ONLINE-EXTRA Nr. 128
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An vielen Orten in Deutschland wird heute am 9. November 2010 des 72. Jahrestages der Reichspogromnacht von 1938 gedacht und damit zugleich an den gewalttätigen Auftakt zur Vernichtung der europäischen Juden erinnert. Im vorliegenden ONLINE-EXTRA versucht der evangelischen Theologen Klaus Wengst der "bleibenden Bedeutung der Erinnerung an die Shoa" - so das Thema des Vortrages, das ihm gestellt war - aus einer biblischen, jüdischen und christlichen Perspektive nachzugehen.
Sein Vortrag, den er im November 2009 im Rahmen einer Vortragsreihe in Mainz hielt, wurde kürzlich in gedruckter Fassung von der Zeitschrift "Kirche und Israel" (siehe Anzeige weiter unten) publiziert und erscheint an dieser Stelle erstmals online.
COMPASS dankt dem Autor und der Redaktion von "Kirche und Israel" (KuI) für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe des Textes an dieser Stelle!
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
Online-Extra Nr. 128
Der Titel meines Vortrags mag etwas rätselhaft erscheinen. Diese Formulierung war in meinem ursprünglichen, noch umständlicheren Vorschlag der Untertitel. Als Bibelwissenschaftler liegt es für mich nahe, mich einem gestellten Thema mit biblischen Texten zu nähern. Das gestellte Thema ist „Erinnerung“, Erinnerung an ein unvorstellbar grausames Geschehen1. Von solcher Erinnerung ist in eigenartiger Weise in Dtn 25,17-19 die Rede. Darauf bezogen hatte ich als Titel formuliert: „Sich erinnern, was ‚Amalek‘ Israel getan hat, und die Erinnerung an ‚Amalek‘ auslöschen“. Doch bevor ich auf diesen Text eingehe, will ich in einem ersten Teil einige Überlegungen anschließen an die Titelformulierung der gesamten Vortragsreihe, die zuerst vorgeschlagene und die schließlich gewählte.
Die bleibende Bedeutung der Erinnerung oder die bleibende Bedeutung der Schoa?
Im gedruckten Programm ist die Vortragsreihe überschrieben: „Die bleibende Bedeutung der Erinnerung an die Schoa“. Der ursprüngliche Arbeitstitel lautete: „Die bleibende Bedeutung der Schoa für unser Selbstverständnis“, für diesen Abend zugespitzt: „für unser christliches Selbstverständnis“. Ich denke, dass die Änderung sehr überlegt erfolgt ist und dass es gut war, sie vorgenommen zu haben. Die ursprüngliche Formulierung ist nicht davor geschützt, die Schoa zu verzwecken, von positiven Auswirkungen her, die das Bedenken der Schoa gehabt hat, dieser selbst in irgendeiner Weise Sinn zu geben. Es hat mich schon als Kind verstört, wenn meine Großmutter ein schlimmes Ereignis im Dorf mit dem Satz kommentierte: „Man weiß nicht, wofür es gut war.“ Es kommt ja vor – Gott sei Dank! –, dass Schlimmes in irgendeiner Weise zum Guten ausschlägt oder die eine oder andere positive Folge hat. Aber es darf nicht sein, dem zutiefst Sinnlosen des planvollen massenhaften Mordens in der Schoa durch nachträgliches Aufladen mit Sinn auch nur den Hauch von Legitimation zu geben.
