Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 26

Februar 2006

Angeregt durch und bezugnehmend auf die Stellungnahme von Muhammad Kalisch zum Karikaturenkonflikt (siehe Online-Extra Nr. 25) versucht der evangelische Theologe Andreas Goetze die zentralen Eckpunkte und Motive dieser Auseinandersetzung aus christlicher Perspektive zu reflektieren. Sein zentrales Motiv ist die Leitfrage, wie die Religionen Respekt voreinander (wieder-)gewinnen können. Die durch die Muhammad-Karikaturen provozierte Krise in den Beziehungen zwischen der islamischen und der westlichen Welt wäre, so Goezte, vermeidbar gewesen. Allerdings sei es nicht leicht, gegen diejenigen Kräfte, die eine Konfrontation anstreben, anzugehen. Und doch ist es bitter nötig. Vor diesem Hintergrund legt Goetze im vorliegenden Online-Extra Nr. 26 einige "Anmerkungen zu einer Neubesinnung im interkulturellen und interreligiösen Dialog" vor.

COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe seines Textes an dieser Stelle!

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online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 26


Beim Barte des Propheten –
oder: wie gewinnen wir Respekt voreinander?


Anmerkungen zu einer Neubesinnung im interkulturellen und interreligiösen Dialog.

ANDREAS GOETZE

Die Wut bahnt sich ihren Weg. Botschaften brennen. Da kommt es kaum mehr darauf an, wenn Radikale im Eifer des Gefechts die dänische mit der schweizerischen Nationalflagge vertauschen. Als Beobachter reibt man sich bei den täglichen Nachrichten verstört die Augen. Boykottaufrufe gegen dänische Lebensmittel, Aufrufe zum Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb, lautstarke Demonstrationen und aufgestachelte Menschenmassen: erschüttert und verunsichert fragt der Zeitgenosse: Was kommt da auf uns zu? Müssen wir uns besonders vor Muslimen schützen?

Gleichzeitig fragen sich die Muslime (und mit ihnen die arabischen Christen!) angesichts jüngster Ereignisse (der Golfkrieg 1991, die US-Außenpolitik seit dem 11. September 2001, der Irakkrieg seit 2003, die ständige Einflussnahme im Nah-Ost-Konflikt und anderes mehr), wie sich die arabische Welt besser gegen die westliche Welt schützen kann.

Es scheint dabei auf beiden Seiten massive Kräfte zu geben, die eine Konfrontation anstreben. Entsprechend analysiert Muhammad Kalisch1: „Es gibt radikal-islamistische Kräfte, die unbedingt gegen den Westen kämpfen und ihre Vorstellung eines islamischen Staates verwirklichen wollen. Diese Kräfte sind undemokratisch und antipluralistisch. Sie propagieren eine islamische Gesinnungsdiktatur ohne demokratische Legitimation und Meinungsfreiheit und fordern unentwegt Verständnis für ihre Positionen, ohne sich Gedanken über die Sichtweise der Anderen zu machen. Umgekehrt gibt es auf westlicher Seite Kräfte, denen sehr daran gelegen ist, einen Unruheherd im Nahen Osten zu haben und denen nach dem Wegfall des Ostblocks das Feindbild Islam willkommen ist“.

Angesichts dieser unheilvollen Situation scheint mir eine nüchterne Betrachtung der Ereignisse geboten. So möchte ich einen Blick zurück auf die Anfänge des Karikaturen-Konfliktes werfen und anschließend der Frage nach den tiefer liegenden Ursachen nachgehen.

Der Stein des Anstoßes …

Die Provokation war kalkuliert, doch die erhoffte Reaktion blieb zunächst aus: „Jyllands-Posten“, Dänemarks auflagenstärkste Zeitung und ein Sprachrohr des national-konservativen Lagers, ließ eine Reihe von Karikaturisten den Propheten Muhammad zeichnen, um zu sehen, wie die rund 170.000 in Dänemark lebenden Muslime reagieren würden. Doch zunächst geschah im Oktober 2005 erst einmal gar nichts. Denn die meisten dänischen Muslime sind Muslime wie die Dänen Christen sind: nicht so, dass es weh tut. Muslime kritisierten zwar die Karikaturen und erinnerten an das islamische Bilderverbot, erklärten aber auch, dass die Gesetze des Islam in einem nichtislamischen Land nicht gälten, und dass die Zeichner nichts zu befürchten hätten.2 Doch „Jyllands-Posten“ gab nicht auf, fragte bei islamischen Organisationen nach – und endlich kam es zur ersehnten Schlagzeile: „Muslime fordern Entschuldigung“. Natürlich erwiderte der Chefredakteur Carsten Juste mit der schon lange von ihm vorbereiteten Antwort: „Nicht im Traum“.

