Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 131

November 2010

In gut einer Woche, am Dienstag, den 7. Dezember 2010, wird in der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen in Berlin der dritte Band des "Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart" der Öffentlichkeit vorgestellt. Nach Band 1 mit dem Schwerpunkt "Länder und Regionen", sowie Band 2 mit dem Schwerpunkt "Personen", stehen im Mittelpunkt des dritten Bandes "Begriffe, Theorien, Ideologien". Verantwortlich für das verdienstreiche Unternehmen dieses Handbuches und herausgegeben wird es vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

Das heutige ONLINE-EXTRA präsentiert Ihnen exklusiv vorab den Eintrag "Linker Antisemitismus" in seiner gegenüber dem Handbuch etwas umfangreicheren Fassung, den der Berliner Politikwissenschaftler Martin Kloke beigesteuert hat. Kloke ist ein Experte für diesen Aspekt und hat sich seit seiner Dissertation ("Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses") immer wieder mit dem Thema befasst, wovon auch einige weitere ONLINE-EXTRA-Beiträge des Autors zeugen.

Ein pikantes Detail am Rande, das mit der Buchvorstellung am 7. Dezember 2010 in Berlin in Zusammenhang steht, darf nicht unerwähnt bleiben: Neben einer Einführung durch Wolfgang Benz, den scheidenden Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, wird im Rahmen der Buch-Präsentation ausgerechnet Alfred Grosser einen Vortrag mit dem Titel "Antisemitismus und die Menschenrechte" halten. Nach den heftigen Turbulenzen im Vorfeld der Rede Grossers zum 9. November in Frankfurt und in Anbetracht seiner äußerst umstrittenen Äußerungen zu Israel, erscheint es zumindest wenig klug, ein so hervorragendes Unternehmen wie das "Handbuch des Antisemitismus" mit einer derart in der Sache umstrittenen Persönlichkeit wie Alfred Grosser in Zusammenhang zu bringen.


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2010 Copyright beim Autor 
online exklusiv für ONLINE-EXTRA


Online-Extra Nr. 131


Linker Antisemitismus

MARTIN KLOKE


„Linker Antisemitismus ist unmöglich!“ Auf diese Formel brachte 1976 der Schriftsteller Gerhard Zwerenz ein in linken Milieus gelegentlich bis heute verbreitetes Selbstbild. Nach dem schockierenden Zivilisationsbruch von Auschwitz schien Judenhass generell tabu geworden zu sein. Selbst Vorurteilsforscher und politisch engagierte Aktivisten glaubten jahrelang, der Antisemitismus beschränke sich auf „ewig Gestrige“ im kleinen rechtsradikalen politischen Spektrum.

Doch der Hass auf „die Juden“ ist das älteste Ressentiment der Menschheitsgeschichte; es reicht tiefer als ein bloßes Vorurteil und macht vor keiner sozialen Gruppe Halt. Jahrhundertelang war der Judenhass ein integrales Merkmal der europäischen Kultur. Selbst renommierte Aufklärer des 18. Jahrhunderts (z. B. Voltaire, Immanuel Kant) oder führende Vertreter der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts (z. B. Karl Marx) waren nicht frei von judenfeindlichen Gefühlen. Einerseits zeigten sich Anhänger der Linksparteien sowohl in der Kaiserzeit als auch in der Weimarer Republik deutlich weniger für antisemitische Ressentiments anfällig als die Vertreter konservativer und deutsch-nationaler Milieus; andererseits machten auch linke Exponenten immer wieder Konzessionen an einen antijüdischen Zeitgeist.

Um „Gründe“ für ihre Ressentiments waren Judenfeinde nie verlegen: Mal waren sie religiösen Fanatismen oder ökonomischen Neidkomplexen geschuldet; ein anderes Mal entsprangen sie antireligiösen oder rassistischen Motiven. Insofern muss es aus kulturgeschichtlicher Perspektive nicht überraschen, dass der Antisemitismus bis heute auch in Europa ein stabiles, alle gesellschaftlichen Milieus erfassendes Syndrom bildet, das sich wechselhafter Rationalisierungen bedient.

