.000 Kameraden kamen wir dort an. Aber diejenigen, die den Marsch nicht mitmachen konnten, weil ihr Zustand es nicht mehr erlaubte, die zurückgeblieben waren im Lager, was ist aus ihnen geworden? Haben die Russen sie befreit, oder sind sie noch vorher umgelegt worden? Wer weiß es.

In Gleiwitz wurden wir auf offene Kohlenwaggons geladen. Immer 150 Mann pro Wagen. Am anderen Morgen ging die Fahrt los. Wohin? – Niemand konnte eine Antwort geben. Von einem Lager zum anderen ging es. Ich nenne nur einige Namen, die ich im Vorbeifahren las: Linz, Mauthausen, Gusen, Außig und viele andere. Niemand wollte uns aufnehmen, alles war überfüllt. So sind wir 14 Tage durch Deutschland, Österreich und Tschechoslowakei gefahren worden, immer unter freiem Himmel, ohne Essen, ohne Trinken. Wenn es schneite oder es einem Mutigen gelang, bei Halt auf freier Strecke vom Wagen zu springen und Schnee heraufzulangen, ohne erschossen zu werden, konnte man die aufgesprungenen Lippen und die trockene Zunge kühlen. Setzen konnte man sich nicht. Wer schwach wurde und umfiel, erfror und wurde vom fahrenden Zug geworfen. Die Städte und Dörfer an unserer Strecke haben manchen unbekannten Toten in die Erde gesenkt, von dem nur die Nummer auf seinem Arm Auskunft gab. Wo aber war die Kartei, die seinen Namen kannte? Verbrannt und vernichtet, wie alles, was Zeugnis geben konnte über das Leiden und Sterben der Millionen von Auschwitz.

Wir kamen in Berlin bei dem Lager der Heinkelwerke an. Ganze 40 Mann auf meinem Wagen. Was schreibe ich – vierzig Mann!? – 40 Halbtote, 40 verhungerte, frostblaue Skelette, in den Anzügen schlotternd, die nicht imstande waren, allein den Wagen zu verlassen. Aber die SS hat es geschafft. Mit Fußtritten wurde der Rest des Lagers Buna in die großen, kahlen Flugzeughallen getrieben und fand für eine Nacht Ruhe. Nichts zu essen und nichts zu trinken. Und Ruhe – in diesem Zustand auf dem blanken Zementboden – wer an den Außenrändern des schlafenden Menschenknäuls zu liegen kam, hier fand er die ewige Ruhe. – Fast vierzehn Tage blieben dort. Die Zeit verging mit Registrieren und Entlausen. Irgendeinen Vertreter des Hausherrn haben wir nicht zu Gesicht bekommen.


Neun Monate Winter, 
Drei Monate kalt, 
Das ist Flossenbürg
Im Bayerischen Wald.


Außerdem besaß es, wie Mauthausen auch, eine berüchtigte „Todestreppe“ in seinem Steinbruch, die vielen Tausenden Russen das Leben gekostet hat. Zu unserer Zeit wurde im Steinbruch nicht mehr gearbeitet, ebenso wenig in den Flugzeugfabriken von Messerschmitt, in denen Einzelteile gebaut worden waren. Die Auflösung des Tausendjährigen Reiches machte sich schon bemerkbar, und es galt nur, nicht selbst mit hineinzugeraten. Darum meldete ich mich, dem Rat alter politischer Häftlinge folgend, freiwillig zur Arbeit. Ich gab an, ich sei gelernter Betonarbeiter. So wurde ich mit einem Transport von 500 Mann nach Plattling in Niederbayern verschickt. Im frommen Plattling hatte man nie KZ-Häftlinge gesehen. Bei unserem Einmarsch in die Stadt wurden wir wie Wilde angestaunt. Eine Unterkunft war nicht vorbereitet. Es gab Kompetenzstreitigkeiten zwischen der Organisation Todt und der Luftwaffe, für die wir arbeiten sollten. Endlich gelang es dem katholischen Pfarrer des Ortes über die Gemeindebehörden eine Schule freizumachen. Wir waren untergebracht. – In Stuben wie Menschen. Das war ein Leben. Betten wurden gebaut, es gab gutgefüllte Strohsäcke und aus einer benachbarten Fleischwarenfabrik Bouillon mit Brot und Grützwurst. Wunderbar! Aber, aber der arme Magen. Der arme ausgehungerte Magen, solcher Kost entwöhnt, rächte sich. Auch das Gute kann schaden, wenn es zu spät kommt. 75% wurden krank. Ein Stopp brachte zwar Besserung, doch haben gut hundert Kameraden im Laufe der nächstfolgenden Zeit die wenigen Mahlzeiten mit ihrem Leben bezahlt. Hier in Plattling wurden nach langen Jahren unsere Toten wieder wie Menschen der Erde übergeben, wenn auch außerhalb der Friedhofsmauern in dunkler Nacht, im feuchten Ufersand der Isar.

