Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 109

Januar 2010

»Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.«

So lautet die paradigmatische Botschaft des Holocaust-Überlebenden Primo Levi, dem 1919 geborenen Chemiker, der als Mitglied des italienischen Widerstandes 1944 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Nach seiner Befreiung legte er in zahlrichen Erzählungen, Gedichten und Essays, die zur Weltliteratur gehören, Zeugnis ab von dem, was er erlebte und erlitt - und letztlich nicht mehr ertragen konnte. 1987 nahm er sich das Leben.

Das eingangs von ihm erwähnte Zitat findet man auch in der Lobby im "Ort der Information", dem unterirdisch angelegten Informationszentrum am Rande des Stelenfeldes des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Institutionell getragen wird diese zentrale Gedenkstätte zum Holocaust in Deutschland mit ihrem Informationszentrum von der "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas", deren Auftrag es ist, dazu beizutragen, »die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter Weise sicher zu stellen« und auf die »authentischen Stätten des Gedenkens« zu verweisen.

Ein Bestandteil des "Ortes der Information" ist das Videoarchiv, das unter dem Leitmotiv "Leben mit der Erinnerung. Überlebende des Holocaust erzählen" steht und sich mit der Präsentation lebensgeschichtlicher Videointerviews mit Überlebenden des Holocaust befasst. Dieser Tage nun erscheint in dem Eigenverlag der Stiftung ein Sammelband, der diesem Archiv gewidmet ist: "'Ich bin die Stimme der sechs Millionen' Das Videoarchiv am Ort der Information", herausgegeben von Daniel Baranowski. Ein Beitrag in diesem Band beschäftigt sich mit der schwierigen Frage nach dem Zusammenhang von religiöser Identität, persönlichem Glauben und der Erfahrung des Holocaust, verfasst von der Berliner Soziologin und freien Mitarbeiterin der Stiftung, Jeanette Toussaint. Ihr Beitrag - "'Wo war Gott?' Die Auseinandersetzung von Überlebenden des Holocaust mit ihrem Glauben" - erscheint heute anlässlich des diesjährigen Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus als ONLINE-EXTRA Nr. 109 online exklusiv im COMPASS.

COMPASS dankt der Autorin sowie der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas für die Möglichkeit der Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!

© 2010 Copyright bei der Autorin und der
Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
online exklusiv für ONLINE-EXTRA




Online-Extra Nr. 109


»Wo war Gott?« Die Auseinandersetzung von Überlebenden des Holocaust mit ihrem Glauben

JEANETTE TOUSSAINT



›Wo war Gott?‹ Mit dieser Frage setzen sich Sara W. und Rudolf R. auseinander, seit sie die Haft in nationalsozialistischen Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern überlebt haben. Ihr Weg zum Erwachsenwerden war geprägt von Ausgrenzung, Verfolgung und Gewalt. Sie verloren ihre Familien und machten Erfahrungen, die sie in ihrem Glauben tief erschütterten. Auf unterschiedliche Weise näherten sie sich später wieder ihrer jüdischen Religion, auch wenn viele Fragen für sie unbeantwortet blieben.1

Sara W. kommt 1929 als zweite Tochter einer Kaufmannsfamilie im südpolnischen Bedzin zur Welt, wo die Eltern einen erfolgreichen Papiergroßhandel betreiben. Ihren religiösen Alltag gestaltet die Familie traditionell. Der Vater geht regelmäßig am Wochenende zur Thoralesung, an den hohen Feiertagen besucht die Familie gemeinsam die Synagoge. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen werden die Eltern enteignet und zur Zwangsarbeit gezwungen. 1941 deportiert die SS die zehnjährige Sara W. in das Zwangsarbeitslager Parschnitz. Dort muss sie in einer Spinnerei arbeiten. Das Lager wird im März 1944 dem KZ Groß-Rosen unterstellt und im Mai 1945 von der Roten Armee befreit. Sie findet ihre Mutter, die vor der Deportation fliehen konnte, in Kattowitz wieder und erfährt, dass der Vater und die ältere Schwester in den Lagern Auschwitz und Groß-Rosen ermordet wurden. 1945 wandert Sara W. nach Palästina aus. Auf dem Weg dorthin lernt sie ihren späteren Ehemann kennen, mit dem sie bis 1961 in Israel lebt. Da Sara W. durch das ungewohnte Klima immer wieder erkrankt, zieht das Ehepaar mit seiner Tochter schließlich in die DDR. 1988 folgen sie der Tochter nach West-Berlin.