KIRCHE UND ISRAEL
Neukirchener Theologische Zeitschrift
Neukirchener Theologische Zeitschrift
Herausgegeben von:
Edna Brocke, Hans Hermann Henrix, Rolf Rendtorff, Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann, Gabriele Oberhänsli-Widmer (für die Schweiz), Hans Joachim Sander (für Österreich), unter Mitarbeit namhafter Fachgelehrter
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Ich will das hier anstehende Problem an einem neutestamentlichen Text im Kontrast mit einem altkirchlichen verdeutlichen. In der Apokalypse des Johannes erblickt der Seher bei der Öffnung des fünften Siegels (Apk 6,9f.) unter dem himmlischen Altar „die Seelen derjenigen, die um des Wortes Gottes willen und um des Zeugnisses willen, das sie hatten, hingeschlachtet worden sind“. Er hört sie schreien; es ist ein Schrei aus der Not, ein Schrei, der Abhilfe verlangt, Gottes Eingreifen fordert: „Wie lange noch, heiliger und wahrhaftiger Herrscher, richtest Du nicht und vergiltst Du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?!“ Was die Ermordeten schreien, ist ein ausgesprochener Protestruf. Sie erheben Protest gegen die Gewaltgeschichte, deren Opfer sie geworden sind, und verlangen ihr Ende. Selbst und gerade sie, die Märtyrerinnen und Märtyrer, sind noch nicht am Ziel, solange die Gewaltgeschichte unablässig weiterläuft, solange ihre Mörder, dazu noch unter dem Schein des Rechts, ihr Werk weitertreiben können. Hier besteht ein fundamentaler Unterschied zur Sicht des Martyriums bei Ignatius von Antiochia. In seinem Brief an die Gemeinde in Rom bittet dieser die Gemeinde mit größtem Nachdruck, alles zu unterlassen, was sein Martyrium verhindern könnte. Er will es unbedingt erleben und fiebert ihm geradezu entgegen. So formuliert er: „Ich schreibe allen Gemeinden und halte allen eindringlich vor, dass ich gerne für Gott sterbe, wenn ihr es nur nicht verhindert. Ich mahne euch, dass ihr mir ja nicht ungelegen Gunst erwirkt! Lasst mich ein Fraß von Raubtieren sein! Durch sie ist es möglich, zu Gott zu gelangen. Weizen Gottes bin ich und durch die Zähne von Raubtieren werde ich gemahlen, damit ich als reines Brot Christi erfunden werde“ (IgnRöm 4,1). Ignatius denkt individuell im Blick auf die eigene Person; er will durch das Martyrium zu Gott und damit zum Ziel gelangen. Ganz anders Johannes: Für ihn sind die Märtyrerinnen und Märtyrer noch nicht am Ziel. Er sieht sie nach Apk 6,11 in einem Wartestand. Das ist für ihn deshalb so, weil er nicht individuell denkt, sondern die Geschichte im Blick hat, die weiterhin solche Opfer produziert. Er bezieht sich dabei auf die Schrift. Das „Wie lange noch?“ ist Aufnahme entsprechender Fragen der Klagepsalmen. „Wie lange noch sollen Gewalttätige, Ewiger, wie lange noch sollen Gewalttätige triumphieren?!“ (Ps 94,3). Der Ruf „Wie lange noch?!“ ist ein Schrei nach der Wiederherstellung des Rechts. Gott soll als Richter handeln und den Ermordeten zu ihrem Recht verhelfen und die Mörder zur Rechenschaft ziehen. Darum geht es, nicht um „Rache“.
Ich nehme an, dass der schließlich gewählte Titel der Vortragsreihe dem möglichen Eindruck wehren wollte, als sollte die Schoa für irgendetwas verzweckt werden. Geht es um „die bleibende Bedeutung der Erinnerung an die Schoa“, dann ist danach zu fragen, warum wir – und heute Abend heißt das: wir als Christen – die Erinnerung an die Schoa wachhalten müssen und in diesem Zusammenhang ist gemäß der ursprünglichen Themaformulierung herauszustellen, was diese Erinnerung im christlichen Selbstverständnis bewirkt hat.
Die notwendige theologische Implikation des Erinnerns an die Schoa:
Die Unmöglichkeit, Gott ohne Israel zu denken
In einigem zeitlichen Abstand von der Schoa brach sich die Einsicht Bahn, dass es auch eine christliche Schuld an der Schoa gibt. Sie ist so tief, dass die oft gebrauchte Rede von der „christlichen Mitschuld“ mir als Verharmlosung erscheint. Die Schoa ist ja nicht als geheime Kommandosache von einer Handvoll Mördern durchgeführt worden, sondern in aller Offenheit durch die zunehmende Einschränkung jüdischen Lebens und durch das Fanal der Reichspogromnacht vorbereitet und durch einen massenhaft mit Personal bestückten Apparat systematisch durchgeführt worden – und das in und von einem Land, das seit Jahrhunderten christianisiert war. Das hätte nicht geschehen können, wenn in der Kirche nicht so über Juden gedacht und geredet worden wäre, wie es geschehen ist. Die tiefste Ursache dafür ist meiner Einsicht nach, dass sich die Kirche seit früher Zeit als das „wahre Israel“ verstand, sich so an die Stelle Israels setzte und damit notwendig das außerhalb der Kirche existierende Judentum zum „falschen Israel“ erklärte, das es eigentlich gar nicht mehr geben durfte. Weil es diejenigen betraf, denen so theologisch sehr grundsätzlich das Existenzrecht abgesprochen war, blieb der spätestens nach der Reichspogromnacht fällige christliche Protestschrei aus. Natürlich haben die allermeisten Christen es so an sich selbst nicht wahrgenommen. Aber dieser theologische Hintergrund hat über Jahrhunderte eine christliche Mentalität und Selbsteinschätzung geprägt, die die Ausschreitungen gegen die Juden und schließlich ihr Abtransportiertwerden teilnahmslos hinnehmen ließ.