… kam gewollt ins Rollen

Die Muslime in Dänemark gaben auf Nachfrage die Antwort, die die Herausgeber schon im Voraus kannten; die Antwort, die zwingend war, wenn die Befragten die Gebote ihrer Religion ernst nahmen. Sie protestieren gegen die Bilder, die unter anderem den Propheten Muhammad als Finsterling mit einer brennenden Lunte am Turban darstellten. Ebenso müsste jeder Christ protestieren, wenn Jesus, bis an die Zähne bewaffnet, als Rambo-Verschnitt dargestellt wird (was weitgehend unbemerkt in irakischen Zeitungen bereits so gedruckt wurde).3

Nun ist aus dem Lausbubenstreich einer Zeitung eine Staatsaffäre geworden. Auch deshalb, weil übereifrige dänischer Imame auf ihrer Reise in die muslimische Welt neben den Karikaturen ein Bild verbreiteten, das einen Mann zeigen soll, der den Propheten Muhammad mit einer Schweinsnase im Gesicht und Schweinsohren verulkt. Doch das Bild hat mit dem Islam nicht das Geringste zu tun und es entstammt auch nicht der dänischen Zeitung. Es ist vielmehr ein Bild der Nachrichtenagentur „Associated Press“ vom Sommer 2005, das einen Mann zeigt, der auf einer Landwirtschaftsmesse in Südfrankreich an einem Schweine-Quiek-Wettbewerb teilnimmt.4 So kann man sich täuschen – oder besser: so wird man getäuscht.

Bei Jesus hört der Spaß auf

Zur Erinnerung: Toleranz und Meinungsfreiheit sind auch in den westlichen Staaten unterschiedlich ausgeprägt. So wurde der österreichische Karikaturist Gerhard Haderer von einem Athener Gericht wegen „der Verletzung des öffentlichen Anstandes und religiöser Gefühle“ in Abwesenheit zu sechs Monaten Haft verurteilt. Haderer hatte Jesus als leicht entrückten Weihrauchkiffer gezeigt und den Gang über den See Genezareth als Surf-Trip dargestellt. Die österreichische Bischofskonferenz sah „die Fundamente der Demokratie in Gefahr“.

Proteste aus dem religiösen Bereich sind uns also nicht fremd. Aufsehen erregten immer wieder Kinofilme wie z.B. 1979 der Film „Das Leben des Brian“ von Monty Python, eine Satire über religiösen Fanatismus, die als „blasphemisch“ verurteilt wurde. Bei Filmen von Martin Scorcese „Die letzte Versuchung Christi“ oder von Mel Gibson „Die Passion Christi“ ließ der Vorwurf der Gotteslästerung und der Verspottung des Heiligen nicht lange auf sich warten. Religiöse Gefühle verletzte in Deutschland auch der Kruzifixstreit, der zur Folge hatte, das seitdem in bayrischen Klassenzimmern nicht mehr automatisch ein Kreuz aufgehängt werden darf.

Die Aufregungen verwundern nicht, geht es doch bei der Frage der Religion um die letzten Dinge – und da verstehen Gläubige selten Spaß. Denn das Heilige bzw. das, was jemand für heilig hält, berührt sein Innerstes, trifft ihn an seiner empfindlichsten Stelle. Mit dem Heiligen kommen fromme Menschen in allen Religionen mit einer qualitativ anderen Wirklichkeit in Kontakt, die alles Irdische übersteigt. Meist hat das Heilige (oder der Heilige = Gott) geheimnisvollen, zwiespältigen Charakter, faszinierend und schrecklich zugleich.5 Daher möchten Gläubige im Bereich des Heiligen auf keinen Fall etwas falsch machen (daher die oft haarklein festgelegten Rituale und Zeremonien) und erwarten auch von Nichtgläubigen einen entsprechenden Respekt.

