ONLINE-EXTRA Nr. 105
© 2009 Copyright bei Verlag und Autorin
Die jüdischen Speisegesetze bilden fraglos einen essentiellen Bestandteil der jüdischen Religion und jüdischer Identität. Dass die Aufteilung in "reine" und "unreine" Speisen, taugliche und untaugliche Gegenstände und Handlungen mehr als nur ein überkommenes Regelwerk darstellt, sondern auf einer tiefen spirituellen, biblisch-rabbinischen Basis aufbaut, die in vielerlei Hinsicht überraschend moderne hygienische, ökologische und gesundheitsrelevante Einsichten enthält, macht die in Israel lebende Schriftstellerin Lea Fleischmann in ihrem neuen Buch "Heiliges Essen" auf anschauliche Weise deutlich. In ihrem Buch lässt sie die Leserinnen und Leser teilhaben an einer Entdeckungsreise, der gegenüber sie zu Beginnn durchaus selbst Vorbehalte hatte:
„Die Küche ist der Tempel der Frau und jeder Handgriff beim Kochen ist eine heilige Handlung” erklärte die Rabbanit Malka. Mir lief es bei diesem Satz, trotz der Hitze, kalt über den Rücken. In meiner Jugend kämpften wir Frauen gegen die drei K”s - Kinder, Küche und Kirche - und nun saß ich in Jerusalem bei einer Lehrerin in meinem Alter, die mir die Küche als heiligen Ort beschrieb. „Was ist am Kartoffelschälen und Gemüseputzen heilig?” entgegnete ich aufgebracht."
Bei der Rabbinerfrau Malka lernt Lea Fleischmann schließlich anhand von Geschichten und Gesprächen die Speisegebote der Bibel kennen und begreift den tiefen Sinn des koscheren Essens. Als moderne Zeitgenossin ist sie erstaunt über die Weisheit der biblischen Speisegebote, die die gesamte Schöpfung im Auge haben und das Essverhalten der Menschen regeln, damit die Fauna und Flora geschont werden. Essen dient nicht nur zur Sättigung, sondern ist ein immer auch ein spiritueller Akt, ein "heiliger Vorgang". Indem Lea Fleischmann auf unterhaltsame und anschauliche Weise ihren eigenen Lernprozess transparent darstellt, gelingt es ihr zugleich, die Bedeutung der biblischen Speisegebote auch für Nichtjuden erfahrbar zu machen und regt zum Nachdenken über das eigene Essverhalten an. Durch ihre geschickte Verknüpfung von Erzählungen und Wissensvermittlung gelingt es ihr beinahe unmerklich das zu erreichen, was der Untertitel ihres Buches als Anspruch formuliert: Das Judentum Nichtjuden verständlich zu machen. Und damit es nicht nur beim Lernen und Nachdenken bleibt, ergänzt Fleischmann ihre Geschichten durch einige an den jüdischen Fest- und Feiertagen orientierte Rezepte, die durchaus Appetit darauf machen, das Buch nach beendeter Lektüre gegen den Kochlöffel auszutauschen.
Lea Fleischmann hat vier Kapitel ausgewählt - ihre Einführung, zwei Hauptkapitel sowie der Jahreszeit gemäß ein Rezept zum jüdischen Lichterfest (Chanukka) -, die COMPASS seinen Leserinnen und Lesern in zwei ONLINE-EXTRA-Teilen präsentieren wird, deren erster Teil mit dem heutigen ONLINE-EXTRA Nr. 105 erscheint. (Der zweite Teil mit den Texten Lea Fleischmanns, ONLINE-EXTRA Nr. 106, wird am Freitag, 4. Dezember 09 folgen).
COMPASS dankt dem Verlag und der Autorin für die Genehmigung zur Wiedergabe der Texte an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 105
Warum "Heiliges Essen"?
Israels Weise lehren, dass vererbte Identität stärker ist als gelernte Identität. Sie behaupten, dass Judentum mit der Muttermilch eingesogen wird. Das bekannteste Beispiel ist Moses. Obwohl er von einer ägyptischen Prinzessin erzogen wurde und im ägyptischen Königshaus wie ein Prinz behandelt wurde, identifizierte er sich mit den Hebräern und nicht mit den Ägyptern, denn seine Mutter, die Hebräerin Jochebeth, säugte ihn.