Aus dem Erschrecken über diese christliche Schuld kam es in der Kirche zu einer neuen Wahrnahme des Judentums als des bleibend von Gott erwählten Volkes, zu einer Wahrnahme dieses Volkes als Israel, zur Einsicht, dass Gottes Bund mit Israel nicht gekündigt ist, sondern unverbrüchlich gilt. Das aber heißt dann für die spezifisch theologische Rede, dass Gott als Israels Gott wahrzunehmen ist.
Diese Einsicht ist der christlichen Kirche schon durch ihre Bibel vorgegeben. Sie hat sie sich verdeckt durch den Anspruch, selbst das „wahre Israel“ zu sein. Die Kirche hat in aller Selbstverständlichkeit an der jüdischen Bibel festgehalten, die sie als Altes Testament zum ersten Teil ihres Kanons machte. Ob das Alte Testament Teil des christlichen Kanons ist oder nicht, darüber ist in der Kirche nie abgestimmt worden, sondern diese Zugehörigkeit war selbstverständliche Voraussetzung. Wer das in Frage stellte, begab sich aus der Kirche hinaus. Damit war aber von vornherein über die in meinen Augen wichtigste theologische Frage entschieden, nämlich wer für die Kirche Gott ist: gewiss der Gott aller Welt, aber kein Allerweltsgott, sondern Israels Gott, dem es gefallen hat, mit diesem Volk eine besondere Bundesgeschichte zu haben. Wenn aber der biblisch bezeugte Gott – im Neuen Testament ist das nicht anders – Israels Gott ist, dann gibt es Gott nicht ohne seine Bundespartnerschaft mit diesem Volk. Die Bibel lehrt keinen abstrakten Monotheismus. Sie erzählt vielmehr von der Treue Gottes, der nur zusammen mit seinem Volk Gott ist und sein will – und deshalb auch nur zusammen mit ihm und nicht losgelöst von ihm gedacht werden kann und darf.
Nach Psalm 83,5 sprechen Israels Feinde: „Auf, lasst uns sie vertilgen, dass sie kein Volk mehr seien und sich des Namens Israels nicht mehr erinnert werde!“ Die jüdische Auslegung im Midrasch lässt diese Feinde weiter erwägen: „Wessen Gott wird er genannt? Nicht Gott Israels? Wenn wir Israel ausrotten, wird sich des Namens des Gottes Israels nicht mehr erinnert werden“.2 Würde das Volk Israel ausgelöscht, wäre Gott nicht mehr als Israels Gott erkennbar und könnte auch nicht weiterhin als „Gott Israels“ angerufen werden.
Als Christ kann ich von Gott nur reden, indem ich zugleich von Jesus rede, durch den meine Vorfahren – und ich mit ihnen – im heiligen Geist zu dem einen Gott gekommen sind. Aber ich darf nicht von ihm reden und dabei Israel verschweigen. Wenn ich denn die Formulierung Emil Fackenheims von der „gebietenden Stimme von Auschwitz“ für mich als Christen aufnehmen darf, dann gebietet sie mir eben das, dass ich von Gott nicht mehr reden darf unter Absehen von seiner unverbrüchlichen Bundespartnerschaft mit Israel, dass ich christlich nur noch von Gott reden darf im gleichzeitigen Hören auf jüdisches Zeugnis.
Dass Gott, der Schöpfer und als solcher auch der Gott aller Welt, nach dem biblischen Zeugnis dezidiert Israels Gott ist – es wäre gut, wenn diese Einsicht Eingang in dogmatische Lehrbücher fände. Aber was kann einen Lehrsatz davor schützen, zu einem bloß zu lernenden und gelernten und also leeren Satz zu werden, ohne Wirkung und damit unwirklich? Vielleicht, wenn das Lernen sich mit dem Erinnern verbündet.
