ONLINE-EXTRA Nr. 93
Mit dem heutigen ONLINE-EXTRA setzt Mohammed Khallouk seine Reihe philosophischer Kurzporträts fort und stellt den österreichisch-britischen Philosophen Sir Karl Raimund Popper (* 28. Juli 1902 in Wien; † 17. September 1994 in London) voer, der mit seinen Arbeiten zu Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, zur Sozial- und Geschichtsphilosophie sowie zur politischen Philosophie den kritischen Rationalismus begründete. Popper, dessen Eltern zum Protestantismus konvertierte assimilierte Juden waren, beschrieb sich selbst als Agnostiker und lehnte einen seiner Ansicht nach arroganten Atheismus ebenso ab wie den jüdischen und den christlichen Glauben. Gleichwohl äußerte er jedoch Respekt vor den moralischen Lehren beider Religionen. © 2009 Copyright beim Autor
Poppers bekanntestes Werk ist das in alle Weltsprachen übersetzte „The Open Society and Its Enemies“ (dt. „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“) von 1945. Darin rechnet er detailliert mit den Gedankensystemen von Platon, Hegel und Marx ab, die seiner Meinung nach totalitäre Systeme theoretisch begründet und praktisch befördert haben. Als positives Gegenbild zu diesen „geschlossenen Gesellschaften“ entwirft er eine „Offene Gesellschaft“, die nicht am Reißbrett geplant, sondern sich pluralistisch in einem fortwährenden Prozess von Verbesserungsversuchen und Irrtumskorrekturen evolutionär fortentwickeln soll. Der Begriff "Offene Gesellschaft" ist in die politische Sprache eingegangen.
Nicht uninteressant ist auch, welche Maßstäbe und Erwartungen er vor dem Hintergrund seines Denkens an die politische und intellektuelle Elite stellt. In einem Essay, der 1971 in der Wochenzeitung DIE ZEIT erschien, schreibt er:
„ Aus meiner sozialistischen Jugendzeit habe ich viele Ideen und Ideale ins Alter gerettet. Insbesondere: Jeder Intellektuelle hat eine ganz besondere Verantwortung. Er hatte das Privileg und die Gelegenheit, zu studieren; dafür schuldet er es seinen Mitmenschen (oder „der Gesellschaft“), die Ergebnisse seiner Studien in der einfachsten und klarsten und verständlichsten Form darzustellen. Das Schlimmste - die Sünde gegen den heiligen Geist - ist, wenn die Intellektuellen versuchen, sich ihren Mitmenschen gegenüber als große Propheten aufzuspielen und sie mit orakelnden Philosophien zu beeindrucken. Wer`s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er`s klar sagen kann.“
COMPASS dankt Mohammed Khallouk für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 93
Wissenschaftliches Reflektieren als Modell für die offene Gesellschaft
Dem Wissenschaftstheoretiker und Philosoph Karl Popper (1902 –1994) geht es darum, das theoretische Fundament totalitärer, intoleranter und konservativ entwicklungsresistenter Kollektive zu erkennen. Vor diesem Hintergrund formuliert er eine Philosophie und wissenschaftliche Methodik, anhand derer eine permanente Weiterentwicklung der Gesellschaft ebenso wie die gegenseitige Anerkennung verschiedener Weltanschauungen als gleichermaßen wertgebunden erreicht werden kann. Zwar bezeichnete der große Theoretiker und mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Universalgelehrte sich selbst als Agnostiker, die jüdisch-protestantisch geprägte elterliche Erziehung hat bei ihm gleichwohl eine Hochachtung für die abrahamitischen Religionen und ihr Humanitätsverständnis hinterlassen. Popper weist ihnen für seine angestrebte „offene Gesellschaft“ daher wichtige Aufgaben zu. Lediglich einem Exklusivitätsanspruch setzt er sich sowohl in der Wissenschaft als auch in Politik, Religion und Gesellschaft vehement entgegen. Er wendet sich bereits frühzeitig gegen die sogenannte „Pseudowissenschaft“, zu der er den Marxismus ebenso zählt wie die Psychoanalyse. Besonders anstößig empfindet er den Anspruch des logischen Empirismus, aus wahrgenommenen Einzelfällen ein allgemeines, auf Sicherheit oder zumindest Wahrscheinlichkeit basierendes Naturgesetz ebenso wie Theorien abzuleiten. Zwar dürften Theorien als abstrakte Konstrukte frei erfunden werden, danach erfordere es jedoch eines Experiments ausgehend von konventionell festgelegten Basissätzen, um zu erkennen, ob sich die aufgestellte Theorie widerlegen oder falsifizieren lasse. Erst das Aussieben der als „falsch“ erkannten Theorien bringe uns der Wahrheit näher. Auch wenn Popper in späteren Jahren einräumte, dass Metaphysik rational diskutierbar ist, sind für ihn metaphysische Annahmen als Ausgangspunkte für wissenschaftliche Theorien inakzeptabel. Er vertritt vielmehr einen Indeterminismus und lässt die Zukunft sowohl im Blick auf die Wissenschaft als auch auf die Gesellschaft hin offen. Damit schafft er die Basis für eine ständige Bereitschaft, neue Gedanken und Erkenntnisse aufzunehmen, ohne tatsächlich Bewährtes aufzugeben.