Das abrupte Ende ihrer Kindheit, der Verlust der Familie und die Haftzeit führen bei Sara W. zu körperlichen Krankheiten und schweren psychischen Beschwerden. Im Interview erzählt Sara W. eines von mehreren Erlebnissen, die ihr alptraumhaft im Gedächtnis geblieben sind. Anfang 1941 wird die gesamte jüdische Bevölkerung von Bedzin auf dem örtlichen Sportplatz unter dem Vorwand versammelt, ihre Ausweise müssten erneuert werden. Dann riegelt die SS den Platz ab. Die Menschen müssen mehrere Tage ohne Essen und bei strömendem Regen stehen, bis schließlich SS- Männer erscheinen und mit einer Selektion beginnen. Als erstes werden Säuglinge lebendig in offenen Feuern verbrannt. Dieses Bild taucht in den nächtlichen Erinnerungen von Sara W. immer wieder auf. Aufgrund dieses Erlebnisses entwickelt sie eine bleibende Angst vor Feuer und die beständige Furcht, das eigene Kind zu verlieren. Als sie im Interview von diesem Ereignis berichtet, spricht sie zugleich von ihren Zweifeln an der Existenz Gottes: »Es regnete vier Tage und vier Nächte, und wir standen da alle, kein Essen, kein Trinken, gar nicht. Also gut, dass der Regen da war, vielleicht sage ich, wenn ein Gott wirklich da ist, dann hätte er uns nicht da stehen lassen sollen.«2 Nach der Verbrennung der Kinder wird weiter selektiert. Sara W. kommt in ein Durchgangslager im nahe gelegenen Sosnowitz und von dort aus in das Zwangsarbeitslager Parschnitz. In Sosnowitz erlebt sie, wie mehrere Mädchen von den Hunden der SS gebissen werden. Für sie bleibt dieses Geschehnis unbegreiflich: »Wenn ich’n Hund oder ein Tier zu Hause habe, dann hab ich’s doch lieb, dann möchte ich auch, dass es, das Tier, lieb ist, nicht? Dann gebe ich ihm doch Essen und warte nicht, bis man da diese, dieses Fleisch von den Füßen esst, und wie man das ansehen konnte, das ist doch schon grausam, und dafür frag ich, ob das überhaupt Menschen waren? Aber es waren Menschen in Tiergestalt. Sicher, ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie der Gott runtergelassen, dass die das sowas machen. Aber gut, wir können sagen, dass Erwachsene Sünden hatten, aber Kinder, kleine Kinder? Die waren doch das erste Opfer, und was hab ich gesündigt? Ich hab doch alles verloren im Leben.«3 Mit ihrer Argumentation, dass Gott zur Strafe Menschen in Tiergestalt gesandt haben könnte, bezieht sich Sara W. auf eine der zwei traditionellen Formen der Deutung des Leidens innerhalb der langen Geschichte des Judentums: ›Mipnej chata’enu‹, ›unserer Sünden wegen‹. In diesem sinndeutenden Konzept wird jedwedes Leid in der jüdischen Geschichte als Folge des eigenen sündhaften Tuns betrachtet. Dahinter steht die Vorstellung, dass der Mensch die gleiche Verantwortung für die Schöpfung trägt wie Gott. Dabei werden die Menschen als frei Handelnde betrachtet, die für ihr Tun verantwortlich sind. Begehen sie Sünden, können sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. In diesem Sinne gibt es auch verschiedene theologische Erklärungen für den Holocaust, auf deren Vertreter hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann.4 Sara W. folgt in ihren Überlegungen dieser Schuld/Strafe-Argumentation, indem sie darauf hinweist, dass Erwachsene in der Lage sind, Sünden zu begehen. Die für sie unbeantwortete Frage bleibt, aus welchen Gründen Kinder, wie sie damals, ein solches Leid erfahren mussten.