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„Wer gedenken will und sich erinnern kann, der braucht aus der Geschichte nicht zu lernen“
Die Überschrift dieses Abschnittes ist ein Aphorismus von Elazar Benyoëtz3. Er hat diesem Satz noch den anderen vorangestellt: „Geschichte nimmt ihren Anfang in der Erinnerung.“ Und in der Erinnerung kommt sie auch zur Wirkung. Das ist anders als beim „Lernen aus der Geschichte“ – wenn es das denn überhaupt gibt und nicht eine bloße „Moral von der Geschichte“ abgezogen, „abstrahiert“ wird, die dann auch „abstrakt“ bleibt. Vielleicht die eindrücklichste Formulierung für das Erinnern bietet der auf Pessach bezogene Satz, der sich schon in der Mischna findet4: „Generation um Generation, in jeder, ist eine Person verpflichtet, sich selbst so anzusehen, als wäre sie aus Ägypten ausgezogen.“ Das wird begründet mit Ex 13,8: „Dessentwegen, was der Ewige für mich getan hat, als ich aus Ägypten auszog.“ Die Mischna fährt fort: „Daher sind wir verpflichtet zu danken, zu loben, zu preisen, zu verherrlichen, zu erhöhen, zu ehren, zu segnen, zu erheben und zu rühmen den, der unseren Vorfahren und uns alle diese Wunder getan hat, der uns herausführt aus Sklaverei zur Freiheit, aus Kummer zur Freude, aus Trauer zum Fest, aus Finsternis zu hellem Licht, aus Unterjochung zur Befreiung.“ Sich selbst so ansehen, als ob man dabei gewesen wäre: Dieses „Als ob“ und mit ihm die Erzählung vom Auszug aus Ägypten haben ihre Wahrheit und Wirklichkeit nicht auf dem Feld historischer Rekonstruktion oder Dekonstruktion. Was immer historisch geschehen oder auch nicht geschehen sein mag, die Erzählung hat ihre Wahrheit und Wirklichkeit im Erzählen und in dem, was das Erzählen bewirkt. Es hat die Identität einer Gemeinschaft gestiftet und stiftet sie innerhalb ihrer immer wieder aufs Neue. Das in der Erzählung als wunderbare Rettung Gesagte und Gehörte führt zum Lob Gottes, das aus der Erinnerung an die Vergangenheit in die Gegenwart übergeht, wo eben das von Gott her erhofft und doch immer auch schon – und sei es noch so fragmentarisch – erfahren wird, was erinnert wurde: der Weg aus Sklaverei zur Freiheit.
Bei der Erinnerung an Pessach wird eine Rettung erinnert. Davon kann beim Erinnern an die Schoa keine Rede sein, im Gegenteil. Wie kann an ein derart katastrophales Geschehen erinnert werden? In der Tora gibt es einen Textabschnitt, der von solcher Erinnerung spricht und der bei der synagogalen Lesung der Parascha KiTezee den hervorgehobenen Schlussteil, den Maftir, bildet. In Dtn 25,17-19 heißt es: „Erinnere dich daran, was dir Amalek unterwegs getan hat, als ihr aus Ägypten ausgezogen wart: Dass er unterwegs auf dich traf und deine Nachhut vernichtete, all die Nachzügler hinter dir – und du warst matt und müde –; und er fürchtete Gott nicht. Es soll sein: Wenn der Ewige, dein Gott, dir Ruhe verschafft hat vor allen deinen Feinden ringsum im Land, das der Ewige, dein Gott, dir zum Eigentum gibt, es zu erben, dann sollst du die Erinnerung an Amalek auslöschen unter dem Himmel! Nicht sollst du vergessen.“ In den 90er Jahren habe ich zusammen mit Edna Brocke ein Seminar mit Texten zum Krieg gehalten, das mit diesem Abschnitt begann. Nachdem der hebräische Text übersetzt worden war, kam sofort als erste Reaktion von einem Studenten: „Schrecklich! Das ist ja Aufforderung zum Völkermord.“ Wir haben uns dann den Text genauer angesehen. Was steht eigentlich da? Von Amalek ist die Rede. Das ist der Name eines Volkes, das die Israeliten auf ihrer langen und mühsamen Wüstenwanderung bekriegte, als sie aus Ägypten ausgezogen waren und das verheißene Land noch nicht erreicht hatten. Aber wie sah dieser Krieg aus? Was hat Amalek getan? Als die Israeliten müde und matt waren, haben die Amalekiter die Nachzügler überfallen, die Schwächeren, die Mühe hatten mitzukommen und hinterher hinkten. Wehrlose Menschen wurden umgebracht – einfach so. Das ist es, was Amalek getan hat. Das ist es, was im ersten Teil des Textes festgestellt wird.