Während das Christentum Religion weitgehend privatisiert hat …

In der westlichen Welt ist nun überwiegend ein Verständnis anzutreffen, das Religion als „Privatsache“, als innerliche Glaubensüberzeugung definiert. Ausgehend vom Satz Jesu: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“ (Mt.22, 21) ist die Unterscheidung von Staat und Religion für das Christentum grundlegend -wohlgemerkt die Unterscheidung, nicht die Trennung! Denn natürlich geht Jesus davon aus, dass die Liebe, zu der Gott die Menschen befähigt, in alle Lebensbereiche ausstrahlt und Einfluss hat. Es geht also nicht um eine „Eigengesetzlichkeit der Welt“, so dass man das „Reich des Säkularen“ sich selbst überlassen dürfe6, sondern das „Reich der Liebe“ soll die Welt so durchdringen, dass in ihr zu leben lebenswert ist.

Dass doch oft eher auf Trennung gesetzt wird, hat einen schmerzlichen Hintergrund7: Europa hat sich spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg, der auch mit religiösen Argumenten geführt wurde und in manchen Regionen über die Hälfte der Bevölkerung hinwegraffte, und nach vielerlei weiteren Irrungen und Wirrungen zu der Einsicht durchgerungen, dass man mit Religion keinen Staat machen kann und soll.

Dabei haben sich die europäischen Staaten eine unterschiedliche Sensibilität gegenüber religiösen Problemstellungen bewahrt: In Deutschland gibt es im Strafgesetzbuch den § 166, durch den religiöse Verunglimpfungen geahndet werden können, um so einen aufkeimenden Konflikt möglichst frühzeitig einzudämmen.

… kennt der Islam keine Trennung von „geistlich“ und „weltlich“

Ganz anders als in der westlichen Welt sind die Verhältnisse, unter denen die Menschen im Nahen und Mittleren Osten leben, durch die Religion geprägt. Wie für die arabischen Christen das Christentum, ist für die Muslime der Islam das soziale Band, das sie eint. Die heftigen Reaktionen auf die umstrittenen Karikaturen aus Dänemark haben darüber hinaus weniger mit der Humorlosigkeit einzelner Muslime zu tun als mit der sozialen Dimension des Islam.

In der westlichen Welt halten die meisten Bürger die Religion für einen Teilbereich des Lebens. In der islamischen Welt ist das jedoch nicht der Fall. Das klassische Arabisch kennt nicht einmal ein Wortpaar wie geistlich und weltlich, religiös und säkular.8 Die Trennung von Staat und Religion ist dem Islam fremd. Staatliches Handeln ist einheitlich verbunden mit religiösem Tun.9

Damit greifen die veröffentlichten Karikaturen nicht allein den einzelnen gläubigen Muslim an, sondern werden verstanden als Angriff auf die Sozialordnung, das Gemeinwesen Islam! Es gibt wohl in der westlichen Welt eine lange Tradition von kirchlichem Protest und sogar Blasphemieprozesse gegen Karikaturen, aber nie steht dabei Religion als primäres soziales Band auf dem Spiel.10 Sucht man die muslimischen Reaktionen auf die Karikaturen zu verstehen, gilt es, diesen grundlegenden Unterschied beim Zugang zu Religion wahrzunehmen.11

Muhammad und das Bilderverbot

Im kollektiven Selbstverständnis der islamischen Welt spielt daher auch Muhammad eine zentrale, einheitsstiftende Rolle. Wie es nur einen Gott gibt, gibt es nach islamischem Verständnis auch nur ein Prophetentum, dem alle Propheten entsprechen. Muhammad ist der letzte in dieser Reihe von Abraham und Moses über Jesus, und er erfüllt es am vollkommensten. Er ist das „schöne Modell“.12 Er erfüllt das gesamte Prophetentum, weil er nicht nur den Willen Gottes verkündigte und lebte, sondern ihn auch durchzusetzen wusste als ein vollkommener, weiser Herrscher seiner Gemeinde. So war nur Joseph in Ägypten vor ihm als Prophet solch ein großer Staatsmann (Sure 12). Und Abraham, dem Freund Gottes, war Muhammad am ähnlichsten.

Die Darstellung des Propheten Muhammad wird im Islam meistens unterlassen und selbst dort, wo man ihn unbedingt darstellen wollte, tat man dies in der Regel ohne das Gesicht zu porträtieren.13 Der Koran enthält an keiner Stelle ein ausdrückliches Bilderverbot. Doch in den Hadith-Texten (aufgeschriebene Worte und Handlungen des Propheten) finden sich zahlreiche Prophetenaussprüche, die Bilddarstellungen mit dem Argument der Gefahr der Idolaterie (des Götzendienstes) ablehnen: Im Arabischen kann das Wort für „bilden“ auch die Bedeutung von „erschaffen“ haben und Gott als der „Schöpfer“ wird auch als „Bildner“ bezeichnet. Daher werden Maler oder Bildhauer, die Lebewesen darstellen, am Tag des Jüngsten Gerichts aufgefordert werden, diesen Wesen Leben einzuhauchen. Da sie das aber nicht können, werden sie zur Verantwortung gezogen und verdammt werden.