Die zweite traditionelle Form der Deutung des Leidens – die für die Auseinandersetzung von Sara W. und Rudolf R. jedoch keine Rolle spielt – ist ›Kiddusch haSchem‹, die ›Heiligung des Namens Gottes‹. In diesem religiösen Konzept wird die Bewahrung des Lebens als oberstes göttliches Gebot definiert.5 »Die Heiligung des Namens Gottes geschieht auf Seiten des Menschen durch die Heiligung des Lebens. [...] Deshalb gilt, wann immer es möglich war, durch ›Auswanderung, Flucht, Fürsprache, Geldgeschenke und Dienste sein Leben und das Leben der jüdischen Gemeinde retten [zu können], oft sogar durch den scheinbaren Übertritt zum anderen Glauben‹.«6 Erst wenn der Erhalt des Lebens nicht mehr möglich scheint, ist die letzte Konsequenz der Weg in den Tod. Dabei ermöglicht das in erster Linie handlungsleitende Konzept des Kiddusch haSchem ein würdevolles Sterben im Namen Gottes.


»Ich bin die Stimme der sechs Millionen.«

Das Videoarchiv im Ort der Information



Baranowski, Daniel (Hg.):

»Ich bin die Stimme der sechs Millionen.«
Das Videoarchiv im Ort der Information.


Berlin 2010
ISBN: 978-3-942240-00-0
247 Seiten; 5,- €

Bestellungen:
Yvonne Lemmé
Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Stresemannstraße 90,
D-10963 Berlin

Tel.: +49 (0)30 263 943 -21
Fax:  +49 (0)30 263 943 -20
http://www.stiftung-denkmal.de
yvonne.lemme@stiftung-denkmal.de



Mit der Deutung des Holocaust im Sinne des Konzeptes von Mipnej chata’enu, setzt sich auch Rudolf R. auseinander. Er wird 1922 als mittleres von drei Kindern einer Kaufmannsfamilie in Berlin geboren. Die Mutter stammt aus einem orthodoxen Haus, doch insgesamt wird in der Familie eine eher traditionelle jüdische Lebensweise gepflegt. In der Kindheit und Jugend erfährt Rudolf R. antisemitische Gewalt und Ausgrenzung. Der Vater nimmt die politischen Veränderungen zunächst nicht ernst. Er hat im Ersten Weltkrieg als Offizier gekämpft und fühlt sich als gleichberechtigter deutscher Staatsbürger. Doch die Eltern werden enteignet und später im KZ Auschwitz ermordet. Nur die Schwester kann nach England emigrieren und überlebt. Von 1939 bis 1942 müssen Rudolf R. und sein jüngerer Bruder in der Provinz Brandenburg Zwangsarbeit in der Landwirtschaft leisten. Im Frühjahr 1943 wird der 21-Jährige zusammen mit dem Bruder nach Auschwitz-Monowitz deportiert. Auf dem Todesmarsch nach Gleiwitz im Januar 1945 verlieren sie sich aus den Augen. Im April 1945 wird Rudolf R. von der Roten Armee im KZ Sachsenhausen befreit. Später erfährt er, dass der Bruder von der SS ermordet wurde. Rudolf R. bleibt in Berlin, heiratet und wird Vater von zwei Kindern. Doch die Erinnerungen an die Verfolgungszeit kommen in nächtlichen Albträumen zurück. Am stärksten belastet ihn, dass er seinen Bruder nicht vor dem Tod schützen konnte. Wie Sara W. fragt er sich, wie Gott ein solches Verbrechen zulassen konnte: »1945, als ich aus’m Lager zurückkam, ich meine, es ist ja noch nicht erwähnt, hab ich nicht mehr daran geglaubt. Ich habe an die Natur geglaubt, an das, was ich sehe, aber nicht mehr an Gott. Ich habe auch keine Synagoge besucht, weil ich mich gefragt habe, wo war Gott, als, als Millionen Menschen, Juden umgebracht wurden, nicht normal verstorben, sondern umgebracht wurden. [...] Und ich werde nie vergessen, hab, von dem Rabbiner hab ich mich abge- abgetan, abgewendet, der mal gesagt hat, öffentlich in’ner Synagoge, [...] weil wir uns nicht nach den Gebetsvorschriften, nach den Essensvorschriften gerichtet haben. Is, konnte das geschehn, hat der liebe Gott, war er erzürnt. Also ich glaube, nicht nur ich, da sind gleich so und so viel aufgestanden und rausgegangen, ja, den hätt ich, das, ich will nich sagen, dass ich den Kraftausdruck, aber das Gesicht polieren können. So etwas zu sagen und das, das, ein, ein Rabbiner. [...] Das hab ich nun wirklich nicht verstanden, [...] dass man b - mit dem Tode bestraft wird. Also wenn es so was gäbe, [...] dann müsste ja jeder Nichtjude, der nich irgendwann mal in die Kirche geht oder sonstwo, ja, oder, oder, oder betet, erschossen oder ermordet werden. Nein, also, und da, das, das gibt bei mir heute immer noch Zweifel.«7 Die hier von Rudolf R. angesprochene Argumentation ist Teil einer orthodoxen – innerjüdisch umstrittenen – Position innerhalb der so genannten Holocaust-Theologie, die sich auf das Konzept des Mipnej chata’enu bezieht. Der erwähnte Rabbiner sah den Holocaust als Strafe für die Nichtbeachtung der jüdischen Gebets- und Speisevorschriften, was vor allem den assimilierten Juden vorgeworfen wurde. Vertreter dieser Position waren beispielsweise die Rabbiner Immanuel Menachem Hartom und Issachar Schlomo Teichthal.8 Teichthal argumentierte bereits 1943, dass die Judenverfolgung und -ermordung »eine Fügung Gottes sei, um Israel den Weg ins eigene Land zu weisen.«9 Für ihn waren die Schuldigen die den Zionismus bekämpfende Orthodoxie und die assimilierten Juden, die kein Interesse an einem eigenen Staat hätten. Für Hartom war die jahrhundertelange Zerstreuung der Juden in der Welt ein zu recht verhängtes Übel, das dem Volk auferlegt wurde. Dabei sei seiner Meinung nach nicht vorgesehen gewesen, dass sich Juden mit Nichtjuden verbinden und ihre Gesetze und Lehren aufgeben. Doch die assimilierten Juden – und in erster Linie die deutschen – begannen sich in der Diaspora heimisch zu fühlen, und die Sehnsucht nach dem Land Israel wurde vergessen. Hartom war deshalb der Meinung: »Diese Leugnung der Grundsätze des Judentums verdient gemäß jüdischer Auffassung strenge Bestrafung.«10 Für Rudolf R., der sich als deutscher Jude versteht, und dessen Vater im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, waren die Worte des Rabbiners ein Affront, denn dessen Argumentation machte ihn und seine Familie zu Mitschuldigen an der Katastrophe.