Daran anschließend heißt es: „Es soll sein: Wenn der Ewige, dein Gott, dir Ruhe verschafft hat vor allen deinen Feinden ringsum im Land, das der Ewige, dein Gott, dir zum Eigentum gibt, es zu erben, dann sollst du die Erinnerung an Amalek auslöschen unter dem Himmel.“ Was soll ausgelöscht werden? Die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel. Also bei den Menschen, bei Gott kann sie nicht ausgelöscht werden. Wie aber soll man das verstehen, dass die Erinnerung ausgelöscht werde, wo doch am Anfang gerade dazu aufgefordert worden war, sich zu erinnern und gleich anschließend ganz am Schluss gesagt wird, nicht zu vergessen? Vielleicht so: Wer in der Erinnerung ausgelöscht ist, hat keinen Namen mehr. Wer keinen Namen hat, ist so, als gäbe es ihn gar nicht. Einen Amalek, der wehrlose Menschen umbringt – einfach so umbringt –, soll es nicht mehr geben. Er soll nicht im Buch des Lebens geschrieben sein. Ach, wäre es doch so, als hätte es ihn nie gegeben! Aber es hat ihn gegeben. Und deshalb gibt es die doppelte Aufforderung, die am Anfang und Ende des Textes steht, die ihn gleichsam einrahmt: „Erinnere dich daran, was dir Amalek unterwegs getan hat!“ Und: „Du sollst nicht vergessen!“ Daran hält sich Israel bis heute.
Amalek gibt es schon längst nicht mehr. Es gab dieses Volk auch schon lange nicht mehr, als der Deuteronomiumstext geschrieben wurde. Dennoch wird er immer wieder gelesen. In der vorher erwähnten Seminarsitzung sagte Edna Brocke, dass in der Geschichte Israels und des Judentums bis heute vor allem zwei weitere Mächte als „Amalek“ benannt worden sind. Einmal wurde Amalek wiedererkannt in den Römern, im römischen Imperium. Die römische Besatzungsmacht des Landes Israel hat zweimal, 66-70 und 132-135, jüdische Befreiungsversuche mit äußerster Härte und Brutalität niedergeschlagen. Sie hat im Jahre 70 Jerusalem völlig zerstört und den Tempel niedergebrannt und nur die Westmauer des Tempelberges stehen gelassen. Auch daran denkt Israel bis heute und vergisst es nicht. Jedes Jahr wird der 9. Tag im Monat Av als Trauer- und Fasttag begangen. An ihm erinnert man sich an die Zerstörung des ersten Tempels durch die Babylonier und an die Zerstörung des zweiten Tempels durch die Römer, der dann nicht wieder aufgebaut wurde. Das römische Imperium gibt es nicht mehr – und ein solches Reich soll es auch nicht geben. „Du sollst die Erinnerung an es auslöschen unter dem Himmel!“ Und doch gibt es immer wieder Imperien. Aber auch sie zerfallen irgendwann. Den völlig unerwarteten Zerfall eines Imperiums haben wir vor zwanzig Jahren erlebt. Seine Auswirkungen sind sicherlich noch in mancherlei Weise zu spüren, aber seinen Namen gibt es schon nicht mehr.
Noch einmal, nach den Römern, viel später, ist eine andere Macht mit dem Namen „Amalek“ belegt worden. Und das geht uns nun an. Ich lese jetzt den Deuteronomiumstext – mit nur kleinen Änderungen – noch einmal vor und füge dabei den Namen des letzten „Amalek“ ein: „Erinnere dich daran, was Nazideutschland dir getan hat, als ihr in der Zerstreuung lebtet in Europa: Dass es alle Länder nach euch durchkämmte, euch erschlug, erschoss, erhängte, vergaste und verbrannte, Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge, Kranke und Gesunde – und ihr wart schwach und wehrlos –; und es fürchtete Gott nicht. Es soll sein: Wenn der Ewige, dein Gott, dir Ruhe verschafft hat vor allen deinen Feinden ringsum im Land, das der Ewige, dein Gott, dir zum Eigentum gibt, es zu erben, dann sollst du die Erinnerung an Nazideutschland auslöschen unter dem Himmel! Nicht sollst du vergessen!“ Als ich damals in unserer Seminarsitzung hörte, dass Nazideutschland „Amalek“ ist, ging mir das unter die Haut. Da wittert man in einem alttestamentlichen Text einen Aufruf zum Völkermord – und hat vergessen, dass das eigene Volk vor noch gar nicht so langer Zeit einen grauenhaften Völkermord begangen hat, und merkt so gar nicht, dass man selbst an ganz anderer Stelle in diesem Text vorkommt: als „Amalek“!