Meine Eltern, polnische Juden, die den Holocaust überlebten, wuchsen in religiösen Elternhäusern auf. Das Leben im Rahmen des jüdischen Gesetzes, der Thora, war ihnen von Kindesbeinen an vertraut. Sie feierten den Schabbat und die jüdischen Feste, aßen nur koscheres Essen, sprachen Jiddisch und kannten die hebräischen Gebete. Im Holocaust teilten sie das Schicksal des polnischen Judentums. Die Deutschen vertrieben die Juden aus ihren Heimatorten und vergasten sie. Meine Eltern überlebten unter schwersten Bedingungen. Nach dem Krieg lernten sie sich kennen, heirateten und wanderten westwärts in Richtung der amerikanischen Zone. In einem Flüchtlingslager für Displaced Persons in Ulm kamen sie unter. Dort wurde ich geboren.
Meinen Eltern war es unmöglich, an ihre Religion und die damit verbundenen Traditionen anzuknüpfen. Judentum bedeutete für sie hauptsächlich Erinnerung an Verfolgung und Leid. So erhielt ich eine jüdische Identität, die von einer starken Identifikation mit den Opfern des Nationalsozialismus geprägt war, aber nur eine vage Vorstellung von religiöser Lebensführung beinhaltete. Schabbat, Speisegesetze, Synagogenbesuch und Gebet spielten keine Rolle mehr. Was an religiösen Gebräuchen bei meiner Mutter noch rudimentär vorhanden war, verschwand bei mir vollständig. Meine Mutter achtete nicht auf die Speisegesetze der Thora, aber sie ekelte sich vor Schweinefleisch. Ich hingegen empfand nicht den geringsten Widerwillen gegen beim Genuss von Schweinefleisch. Meine Mutter hielt die Schabbatgebote nicht ein, aber sie zündete am Freitagabend Kerzen an. Für mich jedoch war Schabbat ein Arbeitstag wie jeder andere. Die religiösen Gebote des Judentums erschienen mir als Relikte einer veralteten, vergangenen Kultur, verhaftet in Erinnerungen und Folklore, aber für den modernen Menschen sinn- und wertlos. Ende der siebziger Jahre wanderte ich von Frankfurt nach Jerusalem aus, und erst in Jerusalem begann ich zu verstehen, warum sich die Thora, das religiöse Gesetz, seit Jahrtausenden erhalten und so viele Kulturen beeinflusst und überdauert hat.
In Jerusalem begann ich die Gebote der Thora zu lernen. Es war für mich nicht das Kennenlernen einer neuen Lebensform, sondern ein Erinnern an Verhaltensweisen, die von meinen Großeltern noch gelebt, von meinen Eltern nach dem Holocaust kaum mehr beachtet und von mir vergessen wurden. In Jerusalem ergriff ich die ausgestreckte Hand meiner Großmutter Lea, die umgebracht wurde, bevor meine Eltern mich zeugten. Ihren Körper konnten die Nazis vernichten, ihren Geist nicht, und allmählich kehre ich zu Jahrtausende alten Traditionen des jüdischen Volkes zurück.
Weil ich Schriftstellerin bin, nehme ich den nichtjüdischen Leser mit auf meinen Lebensweg. Vieles von dem, was ich beschreibe, wird ihm bekannt vorkommen, nicht weil er jüdische Ahnen hätte, sondern weil er in der christlichen Kultur verwurzelt ist. Das Christentum ist das ethisch-moralische Gerüst des Abendlandes. Aber Christentum ist ohne Judentum nicht verständlich, und ohne das Alte Testament ist das Neue nicht fassbar. Nicht zufällig war Jesus Jude, nicht zufällig kamen die Apostel aus dem Volk Israel, nicht zufällig breitete sich das Christentum von Jerusalem über den Erdball aus. Die Thora ist auch die Quelle des Christentums. Viele Christen haben mir bestätigt, dass ihre Beschäftigung mit dem Judentum ihren religiösen Horizont erweitert und zu einer Vertiefung ihres christlichen Glaubens geführt hat.
„Heiliges Essen“ ist ein Buch für alle Menschen, die über die Nahrung und Gottes Gebote bezüglich des Essens nachdenken wollen. Die Speisegesetze spielen im Judentum eine bedeutende Rolle, weil nach jüdischer Lehre unser Körper ein Heiligtum ist. Nicht alles, was essbar ist, dürfen wir uns einverleiben. Die Speisegesetze sind außerdem der erste niedergeschriebene Artenschutz. Sie regeln das Zusammenleben von Mensch und Tier, und hindern uns daran, jedwedes Tier anzutasten. Das koschere Essen zeigt einen Weg, im Einklang mit der Schöpfung zu leben und jede Mahlzeit in ein spirituelles Erlebnis zu verwandeln.