Ein zweites Erlebnis, das Rudolf R. nachhaltig irritiert hat, beinhaltet ebenfalls die Auseinandersetzung mit der Assimilation, wenn auch nur unterschwellig: »S’es hat ma ein Rabbiner jegeben, der bekannt ist. Der hat mal aus En-, in England dann w-, der war nach England emigriert und hat jesacht, wie es damals den Stern gab ja, den gelben Stern, den die Juden tragen mussten, das war September 41: ›Seid stolz auf den gelben Stern!‹ Jetzt kann ich das nicht so deuten, was meint er? Also ehrlich gesacht, ich, wer kann sich denn, das war ein angesehner Rabbiner, der bestimmt nichts Dummes da jefaselt hat, aber stolz sein, det kann ich mir heut noch nich erklären. Ich meine, ich gebe zu, ich habe damals auch den Stern tragen müssen, und ich habe an sich damals noch son Langschäfter jehabt, Breecheshosen und glaubte Wunder, wat ich für ein, ein, ein, ein Held, nich’n Held, aber für ein stattlicher Mann wär, junger Mann wäre und habe det Ding getragen an’er Joppe und bin je, aufrecht [...]. Wie gesacht, das, das, da hab ich das, dafür kein Verständnis. Es sei, dass ich vielleicht schon zwischendurch vergessen habe, in welcher, w-, was er damit gemeint hat.«11 Der Aufruf »Seid stolz auf den gelben Stern!«, auf den sich Rudolf R. hier bezieht, wurde von Robert Weltsch geprägt, der von 1919 bis 1938 Chefredakteur der Jüdischen Rundschau war. Sein Leitartikel mit dem Titel Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck erschien als Reaktion auf den reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte am 4. April 1933. Angesichts der zunehmenden Ausgrenzung der deutschen Juden aus dem gesellschaftlichen Leben forderte der Verfasser darin ein neues und sichtbares jüdisches Selbstbewusstsein: »Daß die Boykottleitung anordnete, an die boykottierten Geschäfte Schilder ›mit gelbem Fleck auf schwarzem Grund‹ zu heften, ist ein gewaltiges Symbol. Diese Maßregel ist als Brandmarkung, als Verächtlichmachung gedacht. Wir nehmen sie auf, und wollen daraus ein Ehrenzeichen machen. [...] Juden, nehmt ihn auf, den Davidsschild, und tragt ihn in Ehren!«12 Doch es ging ihm nicht nur um ein neues Selbstbewusstsein. Weltsch plädierte in seinem Beitrag auch für ein nationales Judentum und wandte sich gegen die Assimilation der Juden in die deutsche Gesellschaft. Der damals angesehene Rabbiner, an den sich Rudolf R. in diesem Zusammenhang erinnert, war vermutlich Leo Baeck. Er fungierte von 1912 bis 1942 als Gemeinderabbiner in Berlin und zählte zu den Vertretern des liberalen Judentums.13 Denkbar ist, dass der Satz »Tragt ihn mit Stolz, den gelben Stern!« in eine seiner Predigten eingeflossen ist und von ihm im Sinne der Stärkung des jüdischen Bewusstseins gemeint war. Schon 1933 hatte der Artikel von Robert Weltsch ein starkes Echo gefunden und war mehrmals nachgedruckt worden.14 Nach der Einführung der Kennzeichnungspflicht für Juden am 1. September 1941 erlangte der Satz nun über seine symbolische Bedeutung hinaus eine neue Dimension. Belegt ist, dass auch der Hamburger Rabbiner Joseph Carlebach die Zwangskennzeichnung zum Anlass nahm, den Satz in einer seiner Predigten aufzugreifen.15 Für Rudolf R., dem dieser Aufruf im Gedächtnis geblieben ist, ist jedoch nicht die symbolische Bedeutung des Satzes maßgeblich, sondern die mit dem Tragen des Sterns verbundene reale Ausgrenzung und Gewalt.

