Deutsche Bibliothek ISSN 1612-7331

ONLINE-EXTRA Nr. 139

April 2011

Am 10. April diesen Jahres feierte die Heidelberger Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in einem Festakt ihren 50. Geburtstag. Zum Festvortrag eingeladen war der evangelische Theologe Hans Maaß, Kirchenrat i.R., der während seiner beruflichen Laufbahn für die Ausbildung von Religionslehrern in der evangelischen Landeskirche in Baden zuständig war und seit Jahrzehnten im christlich-jüdischen Dialog engagiert ist.

Vor dem Hintergrund des Jahresthemas der über 80 Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit - "Aufeinander hören - Miteinander leben" - versuchte Maaß mit seinem Festvortrag eine Ortsbestimmung des christlich-jüdischen Dialogs zu leisten, griff einige virulente Aspekte und Probleme auf und reflektierte gewissermaßen über deren "Sitz im Leben", verbunden mit einigen durchaus selbstkritischen Rückfragen an die Arbeit der 'Gesellschaften'.

Sein Festvortrag unter dem Titel "Was Christen und Juden miteinander tun und voneinander lernen können" erscheint an dieser Stelle als ONLINE-EXTRA Nr. 139 exklusiv auf den Seiten von COMPASS.


COMPASS dankt dem Autor für die Genehmigung zur Online-Wiedergabe an dieser Stelle!

© 2011 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA



Online-Extra Nr. 139


Was Christen und Juden miteinander tun und voneinander lernen können

Zum 50jährigen Jubiläum der Heidelberger Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

HANS MAASS


In einem Verlagsprospekt habe ich vor einiger Zeit als Titel einer Veröffentlichung gelesen: »If we don‘t pray together, we don‘t stay together«, »wenn wir nicht zusammen beten, bleiben wir nicht zusammen«. Als Leitwort einer »Gebetswoche für die Einheit der Christen« mag diese Parole zutreffend sein. Aber gilt dies auch für das gemeinsame Beten von Christen und Juden?

Als die Heidelberger Gesellschaft vor fünfzig Jahren gegründet wurde, empfand man es noch als Errungenschaft, miteinander beten zu können und gemeinsame christlich-jüdische Gottesdienste zu halten. Ich selbst habe zusammen mit einem leider früh verstorbenen Freund in den Achtziger-Jahren christliche Gottesdienstmodelle entwickelt, die es Juden ermöglichen sollten, ohne Bedenken daran teilzunehmen. Dabei wurden dann alle trinitarischen Formeln ebenso vermieden wie Gebetsanreden an Jesus. Das Vater-Unser konnte man sprechen, da es von dem großen jüdischen Buber-Schüler Schalom Ben-Chorin als jüdisches Gebet bezeichnet worden war. Aber waren damit die Probleme gelöst? Waren dies noch christliche Gottesdienste oder weder christliche noch jüdische religiöse Feiern?

Heute ist man in dieser Frage vorsichtiger geworden. Erste Bedenken wurden in der jüdisch-christlichen Arbeitsgruppe des Deutschen Evangelischen Kirchentags im Blick auf den Berliner Kirchentag geäußert. „Ein erster Vorbehalt lautete, die Feier würde eine Harmonie vortäuschen, die der gesellschaftlichen Realität nicht entspricht“.1 Dieses Argument sollte man ernst nehmen, ohne damit erneut einen Keil zwischen Christen und Juden zu treiben. Christlich-Jüdische Zusammenarbeit darf weder zu Synkretismus noch zu Selbstverleugnung führen, da sonst kein echter Dialog zustande kommt. Ein Dialog setzt Unterschiede voraus, ohne diese als trennende Elemente zu verstehen, die eine Verständigung unmöglich machen. Vereinheitlichungstendenzen entspringen meist eigener Unsicherheit, die es nicht aushält, dass andere in bestimmten Fragen andere Auffassungen vertreten. Das Zeitalter einer religiös-weltanschaulichen Einheitsgesellschaft ist (hoffentlich) überwunden und durch ein sich gegenseitig befruchtendes Miteinander abgelöst, in dem man aufeinander hört, um miteinander leben zu können, um es in Anlehnung an das diesjährige Jahresthema des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit auszudrücken.