LEA FLEISCHMANN
|
|
* AKTUELL *
In ihrem neuen Buch macht Lea Fleischmann die Bedeutung der Speisegesetze auch für Nichtjuden erfahrbar, und sie erzählt auf anschauliche Weise, wie man mit dem koscheren Essen im Einklang mit der Schöpfung leben und jede Mahlzeit in ein spirituelles Erlebnis verwandeln kann.
Über die Autorin:
Lea Fleischmann wurde 1947 in Ulm geboren. Ihre Jugend verbrachte sie in Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Pädagogik und Psychologie arbeitete sie als Lehrerin, bis sie 1979 nach Israel ging. Dort lebt sie als deutschsprachige Autorin in Jerusalem und widmet sich dem deutsch-israelischen und christlich-jüdischen Dialog.
Rezension zu "Heiliges Essen"
von Dr. Hans Maaß
Rezension
Die Küche ist der Tempel der Frau
Am verabredeten Nachmittag machte ich mich auf den Weg zur Rabbanit Malka. Es war ein drückend heißer Tag. Die Luft flirrte in der Hitze, die Sonne brannte erbarmungslos und der Äther war dunstig und staubig. Es herrschte der Chamsin, der heiße Wüstenwind, der die Erde und die Haut austrocknet. Die Kiefern und Zypressen ächzten in der Glut, gelb und verdorrt stand das Gras, aber in den Zierkästen blühten üppig die Geranien und hingen wie bunte Blumenteppiche über die Balkongeländer. Ein paar Vögel kreisten am wolkenlosen Himmel und der Staub färbte die Bäume grau. Im Schatten der grünen Mülltonne kauerte eine Katze und nagte an einem Hühnerknochen. Der Asphalt auf dem Herzl Boulevard dampfte. An der Haltestelle vor dem Gebäude von Jad Sarah wartete ich auf den Autobus.
Jad Sarah wurde im Jahre 1970 gegründet. Ein junger Jerusalemer Lehrer, Uri Poliansky, benötigte für sein krankes Kind einen Zerstäuber und fragte in seinem Bekanntenkreis nach, ob jemand ihm so ein Gerät borgen könnte. Weil ihm niemand helfen konnte, kaufte er den Zerstäuber in der Apotheke. Als er das Gerät nicht mehr brauchte, stand es nutzlos in der Wohnung herum, aber er wollte den Zerstäuber nichteinfach in den Müll werfen. Uri kam auf die Idee, medizinische Hilfsmittel, die von den Kranken nicht mehr gebraucht werden, zu sammeln und diese kostenlos an diejenige zu verleihen, die gerade darauf angewiesen sind. Er fand freiwillige Helfer, die seine Idee unterstützten, und gründete eine Hilfsorganisation, in der heute mehr als sechstausend Ehrenamtliche arbeiten. Seine Großmutter, die im Holocaust umgebracht wurde, hieß Sarah und er benannte die Organisation nach ihr: Jad Sarah – Zum Gedenken an Sarah. Uri Lupoliansky wurde später Bürgermeister von Jerusalem. Auf dem Herzl Boulevard steht heute das mehrstöckige Gebäude von Jad Sarah. Zwei Olivenbäume flankieren den Eingang und auf Messingtafeln sind die Namen der Spender, mit deren Hilfe das Haus gebaut wurde, vermerkt. In Jad Sarah können die Einwohner Jerusalems jedes beliebige medizinische Gerät ausborgen. Von der Krücke bis zur Atemmaske, vom Rollstuhl bis zu Inhalatoren ist dort alles vorhanden.
Ein aufgeregter junger Vater trug eine Kinderwiege aus dem Gebäude und wartete mit seiner schimpfenden Mutter auf den Autobus.