„Erinnere dich daran!“ „Nicht sollst du vergessen!“ Auch daran erinnert man sich in Israel. Es gibt den Gedenktag an die Schoa in jedem Jahr. Es gibt in Jerusalem die große Gedenkstätte JadVaSchem. Erinnern heißt hier auch und vor allem, die Opfer nicht zu vergessen, die Namen derer festzuhalten, die einfach ausgelöscht wurden. Ihre Namen sollen bleiben. Sie sind dort aufgeschrieben und in der mir besonders eindrücklichen Gedenkstätte für die ermordeten Kinder werden sie auf einem Endlostonband genannt. So viele Namen. Und über sie hinaus noch so viele Opfer, deren Namen man nicht mehr kennt. In einem Midrasch des Deuteronomiumstextes heißt es: „Die Israeliten sprachen vor dem Heiligen, gesegnet er: Herr der Welt, du sagst uns: ‚Erinnere dich!‘ Erinnere Du Dich doch! Denn bei uns gibt es ja so oft Vergessen. Aber vor Dir gibt es kein Vergessen“.5 Ja, mögen ihre Namen im Buch des Lebens geschrieben sein!
Dieser zweite Amalek betrifft mich als Deutschen und auch mich als Christen – gemäß dem, was ich vorher als christliche Schuld benannt habe. Ich kann mich da nicht herausziehen, auch wenn ich daran nicht direkt beteiligt war, weil ich bei Kriegsende erst drei Jahre alt wurde. Ich bin damit verquickt in der Kette der Generationen. Ich will das für mich sehr konkret benennen. Zusammen mit meiner Mutter war ich die ersten drei Lebensjahre im Haus meiner Großeltern; von ihnen habe ich auch über diese Zeit hinaus viel Zuwendung erfahren und ich habe sie geliebt – und doch war mein Großvater es, der in meinem Heimatdorf schon 1923 die NSDAP mit gegründet hat. Meine Mutter ist von diesem Elternhaus, und überhaupt den zwölf Jahren NS-Zeit, stark geprägt worden und manches davon hat sie nur sehr spät und vielleicht auch gar nicht überwunden – und doch war sie es, die mich zu beten lehrte.
Wir sind „Amaleks“ Kinder. Kann es ein Sich-Erinnern Amaleks geben? Wenn das kein Sich-Brüsten mit Untaten sein soll, bedarf es der Umkehr. Kann Amalek umkehren? Von Rabbi Meïr heißt es in einer Erzählung im Talmud, dass frevelhafte Menschen in der Nachbarschaft ihn sehr belästigten. Er betete, dass sie stürben. Daraufhin wird er von seiner Frau Brurja getadelt. Sie nimmt an, er stütze sich auf den Vers Ps 104,35, den er so lese: „Verschwinden mögen Sünder von der Erde, dann wird es Frevler nicht mehr geben.“ Sie jedoch liest diesen Satz mit anderer Vokalisation so: „Verschwinden mögen Sünden von der Erde, dann wird es Frevler nicht mehr geben.“ So fordert sie ihn auf, für die Umkehr der Frevler zu beten. Er tut es und es geschieht.6
Die Erinnerung „Amaleks“ in der Umkehr müsste dann eine sein, die die Schuld und den Schmerz darüber wach hält – und nicht eine Erinnerung als Protokollnotiz einer immer abständiger werdenden vergangenen Geschichte. Ich will versuchen, das an persönlichen Erfahrungen zu verdeutlichen. Mein Vater hatte in seinen letzten Lebensjahren drei Aktenordner angelegt: „Mein Lebensweg, dokumentiert“. Nach seinem Tod nahm ich sie an mich. Beim Blättern in den Dokumenten aus der ersten Jahreshälfte 1933 überkam mich an einer Stelle ein solcher Schrecken, dass ich zunächst nicht in der Lage war, mir die Akte weiter anzusehen. Nicht erschrocken war ich darüber, dass er am 1. Mai 1933 in die NSDAP und die SA eingetreten war. Dass er Parteigenosse gewesen war, wusste ich ja schon. Dafür hatte ich ihn als Jugendlicher vehement zur Rede gestellt, war wütend geworden über all die vorgebrachte Apologetik und hatte ihn auch ein Stück weit verachtet. Was mich zutiefst erschrecken ließ, war vielmehr auf einem dieser Dokumente ein Bild meines Vaters, in dem ich mich selbst erkannte. Es hätte eine Fotografie von mir in diesem Alter sein können. Die ganze jugendliche Selbstsicherheit, mit der ich meinem Vater einst entgegengetreten war, fiel in sich zusammen und machte der Einsicht Elijas Platz: „Ich bin auch nicht besser als meine Väter.“ Was heißt das für das Sich-Erinnern von „Amaleks“ Kindern? In der Form des jüdischen Erinnerns an Pessach nehme ich das für mich so auf, dass ich verpflichtet bin, mich selbst so anzusehen, als wäre ich unter den Mördern gewesen.