Ein wichtiges Dokument aus jüdischen Kreisen zu dieser Einstellung ist die im Jahr 2000 in den USA veröffentlichte „Stellungnahme zu Christen und Christentum“, die unter dem Titel „DABRU EMET“ (Redet Wahrheit) bekannt geworden ist. Führende jüdische Gelehrte fordern darin die jüdische Gemeinschaft auf zur Kenntnis zu nehmen, was sich in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Christenheit getan hat. In dem einleitenden Abschnitt heißt es:


„In den vergangenen Jahren hat sich ein dramatischer und beispielloser Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen vollzogen. Während des fast zwei Jahrtausende andauernden jüdischen Exils haben Christen das Judentum zumeist als eine gescheiterte Religion oder bestenfalls als eine Vorläuferreligion charakterisiert, die dem Christentum den Weg bereitete und in ihm zur Erfüllung gekommen sei. In den Jahrzehnten nach dem Holocaust hat sich die Christenheit jedoch dramatisch verändert.“2


Auf diesem Hintergrund wird u.a. festgestellt: „Juden und Christen beten den gleichen Gott an.“ Ist dies ein bedingungsloses Ja zu christlich-jüdischen Gottesdiensten? Diese Erklärung fährt fort:


„Wenngleich der christliche Gottesdienst für Juden keine annehmbare religiöse Alternative darstellt, freuen wir uns als jüdische Theologen darüber, daß Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.“3


Dies ist eine ehrliche, Gemeinsamkeiten und Unterschiede gleichermaßen ernst nehmende Feststellung. Andererseits ist die Rede von dem „gleichen Gott“ auch mit Fragezeichen zu versehen. So hat der „Gemeinsame Ausschuss »Kirche und Judentum« der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD)“ festgestellt, diese These sei „komplex und voraussetzungsreich“; denn:


„Für die ersten Anhänger Jesu – durchweg Angehörige des Judentums – verband sich der Glaube an diesen Gott mit der Überzeugung, dass die Person und die Lebensgeschichte des Jesus von Nazareth das entscheidende Ereignis der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk ist.“4


Stimmt das, oder ist die Einschränkung, zwar der gleiche Gott, aber Jesus das entscheidende Ereignis, ein Zeichen für typisch kirchliche Halbherzigkeit, für das allzu bekannte „Ja – aber“?



THEMENHEFT 2011


"Aufeinander hören - Miteinander Leben"
Themenheft 2011

Hrsg. vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR)

Bad Nauheim 2011
66 S., mit zahlr. Abb.
Euro 5,- (zzgl. Porto)



Weitere Informationen
und Bestellmöglichkeit:
Themenheft 2011




Mit Beiträgen von: Ahmad Milad Karimi, Navid Kermani, Zafer Senocak, Landesrabbiner Jonah Sievers, Jakob Hessing, Debbie Weissman, Esther Golan, Micha Brumlik, Grigori Lagodinsky, Norbert Bolz, Bernd Schröter, Henning Niederhoff u.v.a.



Ob die ersten Judenchristen das Wirken Jesu tatsächlich als „das entscheidende Ereignis der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk“ angesehen haben, müsste noch genauer untersucht werden. Denn Jesus verkündigte nicht sich selbst, sondern die nahe herbeigekommene Gottesherrschaft. Die Kunde von seiner Auferweckung weckte die Hoffnung auf das bald eintretende Ende der gegenwärtigen Weltzeit und die Erwartung Jesu als Weltrichter zur Rettung seiner Getreuen. Auch für Paulus ist Jesus nicht Gott, sondern Mittler, der uns vor Gott vertritt. Erst allmählich – nachweislich gegen Ende des 1. Jh. – wurde er wie Gott verehrt, was dann zu allerlei definitorischen Problemen führte, die letztlich erst im 5. Jh. in eine Konsensformel gefasst wurden.