Unsere Arbeit war, gemessen an unseren Kräften, schwer. Eine zwei km lange Startbahn für die neuen Düsenflugzeuge sollte gebaut werden. Sie ist nie fertig geworden. Die Amerikaner brachen durch. Uns setzte man in Richtung Dachau in Marsch. Bis Mühlberg sind wir gekommen. Ein gütiges Geschick hatte dafür gesorgt, dass die Brücken auf unserem weiteren Wege gesprengt waren. – Wohin nun? – Unser Lagerführer entschied, man müsse versuchen, nach Österreich zu entkommen. Wir sind Wochen marschiert und haben von dem gelebt, was die Bauern an Kartoffeln ihren Schweinen entzogen. Jeden zweiten oder dritten Tag auf den Mann drei bis vier Pellkartoffeln. Unterwegs erlebten wir viele Angriffe amerikanischer Tiefflieger, aber Häftlinge wurden nie beschossen. Man hörte aus allen Himmelrichtungen Artillerie- und Maschinengewehrfeuer. Allmählich waren wir nicht mehr allein auf den Straßen. Formationen der geschlagenen deutschen Armee in schon sehr gelockerten Verbänden zogen in beiden Richtungen unaufhörlich und ohne Ziel dahin. Unsere SS hatte sich aus einem am Wege liegenden Magazin neue Uniformen besorgt. Auf einmal waren die grimmigen Wachen ganz zahme Luftwaffensoldaten geworden, die ihre Gewehre jedoch noch brav zu gebrauchen verstanden, und wenn man einen Kameraden, weil man selbst glaubte, sich keinen Schritt mehr weiterschleppen zu können zurücklassen musste, so hörte man kurz darauf einen harten Knall, der sein Leben beendete.