Der linke Antisemitismus sucht sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts vom traditionellen Antisemitismus abzugrenzen. Seit der Staatsgründung Israels spielen seine Protagonisten auf einer antizionistischen Klaviatur – nicht trotz, sondern wegen Auschwitz: Ihre ressentimentgeladene Israelfeindschaft, die sich als vermeintlich harmlose „Israelkritik“ oder menschenrechtlich motivierte Palästina-Solidarität camoufliert, hat dem Antizionismus als Weltanschauung zeitweise die Note des „ehrbaren Antisemitismus“ (Jean Améry) verliehen, ist aber in Teilen auch der politischen Linken stets umstritten gewesen.

Nicht nur die deutsche Nachkriegslinke begriff die jüdisch-zionistische Staatsgründung – drei Jahre nach dem Ende des deutschen Vernichtungsantisemitismus – als einen kleinen, aber überfälligen Akt der „Wiedergutmachung“. Währenddessen rückte die sowjetische Führung schon 1949 wieder von ihrer prozionistischen Ausrichtung ab und entfachte eine antisemitische Kampagne. Ins Fadenkreuz gerieten vor allem Menschen jüdischer Herkunft. Auch die ostdeutsche SED schloss sich den stalinistischen Säuberungswellen an: Wen das Verdikt „Westemigrant“, „Trotzkist“ und/oder „Kosmopolit“ traf, geriet in den Strudel dubioser Schau- und Geheimprozesse. Erst im Zuge der Entstalinisierung von 1956 nahmen die offenkundigsten Formen des antisemitischen Spuks ein Ende.



HANDBUCH DES ANTISEMITISMUS


Handbuch des Antisemitismus
Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart

Im Auftrag von Zentrum für   Antisemitismusforschung der Technischen   Universität Berlin

Hrsg. v. Benz, Wolfgang
In Zusammenarb. mit Bergmann,   Werner / Heil, Johannes / Wetzel, Juliane /   Wyrwa, Ulrich
Red. Mihok, Brigitte

Band 3
Begriffe, Theorien, Ideologien




Verlag De Gruyter | Berlin 2010 | Gebunden | Euro 119,95
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Der dritte Band widmet sich Begriffen, Theorien und Ideologien des Antisemitismus von A wie "Abwehr" bis Z wie "Zwangstaufe". 88 Autoren erläutern in 150 Beiträgen Termini und Metaphern wie "Arierparagraph", "Rassenschande" und "Wucherjude"; Stereotype wie "Brunnenvergiftung", "Hostienfrevel" und "Gottesmord". Auch Phänomene wie Erlösungsantisemitismus, Holocaustleugnung und Antijudaismus werden behandelt. Das Handbuch setzt sich darüber hinaus ausführlich mit Theorien, Forschungsstrategien und politischen Kontexten der Judenfeindschaft – z. B. linker Antisemitismus, christlicher Fundamentalismus oder islamisierter Antisemitismus – auseinander.



Noch Mitte der 1960er Jahre hatte die große Mehrheit der westdeutschen Linken mit Israel sympathisiert und seine freiheitlich-sozialistischen Strukturen mit z. T. stereotyper Bewunderung begleitet. Seit Ende der 1960er Jahre allerdings arbeitet sich der linke Antisemitismus auch hierzulande am Staat Israel ab. Die Tatsache, dass der jüdische Staat im sog. Sechstagekrieg 1967 nicht untergegangen, sondern sich wehrhaft behauptet hatte – dieser „Sündenfall“ war im Weltbild der neuen studentisch geprägten Linken nicht vorgesehen: Während bürgerlich-konservative Kreise plötzlich Israel-Sympathien zeigten, wechselten weite Teile der radikalen Linken die Fronten. Binnen weniger Wochen nahmen sie den jüdischen Staat nur noch als „zionistisches Staatsgebilde“ und als „Brückenkopf des US-Imperialismus“ wahr. Hinter der Kritik am angeblich „aggressiven“ Präventivschlag verbargen sich zunehmend Zweifel am Existenzrecht Israels. An die Spitze des antizionistischen Paradigmenwechsels setzten sich Aktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenverbandes (SDS). 1969 hatten sich die israelkritischen Tendenzen in der Neuen Linken zu einem Antizionismus radikalisiert, der alle Anzeichen eines ideologisch geschlossenen Weltbildes aufwies. Nur notdürftig kaschiert durch „antiimperialistische“ Phrasen traten Fragmente eines reaktivierten Antisemitismus unter antizionistischen Vorzeichen zutage.