Sicher finden sich auch in der islamischen Tradition Bilder (wie z.B. die Darstellung des Kalifen Abdalmalik (685-705 n. Chr.) auf Münzen oder persische und schiitische Miniaturmalerei vom 13. Jahrhundert, dabei auch reich bebilderte Muhammad-Biographien). Im mehrheitlich sunnitischen Islam ist die Lage in Bezug auf den Propheten Muhammad eindeutig: Die Ablehnung ist grundsätzlich, selbst zum Zweck der positiven Darstellung.

Die Beleidigung und Schmähung des Propheten wurde von den muslimischen Juristen als ein Straftatbestand betrachtet, der mit dem Tod bestraft werden muss, wobei dieser Straftatbestand auch auf Nichtmuslime, die auf islamischem Territorium lebten, angewendet wurde.14



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Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz

Nun ist Muhammad nach islamischer Vorstellung nicht gottgleich wie Jesus, sondern „nur“ Mensch, aber eben ein göttlich inspirierter Prophet und Begründer (oder genauer: Wiederbegründer) des Islam, des – so die Vorstellung – ursprünglichen Glaubens Abrahams. Muhammad verspotten bedeutet somit, den Islam zu verspotten. Die Beleidigung des Propheten war und ist für viele Muslime eine hochemotionale Angelegenheit, denn zu ihm empfinden viele eine tiefe Liebe und Verbundenheit.

Der Kern des Problems im gegenwärtigen Streit ist damit angezeigt15: Wie soll eine Gesellschaft mit der Verletzung religiöser Gefühle umgehen? Wie soll das Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und religiösen Empfindungen gelöst werden?

Wer eine Gesellschaft will, die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit anerkennt, der muss damit leben, dass es Menschen gibt, die seine weltanschaulichen Auffassungen nicht teilen und Dinge für Unsinn halten, die er selbst als Wahrheiten betrachtet. Und dennoch gibt es in allen Gesellschaften Tabus, haben alle Menschen empfindliche Bereiche. Dabei sind alle darauf angewiesen, dass andere diese Tabus und Empfindlichkeiten respektieren, wenn wir einander gleichberechtigt, würdevoll begegnen wollen. Das Problem ist, dass wir unterschiedliche Tabus haben, die darüber hinaus auch dem historischen Wandel unterworfen sind.

Da der Islam Züge einer Sozialmoral in sich trägt, die für die Menschen fundamental und absolut verbindlich ist, werden im Islam solche Vorschriften sehr ernst genommen. Die Karikaturen sind als Aktion auch ein kleiner Teil des globalen Ringens um Spielregeln, die das Zusammenleben der einander unheimlich nahe gerückten Kulturen bestimmen sollen. Dementsprechend grundsätzlich wird argumentiert: heilige Meinungsäußerungsfreiheit gegenüber heiligem Respekt vor religiösen Gefühlen. Eskaliert der Konflikt wie derzeit wahrgenommen, ergibt sich ein fataler Solidarisierungszwang. Jede weitere Zeitung, die Muhammad-Karikaturen abdruckt, führt Tausende den muslimischen Demonstrationszügen zu. Und der empfundene Angriff auf die Pressefreiheit wird in einer belgischen Zeitung mit dem Ausspruch gekontert: „Wir sind jetzt alle Dänen“.

Westliches Feindbild Islam durch die Jahrhunderte

Wenn eine der veröffentlichen Karikaturen Muhammad – mit einem durchaus sympathischen Gesicht – mit einer Bombe statt mit einem Turban auf dem Kopf zeigt, müssen sich die Kritiker in der islamischen Welt auch fragen lassen, weshalb ein Karikaturist auf eine derartige Idee kommt. Sind nicht dutzende von Attentaten, von denen der 11. September ja nur der blutigste war, im Namen des Islam verübt worden? Und droht nicht ein Präsident einer „islamischen Republik“ offen einem anderen Land mit Vernichtung und bastelt dabei an Atombomben?