Als Rudolf R. seine spätere Ehefrau kennenlernt, beginnt bei ihm der Prozess der Wiederannäherung an den jüdischen Glauben: »Ich hab eine sehr nette Frau, eine sehr liebe Frau, und da würd ich gleich noch sagen, die mich erst zum Judentum wieder zurückgebracht hat, denn ich habe [...] der jüdischen Religion den Rücken gekehrt aufgrund der Ver-, der Vergangenheit, aufgrund dessen, dass es, wenn es einen Gott gibt, er es zugelassen hat, s-, dass Millionen Menschen umgekommen sind, dass, und meine Frau wollte, dass, wenn wir heiraten, wir wollten ja auch Kinder, was ja dann auch eingetreten ist, jesacht: ›Also, die Kinder müssen eine Religion haben. Also, j-, ich bitte jetzt um Entscheidung!‹ Na ja, ich bin, ich bin der Entscheidung gern gefolgt, weil meine Frau ein sehr lieber Mensch is und hab dann so langsam, ich muss ja nicht alles erzählen, ob ich daran gl-, weiter glaube oder neu glaube, sondern ich hab meine Meinung. Aber ich gehöre weiterhin der jüdischen Religion an, meine Kinder ebenfalls, meine Frau klar und so, dass ich also, dass ich also jetzt mit ruhigen Blicken zurückschauen kann, was, was ich erst damals vorhatte. Ich ging lieber in den Grunewald und habe die Kastanienbäume gezählt und jewartet bis die K-, Früchte runterfielen. Das hab ich gern a-, heut noch gern, die Kastanien aufzuknacken und zu sammeln. Wozu weiß ich nicht, also gut, für die Kinder hat man früher Ketten gemacht und so. Das war’n meine Feier, denn es fällt grade immer so um die Feiertage [...], Rosch Haschana oder so, Neujahrsfest oder Jom Kippur.«16

Rudolf R. übernimmt im Verlauf der nächsten Jahre zahlreiche Ehrenämter in der jüdischen Gemeinde. Er selbst bezeichnet sich »als einen Traditionsjuden, ja, religiös, nein, aber die Tradition halt ich heute noch mit meiner Familie, mit meinen Kindern, und ich geh allerdings heute sehr viel mehr in die Synagoge, weil ich auch noch seit 22 Jahren, jetzt hab ich’s grade niedergelegt, in’ner Synagoge en Vorstandsmitglied war. Und das verpflichtet ja auch und irgendwie macht’s mir auch Spaß. Ja, sagen wa mal so, nach dieser Vergangenheit hat man das Bedürfnis [...]. Heut bin ich, steh ich näher der Ge-, na, der Gemeinde will ich nicht sagen, der, der Synagoge oder dem Religiösen als früher, aber das hängt wahrscheinlich damit zusammen, man wird älter und man muss sich ja irgendwann drauf vorbereiten, da auch irgendwo zu landen, wo’s kein Zurück mehr gibt.«17