„Ich habe dir doch gleich gesagt, du kannst eine Wiege bei Jad Sarah ausborgen. Hast mir wieder einmal nicht geglaubt. Alles wisst ihr Jungen besser!“
„Ist ja gut, Mama. Ich habe die Wiege doch jetzt geholt.“
„Deine Frau glaubt auch, dass man alles neu kaufen muss. Nach drei Monaten ist die Wiege ohnehin zu klein für das Kind. Und was hättet ihr dann damit gemacht? Weggeschmissen. Eine Generation von Verschwendern ist in diesem Land herangewachsen.“
„Regen Sie sich nicht auf. Meine Tochter ist auch nicht besser“, beschwichtigte eine Passantin die zornige Mutter. „Allein was die jungen Leute für die Wegwerfwindeln im Monat ausgeben, davon konnte früher eine Familie leben. Aber wer will heutzutage noch Windeln waschen?“
Der Autobus 39 hielt. Die Rabbanit Malka wohnt in der Pisgastraße in Beit Wagan, und nach vier Haltestellen war ich da. Man muss die Straße überqueren und gelangt zu einem vierstöckigen Mehrfamilienhaus, das, wie fast alle Häuser in Jerusalem, mit rechteckigen Kalksteinen verkleidet ist. Die Eingangstür stand offen. Ein Fahrrad war an der Wand angekettet, ein aschblonder junger Mann mit einem schwarzen Käppchen schraubte an der Klingel herum.
„Wohnt hier Malka Levin?“
„Im dritten Stock.“
Neben dem Treppengeländer balgten sich zwei Kinder um einen Kinderwagen, weil sie sich beide gleichzeitig hineinsetzen wollten. Dem kleinen Jungen war das Käppchen vom Kopf gerutscht. Er hatte den Zopf seiner Schwester erwischt und zog mit aller Kraft daran.
„Au“, schrie sie. „Lass los, du Depp!“
„Ich war zuerst da!“, brüllte er.
„Menachem und Nechama, hört auf zu toben! Ihr versperrt ja den ganzen Durchgang“, donnerte die Stimme des Vaters dazwischen.
Eine schwache Birne ohne Lampenschirm beleuchtete den dunklen Treppenflur. Ich stieg die steinernen Stufen hinauf. Aus einer Wohnung war das Surren einer Nähmaschine zu hören, aus einer anderen roch es nach gekochtem Kohl. Irgendwo weinte ein Säugling. Ein Radio spielte chassidische Lieder. In der dritten Etage entdeckte ich das Namensschild aus Messing: Familie Levin. Am rechten Türpfosten war eine Holzkapsel, die Mesusa, angebracht. Ich klingelte zaghaft. Hinter der Tür regte sich nichts. Ich klingelte noch einmal, dieses Mal kräftiger.
„Einen Moment, ich komme gleich“, rief die Rabbanit Malka. Sie öffnete die Tür und stand mit verschlafenem Gesicht vor mir. Das Kissen hatte rote Striemen in ihre linke Wange gedrückt. Anstatt ihrer Perücke trug sie einen blauen Schawis, eine locker fallende Baumwollhaube.
„Bin ich zu früh? Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich.
„Nein, nein. Ich hatte mich nur kurz ausruhen wollen und bin eingeschlafen. Diese Hitze raubt einem die ganze Kraft. Gut, dass Sie gekommen sind. Treten Sie bitte ein.“
Vom Treppenhaus gelangt man direkt in ein rechteckiges Wohnzimmer. Mein Blick fiel auf eine altmodische Vitrine mit geschwungenen Türen und Glasscheiben mit Schleifrahmen. In ihr waren silberne Kultgegenstände ausgestellt. Ein fünfarmiger Schabbatleuchter, zwei ziselierte Kidduschbecher und eine Besamimbüchse teilten sich den Platz auf dem oberen Bord, darunter standen ein neunarmiger Chanukkaleuchter, eine Etrogbüchse und ein dreiteiliger Mazzeteller. Die unterste Ebene nahmen gerahmte Fotos von Brautpaaren und Kindern ein. Auf einem Blumenständer neben der Kredenz blühte eine rote Geranie. Ein müder Gummibaum schaute auf eine Agave und ein paar mickrige Kakteen. Unter dem Fenster befand sich eine Bettcouch mit einem farbigen Überwurf. Zwei kleine eingedrückte Kissen lagen auf dem Sofa. Die Rabbanit Malka hatte dort geschlafen. Ein einfaches, weißes Holzregal, vollgestopft mit Büchern, nahm die Wand gegenüber der Vitrine ein. Neben aufgereihten Talmudbänden und schweren Folianten mit Goldeindruck standen schwarze Gebetbücher. Davor und darüber stapelten sich Broschüren, Hefte und lose Blätter.