Doch die Karikaturen werden von vielen Muslimen nicht als Ausdruck einer konstruktiv islamkritischen Haltung gesehen. Die sicherlich echte Empörung über die Karikaturen wurde zum einen von Extremisten instrumentalisiert, um die Stimmung gegen den „dekadenten Westen“ aufzuheizen. Zum anderen kommt zum Tragen, dass in islamischen Gesellschaften kein ähnlich differenziertes Reden über Religion ausgebildet ist wie es Europa von der Aufklärung her kennt. Während wir diese Karikaturen eher als Kritik an neueren Gewalttendenzen im Islam lesen, ohne dabei die sozialen und moralischen Potentiale des Islam in Frage zu stellen, fehlt bei Muslimen überwiegend ein kritisches Reflexionsvermögen, das einen entsprechenden Zugang zu den Karikaturen möglich macht.

Erschwerend kommt hinzu, dass die so interpretierte Ehrverletzung eingeordnet wird als Höhepunkt einer in Europa grassierenden Islam-Feindlichkeit, als sei der Islam eine durch und durch gewalttätige Religion. Die Empörung ist daher nicht unbegründet besonders im Hinblick auf die Geschichte des Islam: Er war gegenüber den Nichtmuslimen viel toleranter als das Christentum umgekehrt gegenüber dem Islam und dem Judentum.16

Die Karikaturen knüpfen ja tatsächlich an ein polemisches Muhammad-Bild an, das in Europa durch die Jahrhunderte (mit Ausnahme der Aufklärung) geprägt wurde: „Mahound“ als Lügenprophet, Antichrist, Götzenanbeter, Verrückter oder Epileptiker. Die Muslime wurden (und werden) immer noch fälschlicherweise als „Mohammedaner“ bezeichnet, als ob sie Muhammad anbeten würden und nicht Gott.

Geschichtlich eingeordnet, verstärken die Karikaturen innerhalb der islamischen Welt eine Sicht, durch die sich die Muslime ausnahmslos und undifferenziert mit negativen Beschreibungen belegt erkennen17: Das Feindbild Islam biete, so Kalisch, bis heute die Grundlage zu einem Generalverdacht gegen alle Muslime – wie der jüngste „Muslimtest“ in Baden-Württemberg zeige.18

Spiegelbildliche Ideologien

Einfache Deutungen der Weltpolitik beherrschen die Szenerie. Nach dem 11. September war es Präsident Bush selbst, der vom Kreuzzug gegen den Terror sprach und damit insbesondere den Islam meinte. Des Kommunismus als Gegner beraubt, hat Amerika aufs Neue eine zweigeteilte Welt installiert und diese eingeteilt in Gut und Böse. Diese Aussagen korrespondieren spiegelbildlich dem Selbstverständnis in der islamischen Welt, die ebenfalls bipolar strukturiert ist: hier das „Haus des Islam“, in dem die Muslime herrschen und das Gesetz des Islam gilt, und dem Haus des Krieges“, das sich über den Rest der Welt erstreckt.19

Christlicher Fundamentalismus ist weltweit in der Minderheit, aber er bestimmt die amerikanische Politik nachhaltig.20 Auch unter den Muslimen stellen diejenigen, die dem islamistischen Credo ohne Erbarmen folgen, nur eine Minderheit dar, aber sie besetzen die Minarette.

Dem vielfach anzutreffenden undifferenzierten „Feindbild Islam“ im Westen mit all seinen Abgrenzungstendenzen entspricht spiegelbildlich in der islamischen Welt vielfach vereinfachend und undifferenziert eine Sicht, in der die (kulturelle) Globalisierung gleichgesetzt wird mit „Verwestlichung“ und „Amerikanisierung“. Westliche Konzepte werden als unvereinbar mit den eigenen kulturellen Werten, der eigenen Identität gesehen.21 Die „Abwehr von Außeneinflüssen“, „die Wahrung der Authentizität“ sind einige der Leitbegriffe, die momentan die Debatten richtungsweisend bestimmen. Diese Ängste, die um „den Schutz des Islam“ kreisen, stehen für große Teile der Bevölkerung in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten bei der Beurteilung der Politik „des Westens“ gegenüber dem arabischen und islamischen Raum im Mittelpunkt.

