ONLINE-EXTRA Nr. 90
Wie kaum ein anderer Denker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der französisch-jüdische Philosoph Jacques Derrida weit über die Grenzen seiner Disziplin hinaus eine eminente Wirkung wie auch umstrittene Resonanz gefunden. Als Begründer und Hauptvertreter der sogenannten "Dekonstruktion" beeinflusste sein Werk maßgeblich - neben der Philosophie - die Literatur- und Kulturwissenschaften insgesamt, die Psychologie, Architektur bis hin zu den Rechtswissenschaften. Anknüpfend an Nietzsche und Heidegger, beeinflußt von Emmanuel Levinas und Michel Foucault ging es dem Poststrukturalisten Derrida im Kern um eine Kritik der Metaphysik, indem er gewohnte Grenzziehungen zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Körper, innen und außen, gut und böse, ja sogar zwischen wahr und falsch "dekonstruierte" und als von den herrschenden Kulturen gesetzte Vorstellungen enthüllte, die von keinerlei letztem Sinn, keinem "transzendentalen Signifikat" oder Ursprung gestützt werden. © 2009 Copyright beim Autor
Ein sehr interessanter Aspekt seines philosophischen Denkens betrifft die Rolle des Subjekts, sein Verständnis von "Ich" und "Du", wobei insbesondere der Begriff der "Differenz" eine zentrale Rolle spielt. In diesem Kontext ergeben sich dann eine Reihe ethischer wie auch politischer Konsequenzen, die - ein wenig an Levinas erinnernd - dem "Anderen" einen besonderen Stellenwert einräumen. U.a. an diesen Überlegungen knüpft Mohammed Khallouk an und versucht in dem nachfolgend vorliegenden Text gewissermaßen das Potential auszuloten, das der Philosophie Derridas für die Idee einer multikulturellen Gesellschaft innewohnt, einer Gesellschaft, deren Fundamente auf Toleranz und Respekt vor den Differenzen basiert.
COMPASS dankt Mohammed Khallouk für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!
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Online-Extra Nr. 90
Übergeordnete Leitkultur oder Kulturpluralismus?
Der aus Algerien stammende, französisch-jüdische Philosoph Jacques Derrida (1930-2004) hat mit seinem Postulat zu einer „Dekonstruktion“ eine theoretisch- philosophische Grundlage gelegt, von der aus dem Begehren des Subjekts, sich zum Fundament eines universellen räumlich wie zeitlichen Normierungsmaßstabs zu erklären, entgegengetreten werden kann. Rassisch, kulturell, religiös oder politisch gerechtfertigte Konflikte resultieren gewöhnlich aus dem individuellen wie kollektiven Streben, die eigenen Charakteristika zur universellen Gültigkeit zu erheben und jeglicher Andersheit entweder ihre Berechtigung zu entziehen oder diese zur Unterordnung unter das eigene Moral- oder Gerechtigkeitsverständnis zu drängen. Gegenwärtig erleben wir diese Tendenz in unseren westlichen Gesellschaften, wenn Immigranten aus divergentem kulturellen Umfeld zur Antizipierung einer „Leitkultur“ aufgefordert werden, oder in noch stärkerem Maße, wenn unser Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell außerwestlichen Zivilisationen zur Nachahmung nahegelegt wird. In den orientalischen Civil Societies äußert sich diese Zurückweisung von Differenz aktuell, indem außerhalb des eigenen Kulturkreises entstandene Denkrichtungen unreflektiert als „den eigenen religiösen Wertmaßstäben entgegenstehend“ abqualifiziert werden. Dieser normative Beherrschungsversuch eines kollektiven Subjekts erzeugt Widerstand, der sich gleichermaßen in Phänomenen wie der Fremdenfeindlichkeit oder dem gegen westliche Gesellschaftsnormen gerichteten Islamismus manifestiert, die von einer Überhöhung des Subjekts gegenüber der Differenz geleitet sind.
