Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 130

November 2010

Das vorliegende ONLINE-EXTRA ist in zweifacher Hinsicht ungewöhnlich: Zum einen handelt es sich um eine Rezension für ein englischsprachiges Buch, zum anderen und viel wichtiger: Buch und Rezension behandeln eine Thematik, die ebenso außergewöhnlich wie weitgehend unbekannt ist: Es geht um die zionistische Zeitschrift "Nitzotz", die in Ghetto und Konzentrationslager unter unsäglichen Bedingungen vom ungebrochenen Widerstandsgeist einiger weniger Holocaust-Überlebender zeugt.

Dank der Rezension von Julia Brauch erhalten somit auch jene Leser und Leserinnen, die nicht nach dem von ihr vorgestellten englischsprachigen Buch von Laura Weinrib greifen, zumindest eine Grundkenntnis von der vermutlich einzigen Publikation im Umfeld der Todeslager, "die sich in dieser radikalen Weise mit der jüdischen Zukunft beschäftigte, und damit das Leben über den Tod stellte" (Brauch).

Erwähnt sei schließlich, dass der letzte Chefredakteur von "Nitzotz", der in Berlin geborene Shlomo Frenkel (heute: Shafir) nach dem Krieg zu einem angesehenen Journalist und Historiker wurde, der sich u.a. besonders intensiv mit dem Verhältnis der deutschen Sozialdemokratie zu Juden und Israel beschäftigte. In diesem Umfeld entstand auch sein Essay "Helmut Schmidt: Seine Beziehungen zu Israel und den Juden", der als ONLINE-EXTRA Nr. 91 ebenfalls im COMPASS erschien.

COMPASS dankt der Autorin für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe ihrer Buchvorstellung an dieser Stelle!

© 2010 Copyright bei der Autorin 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 130


Eine zionistische Zeitschrift im KZ –
„Nitzotz“ und der Widerstand des Schreibens


JULIA BRAUCH


„Wir sind die Helden! Der Knechtschaft letztes Geschlecht, das erste Geschlecht der Befreiung!“ Diese Zeile aus einem Gedicht von Haim N. Bialik wurde von den Autoren der zionistischen Untergrundzeitschrift „Nitzotz“ im letzten Jahr der Gefangenschaft in Dachau-Kaufering nicht nur ein Mal zitiert: Dem täglichen Leid und dem Tod trotzten sie mit dem Glauben an die Befreiung und an ein neues Leben in Eretz Israel.

Die Zeitschrift „Nitzotz“ (der „Funke“) wurde im im sowjetbesetzten Kovno (Kaunas) 1940 gegründet und erschien danach im Ghetto und nach dessen Auflösung ab September 1944 im KZ Dachau-Kaufering – bis zur Befreiung, und darüber hinaus. Herausgeber und Autoren von „Nitzotz“ verkörperten eine Haltung des Widerstandes, die nicht in physischer Aktion ihren Ausdruck fand, sondern in der intellektuell-politischen Arbeit an der Zukunft des jüdischen Volkes, das auch nach der Aulöschung eines großen Teils des europäischen Judentums im jüdischen Staat in Eretz Israel sein Schicksal selbst bestimmen sollte.

In der historischen Forschungsliteratur hat sich bislang nur Dov Levin in „Beyn Nitzotz le-Shalhevet“ (1987) und Ze’ev W. Mankowitz in „Life Between Memory and Hope“ (2002) des Themas etwas ausführlicher angenommen; in vielen Nachschlagewerken (wie z.B. der überarbeiteten zweiten Auflage der Encyclopedia Judaica von 2006) sucht man aber vergeblich nach dieser zionistischen Zeitschrift, die in der Untergrundliteratur des Holocaust ohne Beispiel sein dürfte.

Es ist Laura M. Weinrib, der Enkelin von Shlomo Frenkel (Shafir), dem letzten Chefredakteur von „Nitzotz“, zu danken, dass die Zeitschrift nun erstmals umfassend in ihrem geschichtlichen Kontext vorgestellt wird – zusammen mit einer englischen Übersetzung der letzten fünf „Nitzotz“-Ausgaben, die noch in Kaufering erschienen sind. Die anderen Exemplare der insgesamt 42 Ausgaben müssen als verschollen gelten oder wurden vernichtet. Das vorliegende schmale Buch ist nicht nur eine Hommage an den Großvater, sondern vor allem eine wissenschaftliche Arbeit, die von dem persönlichen Verhältnis der Autorin zu dem damaligen Protagonisten und späteren Historiker profitiert und gerade dadurch einen weiteren Blick auf das Thema eröffnet.