Durch die offensive und aggressive Politik der USA im Nahen und Mittleren Osten und die damit verbundenen Absichten, die Region grundlegend umstrukturieren zu wollen (sog. Demokratieexport), erhalten die Islamisten Argumentationshilfe, um diese Ängste zusätzlich zu schüren und sich als Verteidiger der nationalen Souveränität und der religiös-kulturellen Identität zu präsentieren: „Die Karikaturen seien nur ein weiteres Beispiel für die wahrgenommene Arroganz und Dominanz des Westens, der dabei ist, seine Lebensweise global durchzusetzen“. In diesem Globalsierungsprozess nimmt die Dominanz noch zu. Sie wird von der großen Mehrheit der Menschen, die in ihrer Armut Verlierer dieser Globalisierungsprozesse sind, stark abgelehnt – insbesondere in der islamischen Welt.

Von daher muss ausdrücklich festgehalten werden, dass sich trotz solch kollektiven Selbstverständnisses insgesamt nur wenige Muslime gewaltbereit und fanatisch gezeigt haben und es scheint vor allen Dingen so zu sein, dass manche Regierung im Nahen und Mittleren Osten versucht, durch Anheizung des Themas von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken.

Notwendige Neubesinnung:
Gerechtigkeit, Dialog und Respekt vor dem „Anders-Sein“ des anderen

Wären die Beziehungen zwischen islamischer Welt und dem Westen nicht so angespannt, wären die Karikaturen wohl ignoriert worden. Die islamische Welt steckt in einer tiefen Krise. Ebenso die westliche, in der beträchtliche Orientierungsprobleme bestehen, nachdem der unbedingte Glaube an den Fortschritt abhanden gekommen ist. Verunsicherungen allenthalben führen zu Überreaktionen und sind ein großes Hindernis für einen wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen, ein Einfallstor für radikale Positionen auf allen Seiten. Für eine differenzierte Wahrnehmung sind aber genaue Kenntnisse über den anderen grundlegend wichtig und damit verstärkte Begegnungs- und Dialogbemühungen. Hier stehen wir in allen Kulturen noch am Anfang.

Auch wenn wir gegenwärtig bei aufgewühlten Emotionen und bedrückenden Ängsten kaum in der Lage sind, in Ruhe und sachlich über Entwicklungsfragen nachzudenken, ist genau dieses gegenwärtig besonders notwendig – besonders über die Beziehungen zwischen der „Ersten Welt“ und der „Dritten Welt“, damit es zu gerechteren Verhältnissen kommt. Denn hoffnungslose Armut führt zur Verzweiflung, die letztlich Nährboden ist für extremistische Bewegungen.

In der Auseinandersetzung um die Muhammad-Karikaturen ist viel von Toleranz und viel von ihrem Fehlen die Rede. Toleranz aber beschreibt ein Machtverhältnis: der Starke kann sie dem Schwachen gewähren. Sinnvoller wäre es, von Respekt zu sprechen, der eine Beziehung zwischen Menschen, Kulturen, Ideen und auch Religionen von „Gleich zu Gleich“, auf Augenhöhe prägt. Es ist ein Mangel an Respekt, den die islamische Welt der westlichen Welt vor allem vorwirft.

In einer multikulturellen Weltgesellschaft braucht es solchen Respekt, der – zum Beispiel – das islamische Bilderverbot weder verstehen noch innerlich billigen muss, aber um des friedlichen Zusammenlebens willen diese Differenzen nicht aggressiv thematisiert, keine Experimente macht – erst recht nicht, wenn deren explosiver Charakter absehbar ist. Widersprüche müssen ausgehalten werden: wer glaubt, dass Gott Herrscher der Welt ist, der muss auch glauben, dass Gott allein und nicht er und keine Priester – oder Predigerkaste über dessen Ratschluss vorab entscheidet. Was verlieren wir an Freiheit, an Lebensqualität, an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, wenn wir freiwillig, respektvoll darauf verzichten, den Propheten einer anderen Religion zu karikieren oder überhaupt darzustellen?22 Nichts.

Respekt und Achtung vor anderen Religionen ist unabdingbar, das muss im Gegenzug und in gleichem Maße auch für Christen und Juden und ihre Glaubensinhalte in islamischen Ländern gelten. Wütende Proteste im Namen der Toleranz aus Ländern, die keine Gleichberechtigung der Religion gewähren, sind wenig überzeugend.23 So gilt es, künftig auf beiden Seiten sensibler auf die Empfindung der anderen zu achten. Ein „Kampf der Kulturen“ ist nicht zwangsläufig.