Von daher stellt sich die Frage, inwieweit ein trinitarischer Gottesglaube tatsächlich ein unaufgebbares Element des christlichen Gottesdienstes sein muss, wenn feststeht, das diese Überzeugung das Ergebnis eines längeren Klärungs und Entwicklungsprozesses ist. Dies zu klären, wäre allerdings eine notwendige Aufgabe als Voraussetzung für gemeinsame Gottesdienste. Denn hier geht es um die Frage, „glauben wir tatsächlich an den gleichen Gott“?

Diese Aufgabe können die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit nicht lösen und sollen es auch nicht; aber sie können und müssen auch diese Frage immer wieder von neuem sowohl an die akademischen Theologen als auch an die Kirchenleitungen richten, damit gerade eine für Juden wie für Christen so wichtige Lebensäußerung wie Gottesdienste nicht in einer theologischen Grauzone stattfinden.

Ich persönlich sehe einen Gottesdienst, der ausschließlich dem Lob Gottes und der Verkündigung seiner Taten dient, aber keine trinitarischen Elemente enthält, nicht als defizitär an. Es kann doch sowieso nicht in jedem Gottesdienst alles zur Sprache kommen, was sich im Laufe der Zeit als Glaubensüberzeugung herausgebildet hat. Die teils kaum verständlichen Aussagen des Nizänischen Glaubensbekenntnisses waren ja deshalb notwendig, weil man bei aller Christusverehrung dennoch entschieden am Glauben an den einen, einzigen Gott festhalten wollte und deshalb alles Erdenkliche tat, seinen Glauben nicht als Glauben an drei Götter erscheinen zu lassen. Ob dies gelungen ist, soll hier nicht beurteilt werden; Juden und Muslime überzeugen die christlichen Bekenntnisformeln jedenfalls nicht.

Aufklärungsarbeit zur Beseitigung von Missverständnissen und Unwissenheit wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten zur Genüge geleistet. Wer ehrlich daran interessiert ist, kann z.B. wissen, dass weder eine christliche Gemeinde noch eine Schulklasse ein Seder-Mahl „wie einst Jesu letztes Mahl mit seinen Jüngern“ feiern kann. Dennoch gibt es Unbelehrbare, die in falsch verstandener Judenfreundlichkeit dies weiterhin praktizieren. Auch die Speise-und Sabbatgebote wurden hinlänglich genug erklärt. Dass sie trotzdem immer wieder auf Unverständnis stoßen, hängt m.E. damit zusammen, dass wir mehr oder weniger allem, was die persönliche Freiheit – um nicht zu sagen: Zügellosigkeit – einschränkt, skeptisch gegenüberstehen.

Dies mag verschiedene Ursachen haben. Eine Ursache liegt in dem reformatorischen Missverständnis der paulinischen Aussagen über „das Gesetz“. Während Paulus darauf beharrte, dass die Völker ohne die rituellen Gebote, die Israel als Gottesvolk auszeichnen, von Gott Heil erwarten dürfen, wenn sie an die rettende Funktion des auferweckten Christus glauben und dadurch zum Glauben an den einen und einzigen Gott gelangen,5 verstanden die Reformatoren diese pau linischen Aussagen als Angriff auf alles „gesetzliche“ Handeln und ließen gute Taten nur als Folge der Liebe zum Nächsten gelten, nicht aber als etwas unmittelbar von Gott Gefordertes.

Ein ganz konsequenter Anhänger Luthers, Nikolaus von Amsdorf, verstieg sich sogar zu der Aussage, gute Werke seien schädlich für die Seligkeit. Darüber geriet er in einen fast kirchenspaltenden Streit mit Philipp Melanchthon. Genaueres Lesen der neutestamentlichen Texte, hat mittlerweile zumindest dazu geführt, derartige falschen Alternativen zu überwinden.

Eine weitere Quelle des mangelnden Verständnisses für jüdische Observanzen liegt im Denken der Aufklärung und den daraus entsprungenen Parolen der französischen Revolution. Wenn es dort hieß, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, so richtete sich dies gegen die Unterdrückung durch Fürsten und andere Oberherren. Wo diese Forderung aber missverstanden wird als Angriff auf jegliche Form der Selbstdisziplinierung, z.B. durch Beachtung religiöser Traditionen, kann man nicht erwarten, dass Verständnis für Menschen aufkommt, die sich an solche Observanzen gebunden fühlen.