BÜCHER von Klaus Wengst
Wo hat dieses Sich-Erinnern seinen Platz? Im Judentum hat das Sich-Erinnern als gemeinschaftlich vollzogenes Gedenken feste Plätze im Kalender: das Gedenken an Pessach, das Gedenken an die Tempelzerstörung, das Gedenken an die Schoa. Bei uns hat sich an vielen Orten in den letzten dreißig Jahren der 9. November als Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938 als ein solcher Platz im Kalender herausgebildet. Er ist auch nicht vom 9. November 1989 verdrängt worden. Zwar ist er in diesem Jahr bei der 20-Jahr-Feier zum Mauerfall in der gesamtdeutschen medialen Öffentlichkeit ins Hintertreffen geraten, aber nicht je vor Ort, wo es die Gedenkveranstaltungen zum 9. November 1938 genauso gab wie in den Jahren davor. Noch keine wirkliche Form hat meiner Beobachtung nach der 27. Januar als Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz gefunden. Es wäre eine Aufgabe für Christen, Gemeinden und Kirchen, zusammen mit anderen nach möglichen Vollzügen des Gedenkens an diesem Tag zu suchen und sie zu erproben.
Bei diesem Gedenken wird es darauf ankommen, von „den Nazis“ nicht so zu reden, als wären sie eine kleine Gruppe von Bösewichtern gewesen, mit denen wir nichts zu tun haben. Die Nazis – das waren viele, sehr viele „brave“ Deutsche und Christen. Was „Amalek“ tat, ist nicht ein für allemal überwunden. Es wird nur dann überwunden bleiben, wenn es so erinnert wird, dass die Schuld und der Schmerz darüber wach gehalten werden, wenn das Gedenken in einer Haltung der Umkehr geschieht – einer Umkehr, die uns partnerschaftlich an die Seite des Judentums stellt. Nur eine solche Erinnerung hält auch bleibend die Erkenntnis Gottes als Israels Gott fest. Gott nach der Schoa unmöglich ohne Israel denken zu können, heißt für Christen und die Kirchen aber auch, solidarisch an die Seite Israels gestellt zu sein – und das schließt den Staat Israel ein. Ihm gegenüber sehe ich mich nicht in einer Position neutralen Abwägens, sondern in einer unbedingt verpflichtenden und ganz und gar parteilichen Solidarität – solange jedenfalls mächtige Staaten der Region und von ihnen ausgehaltene und ausgerüstete militante Verbände die Existenz des Staates Israel mit dem Ziel seiner Vernichtung in Frage stellen. Aus dem Erschrecken über die Verheerungen des zweiten Weltkriegs und über den Massenmord an den jüdischen Männern, Frauen und Kindern Europas durch Deutschland entstand die Doppelparole: „Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz!“ Sie kann in ihren beiden Teilen nicht gleichgewichtig aufrechterhalten werden. Wenn man die erste Parole absolut setzt, kann es geschehen, dass etwas von dem, wenn nicht alles, was die zweite Parole verneint, sich doch wieder ereignet. Wer wirklich will, dass es „nie wieder Auschwitz“ gibt, kann und darf nicht reflexartig mit Friedensdemonstrationen gegen Israel reagieren, wenn es gezwungen ist, sich um der Erhaltung seiner immer noch in Frage gestellten Existenz willen mit militärischer Gewalt zu wehren.
Das theologische Festhalten an der Besonderheit Israels als des Volkes Gottes wehrt einem differenzlosen Universalismus und weist zugleich auf die Würde jedes einzelnen Menschen. Deshalb noch ein letzter kurzer Punkt.