ANMERKUNGEN



1 Muhammad Kalisch ist ordentlicher Professor für „Religion des Islam“ am Centrum für Religiöse Studien der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seine „Stellungnahme zum gegenwärtigen Konflikt um Karikaturen, die den Propheten Muhammad abbilden“ wurde zuerst veröffentlicht als „ONLINE-EXTRA Nr.25“ bei: COMPASS – Infodienst für christlich-jüdische und deutsch-israelische Tagesthemen im Web (www.compass-infodienst.de).

2 Vgl. Hannes Gamillscheg in einem Kommentar in der Frankfurter Rundschau im Oktober 2005.

3 Auch in den arabischen Medien ist die Karikatur ein beliebtes Instrument der Meinungsäußerung, so auch in Bezug zum Nah-Ost-Konflikt und der Rolle der USA und des Staates Israel: der stete Versuch der israelischen Regierungen, die fortwährende Landenteignung- und Siedlungspolitik mit dem biblischen Anspruch der Juden auf das ganze Land zu begründen, kontert der arabische Karikaturist mit einer Zeichnung, in der aus dem Talmud eine Gewehrspitze herausschaut und auf einen erschreckten Palästinenser zielt. Vgl. memri (Middle East Media Research Institute), spezial Dispatch, 09.02.2006. Allerdings deutet memri diese und andere Karikaturen vorschnell als antisemitisch (und damit religiös) und beachtet nicht die vornehmlich politischen Aussagen.

4 Nach Michael Hanfeld, faz-net Nr. 35 vom 10.02.2006, S.48.

5 Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Gotha 1929 und die weiterführende Diskussion bei D. Kamper/ Ch. Wulf (Hrg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt 1987.

6 Darauf hat insbesondere der 5. Artikel der „Barmer Theologischen Erklärung“ von 1934 hingewiesen, in der sich die Bekennende Kirche besonders von der lutherischen Orthodoxie und in deren Gefolge von den „Deutschen Christen“ absetzte: Barmen 5 bestreitet die aus einer falsch verstandenen „Zwei-Reiche-Lehre“ behauptete „Eigengesetzlichkeit der Welt“, weil dadurch die Kirche in der Gefahr steht, ihr Wächteramt gegenüber dem Staat aufzugeben und die sich entwickelnden Strukturen als „gottgegeben“ hinzunehmen. Barmen 5 im Wortlaut: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt … nach dem Maß menschlicher Einsicht und Vermögens … für Recht und Frieden zu sorgen (…) Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden…“ – ebenso wenig, so können wir heute ergänzen, auch der globale Markt oder die neoliberale Weltordnung.

7 So Gernot Rotter, Guter Mann Muhammad, in taz vom 07.02.2006, S.3.

8 Nicht nur von Islamisten, sondern von den meisten Muslimen selbst wird der Gedanke an eine säkulare Rechtsprechung und Autorität außerhalb der Reichweite des religiösen Gesetzes und seiner Hüter als Verrat am Islam gesehen. Zum Zusammenhang vgl. Bernhard Lewis, Die politische Sprache des Islam, Berlin 1991, bes. S.14ff, 132ff, 172ff.

9 Muhammads Gemeindeordnung von Medina ist bereits in ihrem frühesten Stadium politische und religiöse Ordnung.

10 Hier wird deutlich, dass und warum wir große Schwierigkeiten haben, den Islam zu verstehen und einzuordnen und umgekehrt innerhalb der islamischen Welt das Unverständnis gegenüber der westlichen Welt vorherrscht. Die grundlegenden Denkweisen sind einander vielfach fremd.

11 Ähnliches wie im Islam findet man im Christentum am ehesten bei amerikanischen evangelikalen Gruppen, die zu Demonstrationen aufrufen gegen Abtreibung (hierbei durchaus gewalttätig) oder gegen Karikaturen, Filme und Bücher u.a., die ihrer Meinung nach gegen die christliche Lehre gerichtet sind.

12 Sure 33, 21. Zum Propheten Muhammad vgl. Annemarie Schimmel, Der Prophet Muhammad als Zentrum des religiösen Lebens im Islam, in: A. Falaturi/ W. Strolz (Hrg.), Glauben an den einen Gott. Menschliche Gotteserfahrung im Christentum und Islam, Freiburg 1976, S.57-84, hier S. 59.

13 So Kalisch (Anm.1), S.1.

14 ebd.