Anders als die verkopften SDS-ler mit ihren agitatorischen Sandkastenspielen schreckten die Aktivisten der linksradikalen Stadtguerilla nicht vor antisemitisch motivierter Gewalt zurück. Es waren linksdeutsche Antizionisten, die ausgerechnet am 9. November 1969 einen antijüdischen Anschlag organisierten – während einer Gedenkfeier zum 29. Jahrestag des NS-Novemberpogroms. Die Bombe, die sie im jüdischen Gemeindehaus West-Berlins deponierten, zündete wegen einer Fehlfunktion allerdings nicht.

Im Sommer 1976 brachte ein deutsch-palästinensisches Kommando ein französisches Passagierflugzeug in ihre Gewalt und dirigierte die Maschine nach Entebbe (Uganda) um. Der Deutsche Wilfried Böse organisierte die räumliche Trennung der jüdischen von den nichtjüdischen Passagieren. Erst jetzt war der Schock über Affinitäten zwischen rechts- und linksradikalen antijüdischen Ressentiments so nachhaltig, dass sich das Ende des antizionistischen Meinungsmonopols in der Linken ankündigte.

Zum politischen Erbe des SDS und der 1968er gehörte im anschließenden „Roten Jahrzehnt“ auch die Herausbildung jener zahllosen Palästinakomitees, die das antizionistische Vermächtnis der Studentenbewegung zu ihrem Hauptanliegen erklärten. Zahlreiche Universitätsstädte wurden nun zu Zentren deutscher „Palästina-Solidarität“; dort machten sich Anhänger des neulinken Spektrums zum Sprachrohr der Palästinenser. Unwidersprochen verbreiteten sie auch antisemitisches Gedankengut. Das Bonner Palästinakomitee suggerierte in seinen Statuten die ominöse Existenz eines „jüdischen Kapitals“; andere agitierten gegen „US- Imperialismus und Weltzionismus“; die Leitung des Kommunistischen Bundes rief auf zum Kampf gegen den „internationalen Zionismus“ – eine nicht erst heute irritierend klingende Wortwahl.

Weite Teile der 1968er sind in den späten 1970er Jahren mit der grünalternativen Bewegung verschmolzen und haben sich in diesem Prozess mehr und mehr von antizionistischen Glaubenssätzen verabschiedet. Dennoch: Als die israelische Armee im Sommer 1982 in den Libanon einmarschierte, wurde Israel in seltener Einmütigkeit des „Völkermords“ an den Palästinensern bezichtigt. Nicht zuletzt linksalternative Publizisten erlagen der Faszination begrifflicher Tabubrüche; triumphierend witterten sie die Gelegenheit, Antifaschismus und Antisemitismus miteinander zu versöhnen. In einer beispiellosen historisch-psychologischen Entlastungsoffensive bezeichneten sie die Palästinenser als die „neuen Juden“ und setzten die israelischen Invasoren mit den Nazis gleich. Die gezielte Vermischung historischer Ebenen gipfelte im Vorwurf des „umgekehrte(n) Holocaust(s)“ und einer „Endlösung der Palästinenserfrage“.