Dazwischen thronte ein graues Faxgerät mit einem Telefon. Sechs Stühle und ein massiver
dunkelbrauner Esstisch füllten die Mitte des Raumes aus. Auf ihm lagen Schreibpapier, aufgeschlagene Ordner, Kugelschreiber, Bleistifte, ein Radiergummi und ein Locher. Kein
Teppich bedeckte die schwarz-braun gesprenkelten Fliesen. Dieses Zimmer diente
offensichtlich gleichzeitig als Wohn-, Ess- und Studierzimmer. Den zusammengewürfelten Möbeln sah man an, dass sie preiswert in einem der billigen Möbelhäuser in Talpiot Misrach gekauft worden sind. Lediglich die Vitrine war ein altes Erbstück. Sie war der heilige Schrein der Rabbanit Malka.
Malka räumte die Schreibutensilien beiseite.
„Nehmen Sie bitte Platz“, forderte sie mich auf. „Möchten Sie Tee, Kaffee oder Saft trinken?“
„Bitte nur kaltes Wasser.“
Aus der Küche holte sie ein Tablett, darauf standen zwei Gläser mit Sprudel. Sie stellte das Wasser auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber. Dann nahm sie ihr Glas in die Hand und betete:
„Gelobt seist Du Herr, unser Gott, König der Welt, der alles nach seinem Wort erschaffen hat.“
Sie nahm einen Schluck. Ich fasste mein Glas und wollte auch trinken, aber es war mir peinlich, das Wasser wortlos an die Lippen zu führen.
„Lehren Sie mich den Segensspruch“, bat ich die Rabbanit.
Malka sprach mir die Worte langsam vor, und ich wiederholte: „Gelobt seist Du Herr, unser Gott, König der Welt, der alles nach seinem Wort erschaffen hat“, und trank das kühle, sprudelnde Wasser.
„Das war schon die erste Lektion über das koschere Essen. Wir nehmen nichts in den Mund, ohne vorher mit einem Segensspruch Gott zu danken“, unterwies sie mich. Unvermittelt fragte sie: „Kochen Sie gerne?“
„Ich habe wenig Zeit zum Kochen.“
„Warum? Was tun Sie den ganzen Tag?“
„Mein Beruf nimmt mich sehr in Anspruch. Ich bin dauernd beschäftigt und ehrlich gesagt, stehe ich nicht gerne in der Küche.“
„Die Küche ist der Tempel der Frau und jeder Handgriff beim Kochen ist eine heilige Handlung”, erklärte die Rabbanit Malka.
Mir lief es bei diesem Satz, trotz der Hitze, eiskalt über den Rücken. In meiner Jugend kämpften wir Frauen gegen die drei K’s - Kinder, Küche und Kirche - und nun saß ich in Jerusalem bei einer Lehrerin in meinem Alter, die mir die Küche als heiligen Ort anpries.
„Was ist am Kartoffelschälen und Gemüseputzen heilig?”, entgegnete ich ein wenig aufgebracht.
„Unser Körper ist ein Heiligtum, in dem die göttliche Seele wohnt. Dieses Heiligtum dürfen wir nicht mit Speisen verunreinigen, die ihm schaden, sondern müssen es hegen und pflegen.“
„Das ist doch klar. Heutzutage machen sich doch die meisten Menschen Gedanken über das Essen. Tausende von Büchern beschäftigen sich damit, welche Nahrungsmittel der Gesundheit dienen und welche schädlich sind.“
Malka schüttelte den Kopf: „Wenn die meisten Menschen tatsächlich über das Essen nachdenken würden, dann hätten wir nicht so viele Krankheitsfälle, die auf ungesunde Ernährung und eine nervöse Lebensweise zurückzuführen sind.“
„Das liegt doch daran, dass minderwertige Nahrungsmittel billiger sind und sich die ärmeren Schichten kein teures Essen leisten können“, argumentierte ich.