Sara W. schweigt jahrelang über ihre Erlebnisse in der Verfolgungszeit und erkrankt immer wieder. Erst in einer Selbsthilfegruppe für ehemalige NS-Verfolgte und deren Kinder des Vereins Esra lernt sie, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Doch die Zweifel am Glauben bleiben: »Wie ich hab gesehen, was mit den Kindern passiert, und ich hab gesehen, was mit uns passiert und wie viel da sterben, sag ich, das kann doch gar nicht sein. Alle Menschen haben doch gar nicht so viel Schlechtes gemacht, und warum soll ich glauben und etwas, was ich tu mich bis heute auseinandersetzen. Ich hab zum Beispiel Probleme in die Synagoge zu gehen, hab ich bis heute Probleme. Ich möcht so gerne und als Unsere Bat-Mitzwa hatten, ich musste mich zureden, ja: ›Gehst du jetzt.‹ Oder wir haben doch viele Freunde jetzt, was jetzt die Bat-Mitzwa so anfängt. Jedes Mal ist ein Kampf mit mir. Ich möchte, ich möchte glauben, ich möchte zur Synagoge gehen, ich liebe, es gibt bei uns eine Synagoge, die Pestalozzi, die hat Orgel und, und das ist so toll, wie im Konzert und jedes Mal sag ich morgen, übermorgen, nächsten Sonnabend, und ich kann mich dann nicht überwinden. Das ist irgendwas in mir zerbrochen, einfach zerbrochen, das ist nicht, nicht, ich komm nicht klar damit.«18

Obwohl es ihr schwer fällt, fährt sie regelmäßig zu Gedenkfeiern nach Polen: »Jedes Jahr sag ich ›nicht mehr‹ und jedes Jahr, wenn es ankommt, muss ich da fahren, so wie die Toten hätten gemahnt uns.«19 Ihre Wunschheimat bleibt Israel, und sie bedauert es sehr, dass sie das Land wegen des Klimas verlassen musste. Religiös sei sie nicht, sagt Sara W., doch die jüdische Identität hat für sie eine große Bedeutung. So war sie sehr glücklich über die Heirat ihrer Tochter mit einem israelischen Juden, denn sie verknüpfte damit auch die Hoffnung auf ein neues Familienleben: »Das war eine der schönsten Gefühle, und diese Hochzeit war der Höhepunkt für mir in meinem Leben, weil, was ich wollte, immer eine Familie schaffen, dass es wieder ein, ein jüdisches Leben gibt, weil nicht wir sind die Wichtigsten. Die Wichtigsten sind die nächsten Generationen und es kommt von Kindern noch Kindern, ich hab eine, meine Tochter hat zwei, und wenn die heiraten, wird sicher vier oder sechs.«20

Eine Antwort auf die Frage ›Wo war Gott?‹ haben Sara W. und Rudolf R. nicht gefunden. In der Auseinandersetzung mit ihrem Glauben wird jedoch deutlich, dass ihnen, trotz aller Zweifel an der Existenz Gottes, ihre jüdische Identität wichtig ist. Ihre Gedanken und die Gestaltung ihres Lebens verweisen zugleich auf die theologischen Positionen des Rabbiners und Philosophen Emil Ludwig Fackenheim. Für ihn gab es ebenfalls keine befriedigende Erklärung des Holocaust, jedoch eine Antwort darauf, die er selbst als 614. Gebot bezeichnete: »Juden ist es verboten, Hitler einen posthumen Sieg zu verschaffen. Ihnen ist es geboten, als Juden zu überleben, ansonsten das jüdische Volk unterginge. Ihnen ist es geboten, sich der Opfer von Auschwitz zu erinnern, ansonsten ihr Andenken verloren ginge. [...] Und ein religiöser Jude, der seinem Gott treu geblieben ist, mag sich gezwungen sehen, in eine neue, möglicherweise revolutionierende Beziehung zu Ihm zu treten. Eine Möglichkeit aber ist gänzlich undenkbar. Ein Jude darf nicht dergestalt auf den Versuch Hitlers, das Judentum zu vernichten, antworten, indem er selbst sich an dieser Zerstörung beteiligen würde.«21