MOHAMMED KHALLOUK
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Exklusivitätsansprüche werden zurückgewiesen
Die Tatsache, dass Poppers Philosophie sich in keiner Weise als spezifisch „jüdische oder protestantische Philosophie“ versteht, sondern den von allen Religionen vertretenen Humanismus zum Leitideal erhebt, verleiht ihr einen Universalcharakter. Auf diese Weise ist es ihr möglich, in westlichen wie außerwestlichen Gesellschaften als Diskussionsgrundlage für die Konzeptsuche im Sinne von Fortschritt und Erneuerung zu dienen. Im Westen wie im Orient leiden die Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart an einer Selbstüberschätzung ihrer intellektuellen Eliten. Diese erheben in nicht geringem Maße für sich den Anspruch, ein praktisch anwendbares theoretisches Konzept von ewiger Gültigkeit gefunden zu haben. Sie attestieren Vertretern anderer Philosophien und kulturbedingter Weltanschauungen, für den Aufbau der erstrebten Zukunft ein Hindernis darzustellen. Bei konservativen islamischen Gelehrten zeigt sich diese „geistige Anmaßung“ in fehlender Aufgeschlossenheit gegenüber den aufklärerischen Gedanken der westlichen Zivilisation, die ungeprüft als „unvereinbar mit dem Islam“ verfemt werden. In der westlichen Welt hingegen existiert die Vorstellung, jenseits des eigenen Kulturkreises könne sich kein autonomer Fortschritt entfalten. Vielmehr seien die außerwestlichen Zivilisationen, von Neidgefühlen geleitet, permanent zur gewalttätigen Revolte gegen den westlichen Freiheits- und Fortschrittsbegriff bereit. Dieses Überheblichkeits- und Exklusivitätsbewusstsein ist unvereinbar mit dem Liberalismus, wie ihn Popper vertreten hat. Dieser wandte sich gegen jegliches Konstrukt einer „geschlossenen Gesellschaft“, das bereits ein vollkommenes Gesellschaftsbild vor Augen wähnt und jedes davon abweichende Modell zu zerstören beanspruche. Jenen Totalitarismus, dessen extremer Form er sich nur durch die Emigration aus seiner Wiener Heimat (zuerst nach Neuseeland, später Großbritannien) zu entziehen vermochte und der für seine in Österreich gebliebenen Verwandten mehrheitlich die Ermordung im Konzentrationslager zur Folge hatte, erkennt Popper in der Philosophie Platons, Hegels und Marx angelegt. Dort werde eine „ideale Gesellschaft“ konstruiert, deren Durchsetzung nur über autoritäre und letztlich totalitäre Herrschaftsstrukturen erreichbar sei und eine Vernichtung jeglicher, der eigenen Theorie widersprechender Elemente beinhalte.
Historischer Determinismus oder ständiges Einbeziehen von Neuem?
Besonders vehement wendet sich Popper gegen den Historismus, der bereits aus der Geschichte eine bestimmte erstrebenswerte Gesellschaftsentwicklung ableiten zu können glaubte. Diese Tendenz erkennt er in Hegels Dialektik ebenso wie in der Theorie der permanenten Klassengegensätze von Marx. Dem entgegen trägt Popper an Philosophie und Politik eine Maxime heran, die offenbar wenig Widerhall findet, dafür aber im Dienste der Freiheit sich als umso bedeutsamer erweist. Obwohl die von ihm kritisierten Philosophen heutzutage ihre gesellschaftliche Popularität weitgehend eingebüßt haben, bleibt der Historismus aktuell, etwa in der Theorie vom „Ende der Geschichte“ eines Francis Fukuyama oder im als unvermeidlich angesehenen „Kampf der Zivilisationen“ des kürzlich verstorbenen Denkers Samuel Huntington. Dieser historische Determinismus legt nahe, dass man sich quasi gezwungen sieht, die eigenen gesellschaftlichen Idealvorstellungen notfalls mit Gewalt gegen einen ebenfalls als unvermeidlich apostrophierten Gegner durchzusetzen. Der Weltsicht Poppers widerstrebt dieses zwanghaft missionarische Bewusstsein gänzlich. Im Wissen, dass man sich der Wahrheit nur annähern könne, bleibt ein Rest Zweifel und darüber hinaus geradezu ein Bedürfnis, sich auf Unerwartetes einlassen und neue Erfahrungen aus der Beschäftigung mit anderen Weltanschauungen herausziehen zu können. Popper hätte sich heutzutage vermutlich mit der gleichen Leidenschaft, mit der er seiner Zeit dem Platonismus und Hegelianismus entgegengetreten ist, gegen eine historistische Weltanschauung zur Wehr gesetzt, die sich aus einem buchstabengetreu ausgelegten Schrifttum ableitet, wie es das Charakteristikum neuzeitlicher religiöser Fundamentalisten ist. Diese stünde seinem humanistischen Religionsverständnis ebenso entgegen wie seinem Eintreten für eine permanente Reflexion der eigenen Prognosen anhand der Realität und erst recht seinem Widerstand gegen jegliche Postulate, aus der Vergangenheit die Zukunft erklären zu können. Erst wenn Religion und darüber hinaus jegliche Metaphysik sich von dem Anspruch distanziert, eine Gesellschaft anhand vermeintlich vorgegebener Schablonen formen zu wollen, sind sie kompatibel mit moderner Erkenntnissuche. Zugleich werden sie damit in die Lage versetzt, die von wissenschaftlicher Rationalität geprägte Moderne mit einem zeitungebundenen ethischen Rahmen zu versehen.