„Ich kann Ihnen in diesem Punkt nicht ganz zustimmen. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen es gibt, die sich modische Kleider kaufen und gleichzeitig am Essen sparen oder teure Autos fahren und sich von ungesundem Fast Food ernähren. Sie arbeiten viel, leben im Stress und haben keine Zeit, in Ruhe zu essen. So zerstören sie ihren Körper und ihre Seele. Und warum tun sie es?“, fragte die Rabbanit und gab sich gleich selber die Antwort: „Weil sie den falschen Werten nachjagen. Das Wichtige nehmen sie nicht mehr wahr und dem Unwichtigen dienen sie. Mütter und Väter sind bereit, ihre Zeit über das notwendige Maß hinaus der Arbeit zu opfern, Überstunden zu machen oder auf Messen oder Konferenzen zu reisen. Nicht etwa nur, um sich das Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, sondern um Karriere zu machen. Sie verdienen immer mehr Geld, das sie für überflüssiges Zeug ausgeben. Gleichzeitig haben sie keine Zeit, eine anständige Mahlzeit für sich und ihre Kinder vorzubereiten, weil sie am Abend zu müde und erschöpft sind. Schauen Sie sich doch nur die Kinderzimmer an. Die Kleinen ersticken in Spielsachen, in Puppen und Autos, in Plüsch- und Plastiktieren, aber zu essen bekommen sie eine Fertigsuppe oder eine Pizza aus der Tiefkühltruhe.“
„Ich habe immer noch nicht verstanden, was am Kartoffelschälen und Gemüseputzen Heiliges dran ist“, unterbrach ich ihren Redefluss.
„Wenn wir nur essen, um satt zu werden, damit wir uns möglichst schnell anderen Beschäftigungen zuwenden können, dann ist Kartoffelschälen und Gemüseputzen eine zeitraubende und überflüssige Arbeit. Dann kann man auch ein Glas geschälte Kartoffeln im Supermarkt kaufen und geputztes Gemüse aus der Tiefkühltruhe einpacken. Aber wenn Sie im Kartoffelschälen und Gemüseputzen eine heilige Handlung sehen und Gott dafür dankbar sind, dass Sie genug zu essen haben und es Menschen gibt, für die Sie kochen dürfen, dann werden Sie dieses Gefühl auch in die Mahlzeit hineinlegen. Die Gewürze ‚Liebe zu Gott? und ‚Liebe zu den Menschen? können nur Sie Ihrem Gericht beigeben und glauben Sie mir, das Essen schmeckt ganz anders. Aber weil für Sie der Beruf im Mittelpunkt Ihres Alltags steht, nehmen Sie sich keine Zeit zum Kochen. Und das geht den meisten von uns so. In unserem ach so fortschrittlichen Zeitalter dienen wir der Arbeit und der Karriere und vernachlässigen die Familie.“
Mich ärgerten ihre Bemerkungen. Ich war gekommen, um etwas über koscheres Essen zu erfahren und nicht, um mir Vorwürfe anzuhören.
„Es ist heute nun einmal so, dass Frauen ihr Leben nicht mehr ausschließlich am Kochtopf verbringen wollen. Und Männer, mögen sie sich noch so fortschrittlich gebärden, schon gar nicht.“
„Wichtig ist, dass wir begreifen, dass wir uns durch das Kochen und Essen mit Gott verbinden. Die Koschergesetze heiligen uns und das Essen.“
Ich sah Malka verständnislos an: „Das verstehe ich nicht. Wie meinen Sie das?“
„Die Koschergesetze erheben das Essen über die physische Notwendigkeit der Nahrungszufuhr für unseren Körper zu einer heiligen Handlung für unsere Seele.”
„Das müssen Sie mir genauer erklären.“
„Worin liegt denn der Unterschied, ob ein Mensch isst oder ein Tier frisst? Das Tier ist hungrig, sucht sich seine Nahrung und frisst sie. Genauso handeln viele Menschen. Sie spüren Hunger, belegen sich ein Brot oder wärmen eine Konserve auf und verzehren die Mahlzeit anschließend gedankenlos. Die Kaschrut hingegen fordert von uns, dass wir zuerst darüber nachdenken, was wir essen. Deswegen gibt es für verschiedene Nahrungsmittel unterschiedliche Segenssprüche. Einen davon haben Sie gerade gelernt, den Segensspruch für das Wasser.“
„Gibt es für jedes Nahrungsmittel einen eigenen Segensspruch?“
„Nein, ganz so kompliziert ist es nicht. Unsere Nahrung wird in sechs Kategorien eingeteilt.“
Nun zählte sie die sechs Speisekomplexe auf und ballte, um die Zählung zu verdeutlichen, die linke Hand zu einer Faust und streckte bei jeder Zahl einen Finger aus.