Shlomo Frenkel war von Anfang an in der Untergrundbewegung Irgun Brith Zion (IBZ) aktiv, in der sich vor allem junge Zionisten politisch und kulturell engagierten. Die meisten Mitglieder vertraten einen gemäßigten sozialistischen Kurs, aber auch religiöse Anhänger von Bnei Akiva und einzelne eher rechtsnationale Revisionisten sammelten sich in der IBZ. Was säkulare wie religiöse Mitglieder einte, war das Ziel, eine Zukunft in Eretz Israel vorzubereiten – und das Bewusstsein, in der Kontinuität jüdischer Geschichte zu leben. Innerhalb der zionistischen Bewegung war diese gelebte Einheit verschiedener Fraktionen schon für die Zeitgenossen bemerkenswert, ja „einzigartig“ wie Shlomo Frenkel in „Nitzotz“ (Nr. 3, 1944) schrieb.



NITZOTZ


Nitzotz
The Spark of Resistance in Kovno Ghetto and Dachau-Kaufering Concentration Camp
 
Edited and with an Introduction by Laura Weinrib

Translated by Estee Weinrib



Syracuse University Press 2009
Euro 30,99
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Under the brutal conditions of the Dachau-Kaufering concentration camp, a handful of young Jews resolved to resist their Nazi oppressors. Their weapons were their words. Beginning with the Soviet occuption of Kovno, the members of Irgun Brith Zion circulated an underground journal, Nitzotz (Spark), in which they debated Zionist politics and laid plans for postwar settlement in Palestine. When the Kovno ghetto was destroyed, several contributors to Nitzotz were deported to the camps of Dachau. Against all odds, they did not lay down their pens. Nitzotz is the only known Hebrew-language publication to have appeared consistently throughout the Nazi occupation anywhere in Europe. Its authors believed that their intellectual defiance would insulate them against the dehumanizing cruelty of the concentration camp and equip them to lead the postwar effort for the physical and spiritual regeneration of European Jewry. Laura Weinrib presents this remarkable document to English readers for the first time. Along with a translation of the five remaining Dachau-Kaufering issues, the book includes an extensive critical introduction. Nitzotz is a testament to the resilience of those struggling for survival.

Author
Laura Weinrib is a Samuel I. Golieb Fellow in legal history at New York University School of Law. Her grandfather Shlomo Frenkel Shafir was the editor of Nitzotz during the Dachau-Kaufering years and after liberation.



Der Zyklus des jüdischen Festjahres und die damit einhergehende Interpretation der jüdischen Erfahrung stellte den Bezugsrahmen dar, auf den sich alle beziehen konnten. In der Ausgabe zu Pessach von 1945 beschrieb etwa Chaim Alexandrovitz (unter dem Pseudonym „Chet-Tzadik“), wie dieses „Fest der Freiheit“ den zionistischen Durchhaltewillen gestärkt habe: „Along with the holiday, spring returns. Nature dons a green coat and comes back to life, and so do we. We Zionists have always loved this holiday above all others, because it has stirred us and bolstered our will to continue fighting and to reconquer the land from which we were exiled.“ (Weinrib, 130). [Mit den Feiertagen kehrt auch der Frühling zurück. Die Natur zieht einen grünen Mantel an und kehrt ins Leben zurück – und so halten wir es auch. Wir Zionisten haben dieses Fest schon immer mehr als alle anderen geliebt, denn es hat uns bewegt und unseren Willen gestärkt, den Kampf fortzusetzen und das Land zurück zu erobern, aus dem wir ins Exil vertrieben wurden.]*

In der dritten Ausgabe von 1944 (Nr. 38) stellt Shlomo Frenkel anlässlich des Chanukka-Festes die Erfahrung der Vernichtung durch Hitler in den größeren Zusammenhang von Judenverfolgung, jüdischem Durchhaltevermögen und Widerstand:


„There is no difference between Antiochus Epiphanes and Adolf Hitler. Antisemitism may have reached new heights with the Nazi movement and the physical extermination of 6 to 7 million European Jews, but it must be traced to the period in which Judah the maccabee waged war on the Hellenic invaders and their worldview. Two thousand years ago, a few rebels were able to withstand an enemy seven times their size. Today, too, we have faith in the recovery of the She’erit Hapletah and its moral and spirtual valor!“ (Weinrib, 87f.)
[Zwischen Antiochus Epiphanes und Adolf Hitler gibt es keinen Unterschied. Der Antisemitismus mag mit der physischen Vernichtung von 6 bis 7 Millionen europäischer Juden einen neuen Höhepunkt erreicht haben, aber er muß bis in die Zeit, in der Judas Makkabäus den Krieg gegen die hellenistischen Eroberer wagte und zu deren Weltanschauung zurück verfolgt werden. Vor zweitausend Jahren waren einige wenige Rebellen imstande einem Feind zu widerstehen, der sieben mal stärker war. Auch heute haben wir Vertrauen in die Wiederaufrichtung der She'erit Hapletah (Rest der Geretteten) und ihrer moralischen und spirituellen Tapferkeit.]*


Im sowjetischen Litauen erschienen die ersten Ausgaben von „Nitzotz“ in einer Auflage bis zu hundert Exemplaren. Zunächst wurden sie mit einem Matrizendrucker, später dann mit Durchschlagpapier vervielfältigt. Vor der sowjetischen und später deutschen Besatzung war Kovno De-facto-Hauptstadt des unabhängigen Litauens, dessen eigentliche Kapitale Wilna zwischenzeitlich unter polnische Herrschaft geraten war. Hier blühte jüdisches Leben – 1938 waren 200 jüdische Organisationen registriert, knapp 30 Prozent aller litauischen Institutionen (Weinrib, S. 20). Die zionistischen Aktivitäten, die im Ghetto teils geheim, teils geduldet stattfanden, standen in dieser Tradition. In der Zeit des Ghettos wurden 28 Ausgaben von „Nitzotz“ publiziert, damals noch unter der Herausgeberschaft von Chaim Tiktin, Shraga Aharonowitz und Yitzhak Katz.

Nach dem Ende des Ghettos kamen im Juli 1944 die Irgun Brith Zion-Mitglieder nach Stutthof, wo Männer von Frauen und Kindern getrennt und die Männer weiter nach Dachau-Kaufering geschickt wurden, einem Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Schon im September regte Abraham Melamed, einer der Älteren unter den IBZ-Mitgliedern an, dass Shlomo Frenkel die Herausgabe von „Nitzotz“ fortführen sollte. Er war es, der von nun an das Erscheinen der Zeitschrift sicherstellte, Artikel aus dem Deutschen und Jiddischen übersetzte und unter diversen Pseudonymen viele Artikel selber verfasste.




Letzte Ausgabe von Nitzotz, die im Lager Dachau-Kaufering im April 1945 erschien.



In erstaunlicher Kontinuität beschäftigten sich die Artikel weiterhin mit der jüdischen Zukunft: Nicht die unerträglichen Lebensbedingungen, Krankheit und Tod beschäftigten die Autoren in Kaufering, sondern Fragen wie: Was würde aus den Überlebenden des Völkermords, der She’erit Hapletah, werden? Würde es überhaupt noch genügend Juden geben, um einen jüdischen Staat zu gründen? Oder wäre man angesichts des ungeheuren Verlusts an Menschen auf die „kleine“ Lösung von Ahad Ha’am zurückgeworfen, nur ein kulturelles Zentrum in Eretz Israel zu schaffen? Selbst Shlomo Frenkel zweifelte zwischenzeitlich, ob die Voraussetzungen für eine Masseneinwanderung noch gegeben wären:


„We can no longer discuss a mass aliyah, because there are no longer Jewish masses ready to leave. (…) Zionism has now reverted to the stragic situation it faced at its inception: Zionism without Jews. (…) The Jewish question has already been solved by Adolf Hitler. Undoubtedly he succeeded and achieved his goal. Though he did not completely obliterate world Jewry, he reduced the size of the nation to such an extent that we question whether it will ever recover its strength of ancient times. (…) Instead of saving Jews – the raison d’être of political Zionism – our task today is saving Jewry. We are forced to return to Ahad Ha’am. In lieu of massive population transfer, it is necessary to save the refugees in Eretz Israel in order to secure and perpetuate the existence of the Jewish nation.“ (Nitzotz, Issue 3, 38, Chanukah 1944, Weinrib, 94f.)
[Wir können nicht mehr länger von einer Aliyah ("Aufstieg" nach Israel) der Massen sprechen, denn es gibt keine jüdischen Massen mehr, die bereit wären, los zu ziehen. (…) Der Zionismus ist in jene strategische Lage zurück gefallen, mit der er bei seiner Gründung konfrontiert war: Ein Zionismus ohne Juden. (…) Die jüdische Frage ist von Adolf Hitler gelöst worden. Zweifellos hat er gewonnen und sein Ziel erreicht. Auch wenn er das Weltjudentum nicht gänzlich ausgelöscht hat, so reduzierte er doch die Größe der Nation in einem Ausmaß, dass wir uns fragen, ob es jemals zu alter Stärke zurückfinden wird. (…) Anstatt Juden zu retten – die raison d’être des politischen Zionismus – besteht unsere Aufgabe darin, die Judenheit zu retten. Wir sind gezwungen, zu Achad Ha'am zurückzukehren. Statt eines massiven Bevölkerungstransfers ist es notwendig, die Flüchtlinge für Eretz Israel zu retten, um die Existenz einer jüdischen Nation sicherzustellen und aufrecht zu erhalten."]*


Aber so groß die Zweifel auch waren, fast alle, die Artikel zu „Nitzotz“ beitrugen, waren überzeugt, dass sich nach der Befreiung eine vollkommen neue politische Konstellation ergeben würde, die sie – als Teil der zionistischen Avantgarde – mitprägen würden. Ihre Arbeit für „Nitzotz“ war nicht nur geistiger Widerstand als Selbstzweck, sondern die konkrete politische Vorbereitung dieser Zukunft. Ihre Arbeit sollte sie entsprechend nicht zuletzt auch für spätere Führungsaufgaben moralisch und intellektuell qualifizieren. Und so kam es dann auch: Samuel Gringauz und Zalman Grinberg wurden aktive Führer der She’erit Hapletah, und Shlomo Frenkel wurde Generalsekretär der zionistischen Bewegung in Deutschland. Kurzum: Der alte Kreis um „Nitzotz“ spielte eine entscheidende Rolle bei der Reorganisation der zionistischen Kräfte unter den Überlebenden in Bayern.

Aus dem unmittelbaren Umfeld der Todesstätten des Holocaust dürfte „Nitzotz“ die einzige Publikation sein, die sich in dieser radikalen Weise mit der jüdischen Zukunft beschäftigte - und damit das Leben über den Tod stellte. Es ist das Ausblenden von physischen Qualen und Demütigung, die unbeirrbare, vielleicht auch paradoxe Fokussierung auf politische und ideologische Fragen, die „Nitzotz“ zu einer einmaligen Quelle machen. Der viel zitierte Satz Jean Amérys aus „Jenseits von Schuld und Sühne“ (1966): „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt, auch dann, wenn keine klinisch objektiven Spuren nachzuweisen sind“ – er galt nicht für alle Überlebenden. Das Bekenntnis der „Nitzotz“-Autoren zu einer jüdischen, zionistischen Zukunft noch unter lebensfeindlichsten Umständen setzt einen Kontrapunkt gegen die Erfahrung vieler seelisch gebrochener Holocaustüberlebenden, die häufig als die einzig denkbare wahrgenommen wird. Die Lektüre von „Nitzotz“ von Laura Weinrib öffnet den Blick auf einen unglaublichen und trotzdem geglückten Versuch, im Angesicht der Vernichtung mit den Mitteln des politischen Wortes Menschlichkeit und Zukunftswillen zu bewahren. Diese Erfahrung betraf vielleicht nur wenige. Doch es waren gerade diese wenigen, die nach der Befreiung den Weg für die Auswanderung der Überlebenden nach Palästina und damit auch für die Gründung des Staates Israels bereiteten. Sie taten dies nicht als Opfer, sondern als freie Menschen.


* Übersetzung der Zitate ins Deutsche: Compass



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Die Autorin

JULIA BRAUCH

Dr., Jg. 1972, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Israel und dem deutsch-israelischen Verhältnis. Ihre wichtigsten Veröffentlichungen sind: Nationale Integration nach dem Holocaust. Israel und Deutschland im Vergleich, Campus: Frankfurt am Main, 2004; Jewish Topographies – Visions of Space, Traditions of Place, hg. von Julia Brauch, Anna Lipphardt und Alexandra Nocke, Aldershot: Ashgate, 2008.

Sie arbeitet als Lektorin für Geschichte im Wissenschaftsverlag De Gruyter.


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