Da – eines Tages – wir waren nahe der österreichischen Grenze – hörten wir hinter uns MG-Feuer. Unsere Bewachung verschwand links und rechts der Straße im Wald, wir sanken in den Graben. Ein Brausen und Dröhnen kommt die Straße herauf. Schon ist es da. Ein großer Tank der amerikanischen Armee hält bei uns. Das Mannloch öffnet sich, heraus springt ein junger Offizier, kommt auf uns zu, erkannte sofort die Situation und fragt nach unserer Bewachung. Unsere Antwort brachte ihn schnell auf Touren. Rein in den Tank, ein Radiogespräch nach hinten, kurz danach mehrere Truppenautos. Die Mannschaften runter von den Wagen, ein paar knappe Befehle, und schon knallte es im Wald. Was sich nicht ergab, wurde niedergemacht. Wir waren frei. – Frei!!! Aber ich habe es erst viel später begriffen. Es gab Zigaretten – ein lang entbehrter Genuss für uns. Mit der Truppe war Sanitätspersonal gekommen. Die Kranken, darunter auch ich, kamen auf die Wagen und wurden – ins Paradies gefahren: Auf einer Wiese im Schnee war ein großes Zelt aufgebaut. Saubere, weißbezogene Betten standen da. Benzinöfen strahlten wohlige Wärme aus, wir wurden „Sie“ genannt. Die schmutzige, verlauste Häftlingskleidung fällt. Ein nackter, hilfloser Mensch wird von zart zufassenden Händen in ein laues Bad, in eine Gummiwanne gesetzt, und wie ein Baby gebadet, sanft frottiert, mit einem Hemd bekleidet und in ein weißes Bett gelegt. Ein Arzt kommt, ein kaum fühlbarer Stich, die Spritze ist leer und schon versinkt alles in einem Nebel. Wie lange ich dieses erste Mal seit Jahren so entspannt und befreit geschlafen habe, weiß ich nicht. Als erste Nahrung nach dem Erwachen bekam ich eine Schnitte geröstetes Weißbrot. Langsam durften wir essen. Langsam musste jeder Bissen zerkaut werden. Dann wurden wir gewogen. Ich wog 35 kg bei einer Länge von 1,85m. Wer das nicht gesehen hat, glaubt es nicht. In den ersten Tagen wurde geschlafen, immer nur geschlafen, unterbrochen durch kleine Imbisse, unserem Zustand angepasst. So haben wir, die Letzte von Buna, unsere Freiheit und allmählich das Leben wieder gewonnen.


MARTIN STARKE

Martin Starke, geb. 22.12.1899, 10.11.1938 bis 8.1.1939 KZ Sachsenhausen, 4.11.1942 bis 4.2.1943 Haft KZ Fuhlsbüttel, ab Februar 1943 KZ Auschwitz, ab 6.2.1945 KZ Flossenbürg, befreit 1945, gestorben in Hamburg am 11.3.1957

Martin Starke kam als Sohn des jüdischen Ehepaars Carl und Cerline Starke, geborene Blättner, in Harburg zur Welt. Nach der Volksschule besuchte er bis zu seinem 14. Lebensjahr die Mittelschule und fing zu Beginn des Ersten Weltkrieges eine Lehre als Bau- und Kunstglaser an. Von Januar 1916 bis Mai 1919 war er Soldat und kehrte mit Verdienstorden aus dem Krieg zurück. Es folgten drei Jahre als Streckenarbeiter bei der Reichsbahn, wo er eine Ausbildung zum Weichensteller machte. 1922 trat er in das Geschäft seines zukünftigen Schwiegervaters ein, der eine Staatslotterie-Kollekte führte. Im selben Jahr heiratete Martin Starke die Hamburgerin Ruth Bertha Speyer, mit der er drei Töchter hatte: 1924 wurde Sulamith, 1928 Vera und 1937 Irene Antoinette geboren. 1935 bekam seine Freundin Käthe Goldschmidt einen unehelichen Sohn von ihm. Martin Starke war inzwischen als selbstständiger Handelsvertreter tätig. Seit Anfang 1930 arbeitete er als Warenverteiler bei der Firma Theodor Clasen in Hamburg. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde jedoch sein Verdienst gekürzt, er selbst im Mai 1934 wegen seiner Zugehörigkeit zum sozialdemokratisch orientierten Reichsbanner und aus "rassischen" Gründen entlassen. Die Familie lebte zu der Zeit im "jüdischen Viertel" am Grindel; Martin Starkes Kultussteuerkarte bei der Jüdischen Gemeinde verzeichnet ihn mit Adressen im Grindelhof 43, in der Hartungstraße, in der Schlüterstraße 80 und in der Rutschbahn 26.

Als Jude und politischer Gegner des Dritten Reiches blieb er arbeitslos, bis er im November 1935 eine Stelle als Hauswart im Verwaltungsgebäude des Jüdischen Religionsverbandes Hamburg in der Beneckestraße 2 annahm, wo die Familie Starke Mitte 1935 eine Kellerwohnung bezog.