15 Zum folgenden vgl. Kalisch (Anm.1), S.3ff.

16 Vgl. dazu die Geschichte der Widereroberung Spaniens durch die Reconquista: bis dahin haben Muslime, Christen und Juden in einem Verhältnis der Duldung zusammenleben können, die durch das Christentum gewaltsam beendet wurde. Vgl. dazu Gudrun Krämer, Geschichte des Islam, München 2005, S. 143ff.

17 Vgl. dazu: Alexander Flores, Die arabische Welt. Ein kleines Sachlexikon, Stuttgart (Reclam) 2003, S.7ff: Die Muslime und insbesondere die Araber haben keine gute Presse – und das nicht nur derzeit. Seit Jahrhunderten sind alle möglichen Klischees über sie im Umlauf: der verschlagene, schlitzohrige Händler, der reiche Ölscheich, der hinterhältige Terrorist. Die Vorstellung der unterdrückten Frau gehört wie die Darstellung der Defizite bei Demokratie und Menschenrechten zu den immer wiederkehrenden Stereotypen der Berichterstattung in den westlichen Medien. Auf der anderen Seite gilt das Arabische als das Exotische schlechthin, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, verklärt zum „ewigen Zauber des Orients“. Beide Bilder der Araber, das negative wie das faszinierende, sind plakativ und vorurteilsbeladen. Das hat mit einer weit verbreiteten Unkenntnis der realen Araber, ihres Denkens und ihrer Lebensumstände zu tun. Die arabische Welt ist die Europa unmittelbar benachbarte Weltregion, viele Araber, Christen wie Muslime, leben bei uns, das Verhältnis zur arabischen Welt wird für uns auch weiterhin eine große Rolle spielen, und wir sollten nüchtern und respektvoll einander begegnen. Dazu gehört zunächst die Kenntnis voneinander.

18 Vgl. Kalisch (Anm.1), S.5f: „Eine kleine Gruppe gewalttätiger Terroristen wird mit einer ganzen Religionsgemeinschaft identifiziert“.

19 Zum Zusammenhang vgl. Lewis (Anm.8), S.126ff.

20 Vgl. dazu: Evang. Missionswerk (EMW) (Hrg.), Christlicher Fundamentalismus in Afrika und Amerika. Historische Wurzeln, Erfahrungen, Problemanzeigen, in: Weltmission heute Nr.13, Hamburg 1993 (Bezug über EMW, Normannenweg 17-21, 20537 Hamburg).

21 Zum folgenden vgl. die Studie des Deutschen Orient-Institutes aus dem Jahre 2004, veröffentlicht durch Sigrid Faath (Hrg.), Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nah- und Mittelost. Inhalte, Träger, Perspektiven, Hamburg 2004. Die Studie belegt anschaulich die Islamisierung als Reaktion auf US-Politik und Globalisierung, durch die liberale Positionen in die Defensive rücken – auch in der westlichen Welt, in der mit dem Leitbegriff „Kampf dem Terror“ schrittweise Menschen- und Bürgerrechte eingeschränkt wurden und werden und sich damit ein schleichender Demokratie-Abbau vollzieht.

22 Dazu Kalisch (Anm.1), S.4: „Wenn man weiß, dass Muslime eine bildliche Darstellung des Propheten als besonders verletzend empfinden, dann sollte jemand, der Kritik am Islam hat und sich in einem ehrlichen Dialog mit Muslimen über seine Kritik auseinandersetzen möchte, sich fragen, ob er seine inhaltliche Kritik in gleicher Schärfe vielleicht nicht mit einem Mittel ausdrücken könnte, das sein Anliegen genauso klar zum Ausdruck bringt, aber die Gegenseite weniger verletzt. Dies ist eine Frage des Anstandes und des Stils“.

23 Dazu gehört auch ein Bewusstsein, dass in islamischen Ländern immer wieder Karikaturen veröffentlicht werden, in denen westliche und vor allem israelische Politiker in einer Weise dargestellt werden, die die Menschenwürde verletzen.


Der Autor

ANDREAS GOETZE


Jhg. 1964, ist Pfarrer in Rodgau-Jügesheim, Vertrauenspfarrer des Jerusalemsvereins (Partner der Evang-lutherischen Kirche in Jordanien und Palästina und ihrer Schulen, z.B. TALITA KUMI), Mitglied der "Konferenz für Islamfragen" der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und seit vielen Jahren engagiert im christlich-jüdischen Dialog.



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