MOHAMMED KHALLOUK
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Erst die Ungleichheit bringt Identität hervor
Jene Intoleranz gegenüber Differenz vom eigenen subjektiven Wertempfinden entstammt nach Derrida einem metaphysischen Selbstverständnis des Subjekts, wie es in der traditionellen abendländischen Philosophie bislang vorherrschend war und dessen Auswirkung in der Ausgrenzung von Anderssein und Andersheit er als Angehöriger einer Minorität seit seiner Kindheit erfahren musste. Besonders die Erlebnisse des unter dem Einfluss der deutschen nationalsozialistischen Besatzungsmacht stehenden Vichy – Regimes, das ihn als „Nichtarier“ vom Zugang zu allgemeiner schulische Bildung auszuschließen beanspruchte, hat Derrida zur Erkenntnis geführt, dass ein Denken, welches das eigene Subjekt als „Vorsehung“ zum übergeordneten Maßstab erhebt, ein auf gegenseitigem Respekt basierendes Zusammenleben in einer heterogenen Gemeinschaft auf Dauer ausschließt. Stattdessen bleibt das Subjekt immer an die zeit- und ortsabhängigen Konditionen gebunden. Seine Identität erwächst erst aus dem Bewusstsein für die Differenz. Was als „positiv“ oder „gerecht“ erfahren wird, ist notwendigerweise abhängig von den Konstitutionsbedingungen, sowie vom gesellschaftlichen Kontext.
Derrida konnte diese, aus der Differenz erwachsene, Identität in besonderer Weise verinnerlichen, da er nicht nur als Jude stets einer nicht in eine „Leitkultur“ aufzugehen bereiten Minorität mit ihren eigenen Normen und Werten angehörte, sondern in seiner Kindheit und Jugend in Algerien mit divergenten Begriffen von Gerechtigkeit, Politik oder universeller Bildung konfrontiert war gegenüber jenen später in Paris. Zugleich erkannte er, dass diese eigenständige Definition und Festsetzung von Normbegriffen der französischen wie der algerischen Kultur erst ihre spezifische Eigenart gegeben hatte und auf diese Weise die Identifikation mit dem jeweiligen Lebensumfeld ermöglichte. Aus dieser Gebundenheit an eine spezifische Kulturgemeinschaft heraus, in der er mit seiner Einzigartigkeit Akzeptanz erfuhr, fand sein eigenes Ich erst sein Selbstwertgefühl. Ein Bestreben, im Gegenzug seine singulären subjektiven, sowie letztlich von den Konstitutionsbedingungen abhängigen Wünsche und Bedürfnisse auf diese Umwelt zu übertragen, wurde dadurch ausgeschlossen. Indem man erst aus der Differenz heraus seiner Stellung in der Gesellschaft bewusst wird, erfährt diese Differenz selbst die Funktion eines Wertes und jeglicher Tendenz, den Anderen nur als Ebenbild des eigenen Ego zu akzeptieren, wird entgegengewirkt. Vielmehr setzt man sich für den Erhalt der materiellen und auch ideellen Bedürfnisse des Anderen ein, obwohl - oder vielleicht sogar gerade weil - sie aus nicht konvergenten Konstitutionsbedingungen entstanden sind.