Wie viele jüdische Männer wurde er im Zuge der Pogromnacht verhaftet und saß vom 10. November 1938 bis 8. Januar 1939 im Konzentrationslager Sachsenhausen ein.

Im Oktober 1941 begann die systematische Deportation der Hamburger Juden in den Osten. Als Hausmeister und als Mitarbeiter der jüdischen Gemeinde war Martin Starke bei den Großtransporten anwesend und organisatorisch maßgeblich beteiligt an der Ausstattung der Deportationszüge mit Matratzen, Eimern und Kannen für Trink- und Waschwasser, mit Hygieneartikeln und Medikamenten, und er sorgte für die Ausrüstung der Transporte mit Lebensmittelpaketen.

Am 4. November 1942 wurde er denunziert. Nach der Schilderung seines Sohnes hatte er nachts gegen die Vorschriften das "jüdische Viertel" verlassen, ein Motorrad gestohlen, war in die Harburger Berge gefahren und hatte dort Wild geschossen, wie er es schon öfter getan hatte, um sich und Freunde mit Fleisch zu versorgen. Auch in Geschäften und Milchläden hatte er schon mal Lebensmittel für sich und jüdische Freunde entwendet.

Bis zum 4. Februar 1943 saß Martin Starke im Konzentrationslager Fuhlsbüttel ein. Von dort wurde er am 5. Februar 1943 über Berlin, wo er 16 Tage in Quarantäne verbrachte, Breslau, Oppeln und Bromberg nach Auschwitz transportiert. Wie er dort von einem Mithäftling erfahren musste, hatte man seine Familie am 12. Februar aus dem "Judenhaus" Beneckestraße 2 direkt ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Seine Frau und seine sechsjährige Tochter Irene Antoinette waren unmittelbar nach der Ankunft für die Gaskammern selektiert worden. Die Töchter Sulamith und Vera gingen zu Fuß in das Frauenlager Birkenau. Er stellte Nachforschungen an, doch auch sie sollte er nie mehr wiedersehen.

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Martin Starke überlebte die Zwangsarbeit in Buna, dem Arbeitslager der IG-Farben-Werke, überlebte die Bombenangriffe der Russen, entkam nach einem missglückten Fluchtversuch nur knapp seiner Hinrichtung, weil er einem Untersturmführer bei einer Bombardierung das Leben gerettet hatte. Er überlebte auch die Strafkompanie im polnischen Bergwerk Fürstengrube, den Todesmarsch nach Gleiwitz nach der Räumung des Lagers am 17. Februar 1945 und die anschließende zweiwöchige Irrfahrt mitten im Winter auf offenen Kohlewaggons durch Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei bis nach Berlin, den Transport nach Flossenbürg bei Bayreuth, das Arbeitskommando in Plattling in Niederbayern und einen weiteren Todesmarsch in Richtung Österreich, bis er nahe der österreichischen Grenze von den Amerikanern befreit wurde.

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Nach dem Aufenthalt im Lazarett einer amerikanischen Einheit folgte der Rückmarsch nach Hamburg, wo Martin Starke Mitte Juni 1945 ankam. Ab 1947 lebte er in Groß Flottbek und war als Angestellter bei verschiedenen Behörden und schließlich beim Bezirksamt Altona für die Wohnungsabteilung Blankenese tätig. 1948 und 1949 war er Zeuge in Verfahren gegen Gestapobeamte, er sagte im Auschwitz-Prozess in Dortmund aus. 1950 heiratete er Käthe Goldschmidt, die das Getto Theresienstadt überlebt hatte und lebte mit ihr, ihrem gemeinsamen 1935 geborenen Sohn Pit Goldschmidt und seiner Schwägerin Erna Goldschmidt in der Grottenstraße 9 in Othmarschen. Er litt unter Herzproblemen, einer der Folgen der 44 Monate langen Haftzeit in den Konzentrationslagern. Am 11. März 1957 starb er im Alter von 58 Jahren.


(Quelle: Landeszentrale für politische Bildung Hamburg)


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