ANMERKUNGEN



1 Die Interviews entstanden 1995 und 1996 im Projekt Archiv der Erinnerung des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien Potsdam und der Universität Potsdam, in dem Überlebende des Holocaust aus Berlin und Brandenburg interviewt wurden. Vgl. dazu Cathy Gelbin u. a. (Hg.): Archiv der Erinnerung. Interviews mit Überlebenden der Shoah. Bd. 1: Videographierte Lebenserzählungen und ihre Interpretationen. Potsdam 1998.

2 Sara W. Holocaust Testimony (HVT-3721). Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, Yale University Library und Archiv der Erinnerung, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Transkription und Übersetzung: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

3 Sara W. (HVT-3721). Ebenda.

4 Vgl. dazu Christoph Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz. Gütersloh 1995. Zu den Holocausttheologien S. 79–175. (Die Seitenzahlen beziehen sich auf das Manuskript des Autors, das er mir dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat, da das Buch vergriffen ist.) Außerdem Birte Petersen: Theologie nach Auschwitz? Jüdische und christliche Versuche einer Antwort. Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum. Bd. 24. Berlin 1996. S. 42–61.

5 Vgl. Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. S. 85–95.

6 Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. S. 86. Ebenda S. 86.

7 Rudolf R. Holocaust Testimony (HVT-3415). Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, Yale University Library und Archiv der Erinnerung, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Transkription und Übersetzung: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

8 Immanuel Menachem Hartom wurde 1916 in Italien geboren und lebt seit 1936 in Palästina. Issachar Schlomo Teichthal war ungarischer Herkunft und starb am 24. Januar 1945 während eines Räumungstransportes aus dem KZ Auschwitz in das KZ Bergen-Belsen.

9 Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. S. 82.

10 Hartom (1961), zitiert in Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. S. 83. Ebenda S. 83.

11 Rudolf R. (HVT-3415).

12 Robert Weltsch: Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck. Eine Aufsatzreihe der »Jüdischen Rundschau« zur Lage der deutschen Juden. Nördlingen 1988. S. 27. Mit dem Davidsschild ist der Davidstern gemeint.

13 Baeck wurde 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Nach der Befreiung ließ er sich in London nieder und gründete dort das später nach ihm benannte Institut zur Erforschung des Judentums in Deutschland seit der Aufklärung.

14 Julius H. Schoeps: Zionismus oder der Kampf um die nationale Wiedergeburt. Auszug aus: Zionismus. Texte zu seiner Entwicklung. Dreieich 1983. URL: http://www.zionismus.info/zionismus/schoeps-4.htm (25. Februar 2009).

15 Biografie von Joseph Carlebach. URL: http://www.biu.ac.il/JS/Carlebach/car_bio.htm (25. Februar 2009).

16 Rudolf R. (HVT-3415).

17 Rudolf R. (HVT-3415). Ebenda.

18 Sara W. (HVT-3721).

19 Sara W. (HVT-3721). Ebenda.

20 Sara W. (HVT-3721). Ebenda.

21 Fackenheim (1970), zitiert in: Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. S. 120. Emil Fackenheim wurde 1916 in Halle/Saale geboren. Er emigrierte 1940 nach Kanada und ließ sich 1983 in Jerusalem nieder, wo er 2003 starb. Er bezog sich mit dem 614. Gebot auf die 613 Ge- und Verbote der Thora, die für das orthodoxe Judentum bis heute Gültigkeit haben.



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Die Autorin

JEANETTE TOUSSAINT


... geb. 1964 in Potsdam, Gärtnerin, Floristin, Studium der Europäischen Ethnologie, Soziologie und Gender Studies in Berlin. Arbeitet seit 2005 freiberuflich im Wissenschafts- und Ausstellungsbereich und ist u.a. freie Mitarbeiterin der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Forschungsschwerpunkt und Veröffentlichungen zur Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus, insbesondere zu SS-Aufseherinnen, zur Nachkriegsjustiz und zur familiären Tradierung der NS-Geschichte. Autorin des Buches „Zwischen Tradition und Eigensinn. Lebenswege Potsdamer Frauen vom 18. bis 20. Jahrhundert“ (2009 hg. vom Frauenzentrum Potsdam).

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