Die universale Bedeutung des partikular Besonderen
Die Erkenntnis Gottes als des Gottes Israels und der bleibenden Besonderheit Israels als des von Gott erwählten Volkes ist ein starker Widerhaken gegen jede Auflösung Israels ins Universale. Das wehrt der Abstraktion, auch ethisch, indem – statt von allgemeiner Menschenliebe zu reden – der einzelne Mitmensch in den Blick zu nehmen ist.
In einer rabbinischen Diskussion, was eine große Zusammenfassung in der Tora sein könnte, zitiert Ben Asaj aus Gen 5,1: „Das ist das Buch der Generationen des Menschen.“ Rabbi Akiva hält demgegenüber Lev 19,18 für eine größere Zusammenfassung in der Tora: „Und du sollst deinen Nächsten lieben dir gleich“ und begründet das so: „Damit du nicht sagst: ‚Weil ich verachtet werde, soll auch mein Mitmensch verachtet werden.‘“ Darauf sagt Rabbi Tanchuma: „Wenn du so handelst, dann wisse, wen du verachtest“ und zitiert dafür einen weiteren Satz aus Gen 5,1: „Im Abbild Gottes machte er ihn“, den Menschen nämlich. Das heißt, Gen 5,1 ist doch die größere Zusammenfassung in der Tora.7 Die Frage, wer mein Nächster sei, kann sich hier gar nicht stellen. Niemand ist ausgeschlossen, der oder die Menschenantlitz trägt. Diese Intention zeigt sich auch im Aufbau der jüdischen Bibel und ihrer rabbinischen Auslegung. Der besonderen Geschichte Israels von Abraham an steht die Geschichte des Menschen, stehen „die Generationen des Menschen“ voran. Darauf bezog sich schon der gerade angeführte Midrasch. Der erste geschaffene Mensch ist nach der jüdischen und dann auch der christlich rezipierten Bibel nicht der erste Israelit, sondern er tritt in die Geschichte als nichts sonst als ein Mensch, und zwar als männlich und weiblich. Weshalb am Anfang „ein einzelner Mensch erschaffen wurde“ und nicht eine Mehrzahl von Menschen, wird in der Mischna u.a. so beantwortet: „Um des Friedens der Geschöpfe willen, damit nicht ein Mensch zu seinem Mitmenschen sage: ‚Mein Vater ist größer als dein Vater‘“.8 Das heißt nicht, dass es um einen differenzlosen Universalismus ginge; die weitere Erzählung der Bibel kennt vielfältige Differenzierungen. Aber in aller Differenzierung wird an der Würde jedes einzelnen Menschen festgehalten, eines Menschen, der Abbild Gottes ist. Die unvorstellbare Menge von Menschen, die Amalek gemordet hat, waren jede und jeder für sich Abbild Gottes. Von daher wird die in der Kirchengeschichte aufgekommene und gebrauchte Rede von den Juden als „Gottesmördern“ noch einmal anders verkehrt.
ANMERKUNGEN
* Vortrag, gehalten am 25. November 2009 in Mainz, Haus am Dom, im Rahmen der Reihe: „Die bleibende Bedeutung der Erinnerung an die Schoa“.
1 Sicher kann dieses Geschehen „vorgestellt“, es kann sogar – etwa bei einer Besichtigung von Auschwitz und Birkenau – sehr präzis beschrieben werden. Aber das Unvorstellbare bleibt gerade, dass es tatsächlich ausgeführt wurde.
2 Midrasch Tehillim 74,3.
3 Elazar Benyoëtz, Scheinheilig. Variationen über ein verlorenes Thema, Wien 2009, 19.
4 Mischna Pessachim 10,5.
5 Midrasch Tanchuma (Buber), KiTezee 11 (20b) und Parallelen.
6 Babylonischer Talmud, Brachot 10a.
7 Breschit rabba 24,7.
8 Mischna Sanhedrin 4,5.
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Der Autor
Prof. Dr., geboren 1942 in Remsfeld (Bezirk Kassel); 1961-1967 Studium der evangelischen Theologie in Bethel, Tübingen, Heidelberg und Bonn; 1967 Promotion in Bonn; 1970 Habilitation in Bonn; seit 1981 Professor in Bochum;
infolge der Studentenbewegung und daraus resultierender politischer Betätigung sozialgeschichtlich orientierte Exegese; seit Ende der 80er Jahre Begegnung mit dem Judentum, 1991 Studienaufenthalt an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag; Mitglied des Evangelischen Studienkreises Kirche und Israel in Rheinland und Westfalen; Mitglied des Ausschusses Christen und Juden der Evangelischen Kirche von Westfalen.