„Erstens: Brot. Zweitens: Nahrungsmittel aus Getreide, die kein Brot sind. Drittens: Wein. Viertens: Früchte des Baumes. Fünftens: Früchte der Erde. Und sechstens: alle anderen Lebensmittel.“
„Wie soll man sich das alles merken?“
„Indem man allmählich lernt. Ein Kind, das in einem koscheren Haushalt aufwächst, lernt automatisch die Lebensmittel in die sechs Bereiche einzuordnen, so wie es die Sprache annimmt, ohne viel Mühe. Aber genau wie man als Erwachsener eine neue Sprache erlernen kann, wenn auch mit wesentlich mehr Anstrengung, kann man auch die Kaschrut lernen.“
Malka schaute auf die Uhr. Die Stunde war vorbei.
„Sie sind doch Lehrerin, nicht wahr?“
„Ich war es. Jetzt bin ich Schriftstellerin.“
„Dann wissen Sie ja, dass es sich mit dem Lernen genauso verhält wie mit dem Essen. In kleinen Portionen genossen ist es bekömmlich und gesund, wenn man zuviel auf einmal isst, bekommt man Bauchschmerzen. Das gleiche gilt für das Lernen. Wenn man zu viel auf einmal lernt, entsteht nur ein Durcheinander im Kopf, und als Lehrer muss man acht geben, dass man seine Schüler nicht überfordert. Deswegen werden wir die erste Stunde jetzt beenden. Aber weil Sie Schriftstellerin sind, möchte ich Ihnen noch eine kleine Geschichte zum Abschluss erzählen.“
„Das finde ich aber schön.“
Malka stand auf und stellte sich hinter den Stuhl:
„Ein Wanderprediger kam in eine Stadt. Er mietete einen Saal und lud die Gelehrten, die Honoratioren und alle Bürger ein, seine geistreiche Rede zu hören. Gespannt wartete er auf das Publikum. Aber es kam nur ein einziger Mann.
‚Was soll ich jetzt machen? Ich wollte doch alle an meinem Wissen teilhaben lassen?, sagte der enttäuschte Prediger.
‚Ich weiß es nicht?, antwortete der Besucher. ‚Ich bin nur ein einfacher Bauer. Aber ich hatte eine große Hühnerschar und fütterte das Federvieh jeden Tag. Eines Tages kam der Metzger und kaufte mir alle Hühner ab, bis auf eines. Aber auch wenn ich jetzt nur noch ein einziges Huhn habe, füttere ich es trotzdem.?
‚Gut?, sagte der Prediger, der den Hinweis verstanden hatte. ‚Dann werde ich eben nur dir alleine etwas beibringen.?
Nun trug er sein langes Referat vor, es war gespickt mit Zitaten, komplizierten Textstellen und ungewohnten gedanklichen Querverbindungen. Als er fertig war fragte er selbstgefällig:
‚Wie hat dir die Lehrstunde gefallen??
‚Ich weiß es nicht?, antwortete der Mann. ‚Ich bin nur ein einfacher Bauer. Aber als ich noch die vielen Hühner hatte, verfütterte ich jeden Tag eine große Schüssel Futter. Dem einzelnen Huhn gebe ich nur eine Handvoll Körner und zwinge es nicht, die ganze Schüssel leer zu essen.?“
„Danke für die Handvoll Körner“, verabschiedete ich mich mit einem Lächeln von der Rabbanit Malka.
Probe-Abonnement
Infodienst
! 5 Augaben kostenfrei und unverbindlich !
Bestellen Sie jetzt Ihr Probeabo:
Die Autorin
******* *******
... wurde 1947 in Ulm geboren. Ihre Jugend verbrachte sie in Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Pädagogik und Psychologie arbeitete sie als Lehrerin, bis sie 1979 nach Israel ging. Dort lebt sie als deutschsprachige Autorin in Jerusalem und widmet sich dem deutsch-israelischen und christlich-jüdischen Dialog.
Nähere Informationen unter
www.leafleischmann.com.
Lesen Sie auch Teil 2 der Auszüge aus Lea Fleischmanns Buch:
ONLINE-EXTRA Nr. 106
("Wir essen nur das Rind, das Schaf und die Ziege"; "Chanukka. Das Lichterfest")
Lea Fleischmann steht gerne für Lesung und Gespräch zur Verfügung!
Anfragen richten Sie bitte an:
redaktion@compass-infodienst.de
Betreff: Lea Fleischmann