Derrida hat Zeit seines Lebens für diejenigen Partei ergriffen, die sich nicht in einer von außen vorgegebenen Schablone einzupassen bereit waren, weil sie sich ihrer Differenz bewusst waren und erst hieraus eine Sinngebung für sich und für das Kollektiv herauszogen. Sein besonderer Einsatz für tschechische Intellektuelle in der Zeit des real existierenden Sozialismus lässt sich nicht zuletzt aus seiner Wertschätzung für jene bekennenden Individualisten verstehen, die sich einer auf Egalisierung ausgerichteten Ideologie entgegenstellten und den alles vereinnahmenden und letztlich beherrschenden Anspruch der kommunistischen Staatspartei widersetzten. Ein solcher totalitärer Beherrschungsanspruch ist mit der poststrukturalistischen Philosophie eines Derrida unvereinbar. Sie entsprach offenbar auch nicht seinem Verständnis der jüdischen Ethik. Zwar gibt die Religion durch ihre Gebote der Menschheit eine allgemein gültige Richtschnur vor, diese muss jedoch im jeweiligen temporalen, lokalen und vor allem kulturellen Kontext für die Alltagspraxis ausgelegt werden. Ein religiös gerechtfertigter Absolutheitsanspruch, wie er in der heutigen Zeit bei extremistischen Strömungen im Judentum, im Christentum wie im Islam zu beobachten ist, träfe bei Derrida wohl auf den gleichen Widerstand wie Faschismus und Stalinismus, weil er in gleicher Weise die eigenen Idealvorstellungen zum alleinigen Maßstab konstruiert und für eine Differenz keinen Raum lässt.
Kampf der Universalismen oder Wertschätzung für Heterogenität?
Indem man der Heterogenität nicht nur ihre Existenzberechtigung zugesteht, sondern darüber hinaus erst über die Ungleichheit seine eigene Position bestimmt, verlieren Exklusivitäts- und Vereinnahmungsansprüche ihr philosophisches Fundament. Pluralität und Multikulturalismus finden die Voraussetzungen vor, während die immer wieder heraufbeschworene Dauerrivalität von Universalismen – im Kalten Krieg gewöhnlich als „Kampf der Ideologien“ gedeutet, danach vielfach als „Konflikt der Zivilisationen“ - durchbrochen werden kann. Der Zerfall des sozialistischen Blocksystems nach weniger als einem halben Jahrhundert kann vielmehr als Beleg für die These Derridas gewertet werden, dass ein universeller normativer Beherrschungsanspruch einer vom überhöhten Subjekt ausgehenden Ideologie keine dauerhafte Überlebenschance besitzt, weil er nicht in der Lage ist, diesem Subjekt eine unverwechselbare Identität zu verleihen. Indem jene postmodernen, kulturell oder religiös gerechtfertigten universalen Beherrschungsansprüche gleichermaßen zurückgewiesen werden, besteht die Voraussetzung für ein Miteinander der Kulturen, basierend auf der aufrechten Wertschätzung des Anderen, wie es Derrida, trotz aller gesellschaftlichen Vereinnahmungs- und Ausgrenzungsbestrebungen, denen er sich zeitweise gegenüber sah, sowohl in Algerien als auch in Frankreich erfahren konnte. Vielmehr sollte seine Biographie als Beleg dafür herangezogen werden, dass in Europa wie im arabischen Raum in der Historie wie in der Gegenwart ein Nebeneinander differenter Identitäten möglich ist und sogar auf Resonanz trifft. Hieran anknüpfend gilt es in der Zukunft, sich von bestehenden, aus der Überhöhung des eigenen Subjekts ins Metaphysische hinein resultierenden Konstruktionen eines „universellen Moralmaßstabs“ zu lösen und der auf gegenseitiger Hochachtung beruhenden Begegnung der verschiedenen Kulturen und Weltanschauungen eine Chance zu geben.
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Der Autor
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Dr., geboren 1971 in Sale, Marokko, 1993-1997 Studium der Sprachwissenschaft an der Mohammed V.- Universität Rabat. Schwerpunkte: Internationale Sprachtheorien, Geschichte der Sprachen und Philosophie. 1997-1998 Studienkolleg in Marburg; Schwerpunkte: deutsche Literatur, Geschichte, Sprache und Soziologie. 1999-2003 Studium der Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Französisch und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg mit Abschluss Magister Artium, 2004-2007 Promotion über islamischen Fundamentalismus in Marokko. Seit 2008 Habilitation an der Bundeswehruniversität München über Juden in Marokko. Seit 2008 Teaching and Resarch Asisstant im Bereich “Politische Theorien” an der Philipps-Universität Marburg.
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