Pluralität als Verpflichtung
Poppers Wahrheitsverständnis verlangt eine Pluralität von Lebensmodellen und Geisteshaltungen. Wie in der Wissenschaft, wo die Beantwortung einer aufgestellten Frage permanent neue Fragen beinhaltet, ist man auch bezüglich der Gesellschaft immer wieder aufgefordert, stets neu zu ergründen, wie sich eine Weiterentwicklung erreichen lässt. Je mehr Anschauungsbeispiele man vorfindet, desto mehr ist man in die Lage versetzt, sich dem Optimum anzunähern. Zugleich bleibt man sich bewusst, dass der eigene bevorzugte Weg nicht der einzige ist. Popper hat diese Pluralität immer wieder selbst erlebt, etwa wenn er mit den verschiedensten natur- und geisteswissenschaftlichen Denkrichtungen konfrontiert war und in den verschiedensten Disziplinen Professionalität erkannte. Demgegenüber stand die Anmaßung nicht weniger Intellektueller, bereits fertige Konzepte zu besitzen, nach denen sich die übrige Menschheit zu richten habe. Die gegenwärtige Bedeutung Poppers muss in seinem unablässigen Eintreten für ein Miteinander der verschiedenen Denkrichtungen und seiner aufrichtigen Dialogbereitschaft gesehen werden. Besonders seine Aufforderung an die Intellektuellen nach einer klaren, allgemeinverständlichen Sprache erweist sich als bedeutsam für das Miteinander im Chor der Religionen und Weltanschauungen. Zwar sind die intellektuellen Eliten diejenigen, die als erste mit dem Neuen, Kulturfremden konfrontiert werden und daraus Förderliches herauszuziehen vermögen, so lange aber die Zivilgesellschaft in ihrer Gesamtheit die dahinter stehenden Leitgedanken nicht nachvollziehen kann, bleiben Ressentiments erhalten, die einem Miteinander und einem dem Fortschritt dienlichen Austausch entgegen stehen. Ebenso wie der bekennende Agnostiker Popper den Religionen für die Gesellschaft einen fortdauernden förderlichen Beitrag zugestand, sollten auch die Kollektive als Ganzes in der Lage sein, Wertvorstellungen, denen sie mehrheitlich nicht anhängen, ihre Berechtigung zuzusprechen und ihre Wertegebundenheit zu erkennen als auch die ihnen innewohnenden fortschrittlichen Elemente zur eigenen Bereicherung annehmen können. Dergestalt ist man zu einer beständigen Reflexion des eigenen Weltbildes herausgefordert, für die einem unentwegt neue Maßstäbe an die Hand gegeben werden. Das Bewusstsein um die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisstandes und die Möglichkeit des Irrtums hinsichtlich der eigenen Sichtweise bedingt es, sich sowohl auf die Erkenntnisse des Anderen einzulassen wie auch das Streben nach Fortschritt als unendlich zu betrachten.
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Der Autor
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Dr., geboren 1971 in Sale, Marokko, 1993-1997 Studium der Sprachwissenschaft an der Mohammed V.- Universität Rabat. Schwerpunkte: Internationale Sprachtheorien, Geschichte der Sprachen und Philosophie. 1997-1998 Studienkolleg in Marburg; Schwerpunkte: deutsche Literatur, Geschichte, Sprache und Soziologie. 1999-2003 Studium der Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Französisch und Allgemeine Sprachwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg mit Abschluss Magister Artium, 2004-2007 Promotion über islamischen Fundamentalismus in Marokko. Seit 2008 Habilitation an der Bundeswehruniversität München über Juden in Marokko. Seit 2008 Teaching and Resarch Asisstant im Bereich “Politische Theorien” an der Philipps-Universität Marburg.
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