Seit den späten 1980er Jahren befindet sich jener Radau-Antizionismus, der im Gefolge von Achtundsechzig die „vollständige Zerschlagung des zionistischen Staates“ propagierte, auf dem Rückzug. Unter schmerzvollen kathartischen Zerreißproben setzte sich in Teilen der Linken die Einsicht durch, dass der Kampf gegen Unrecht auch monströse Züge annehmen kann. Gleichwohl gehört das antisemitische Ressentiment in der Linken keineswegs der Vergangenheit an: Seit einigen Jahren mehren sich antiisraelische Boykottaufrufe globalisierungskritischer, gewerkschaftlicher und kirchennaher Einrichtungen, die in linken Traditionszusammenhängen stehen. Für Boykottaufrufe gegen die chinesische Regierung wegen der Besetzung Tibets oder Maßnahmen gegen Regierungen anderer Länder wegen vergleichbarer oder schlimmerer Menschenrechtsverletzungen interessieren sich die Israel-Boykotteure indes nicht.

„Je ‚böser’ die Israelis gezeichnet werden, desto ‚besser’ können ‚wir’ uns fühlen – dann war der Holocaust, wenn wir ihn schon nicht leugnen können, wenigstens nicht einzigartig.“ In diesem massenhaft zirkulierenden Gedankenkonstrukt mutieren ausgerechnet die ehemaligen Opfer zu Tätern eines neuen Holocausts – und wir Deutschen, Europäer etc. avancieren zu den Guten. Es handelt sich hierbei um die nur notdürftig „israelkritisch“ camouflierte Ausprägung jenes „alten“ Antisemitismus, der seine Ressentiments in scheinbar ehrbarer Gestalt – wahlweise im Namen der Vergangenheitsbewältigung, der Menschenrechte oder des Antirassismus – transportiert und kommuniziert. Wenn linke Deutsche und Europäer über Juden, Israel und Zionismus „aufklären“, reden sie auch über sich selbst – viele ihrer Sprüche, Parolen und verschwörungstheoretischen Phantasmen künden von Entlastungsbedürfnissen und Schuldabwehr-Projektionen.

Die Schlüsselfrage an den Antisemitismus in Teilen der Linken lautet nicht, ob „Israelkritik“ „erlaubt“ ist – sondern, ob Kritiker ein faires, kritisch-differenzierendes oder aber verzerrtes Israelbild zeichnen. Wer Israels Staat und Gesellschaft mit anderen und strengeren Maßstäben als sonst international üblich misst, muss sich fragen lassen, ob eine solche Position nicht von einem Antisemitismus in moralischer Tarnung geprägt ist. Dieser Eindruck wird zur Gewissheit, wenn „Israelkritiker“ das Existenzrecht Israels als jüdischen und demokratischen Staat in Frage stellen (Delegitimierung), stets „Israel“, der „zionistischen Lobby“ oder gar „den Juden“ die Schuld an der palästinensischen Malaise geben (Dämonisierung) und umstrittene israelische Militäreinsätze mit den Verbrechen der Nazis gleichsetzen (Aufrechnung und „Entsorgung“ der NS-Verbrechen).


Literatur



Jean Améry, Der ehrbare Antisemitismus. Die Barrikade vereint mit dem Spießer-Stammtisch gegen den Staat der Juden, in: Die Zeit, Nr. 30, 25.7.1969, S. 16.

Henryk M. Broder, Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt/Main 1986 (Neuaufl. 2005).

Matthias Brosch u. a. (Hrsg.), Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung, Berlin 2007.

Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses (DIAK-Schriftenreihe, Band 20), Frankfurt/Main 1990 (erweiterte Neuaufl. 1994).

Holger Knothe, Ene andere Welt ist möglich - ohne Antisemitismus? Antisemitismus und Globalisierungskritik bei Attac, Bielefeld 2009.

Le´on Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. V: Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz, Worms 1983.

Edmund Silberner, Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Opladen 1983.



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Der Autor

MARTIN KLOKE

Dr., geboren 1959, Studium der Ev. Theologie, Politikwissenschaft und Pädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen; 1989 Promotion am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften ("Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses", 1990/1994); 1989-1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Otto Benecke Stiftung in Bonn; 1993/94 Studienreferendariat in Köln; seit 1995 Redakteur im Fachbereich Kulturwissenschaften der Bildungsmediengruppe Cornelsen in Berlin.

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