Hier haben unsere Gesellschaften noch ein weites Aufgabenfeld vor sich, damit Toleranz nicht als generöse Duldung von Absonderlichkeiten verstanden wird nach dem Motto, „jeder soll nach seiner Façon selig werden“. Vielmehr wird es um Respekt und Achtung vor den Überzeugungen und Verhaltensweisen des anderen gehen, wie Rabbiner Tovia Ben-Chorin bei der Mitgliederversammlung des DKR 2010 gesagt hat. Dies ist allerdings keine Lernaufgabe, sondern eine Erziehungsaufgabe: Erziehung zur Achtung vor dem anderen.

In einer Presseveröffentlichung des Leo-Baeck-Erziehungszentrums in Haifa vom Januar 2011 war unter der Überschrift „Die Kunst der Koexistenz“ zu lesen:


„Junge Künstler des Leo Baeck und örtlicher Grundschulen, die unterschiedlichen Religionen angehören (Bahai, Christen, Drusen, Juden, Muslime), gestalteten, bemalten und bauten am ersten Tag des Jahres 2011 ihre eigenen einzigartigen Kacheln in die »Lass die Sonne scheinen-Keramik-Friedenswand« in Bet haGefen in Wadi Nisnass in Haifa ein. Die Wand ist ein Gemälde der Hoffnung und repräsentiert die Interpretationen der Kinder von der multikulturellen Schönheit Haifas. Dieses laufende Projekt wird von dem arabischen Künstler Abed Abdi aus Haifa geleitet.“


Es wäre naiv zu meinen, damit und mit ähnlichen Aktionen sei das Problem des Zusammenlebens und des gegenseitigen Respekts gelöst; aber Kinder, die ihr je Eigenes in einem solchen gemeinsamen Projekt einmal zum Ausdruck gebracht haben, werden dadurch befähigt, andere als anders zumindest zu achten, statt sich ihnen oder jene sich selbst zu unterwerfen. Dies ist ein anderer Denkansatz gegenüber unserer gewohnten Denkweise, die Parallelgesellschaften als Bedrohung empfindet und daher Anpassung, Nivellierung, Selbstverleugnung fordert.

Im Juli 2009 verabschiedete der Internationale Rat der Christen und Juden in Berlin eine „Neuverpflichtung“ auf Grundsätze, die 1947 als sog. Seelisberger Thesen von Christen und Juden im Schweizer Seelisberg verfasst und veröffentlicht worden waren. Jene erste internationale Erklärung wurde aufgrund der mittlerweile gewonnenen Erfahrungen neu gefasst und erweitert. Sie enthält unter anderem einen „Aufruf an christliche wie jüdische Gemeinden und an Andere“. Durch den Zusatz „und an Andere“ wurde das Blickfeld erweitert. Darin heißt es:


„Wir verpflichten uns auf die folgenden Ziele und laden Juden, Christen und Muslime gemeinsam mit allen Menschen des Glaubens und guten Willens ein, einander stets zu respektieren und die Unterschiede und die Würde des jeweils Anderen zu achten.“6


Die leitenden Stichworte sind „Respekt“, „Unterschiede“ und „Würde“. Eigentlich sollte ein solcher Aufruf selbstverständlich sein; wäre er es, wäre diese „Neuverpflichtung“ nicht nötig gewesen, sie wäre allenfalls ein publizistischer Gag. Wenn es dann aber zum Stichwort „Interreligiöse und interkulturelle Erziehung zu fördern“ u.a. heißt,


* „Indem wir negative Bilder Anderer bekämpfen und die grundlegende Wahrheit lehren, dass jeder Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist.
* Indem wir der Beseitigung von Vorurteilen gegenüber dem Anderen hohen Vorrang im Erziehungsprozess einräumen.
* Indem wir gemeinsames gesellschaftliches Handeln beim Verfolgen gemeinsamer Werte unterstützen.“7

wird deutlich, dass es dabei nicht nur um allgemeine Prinzipien, sondern um religions-und kulturübergreifende Handlungsanweisungen geht, die keineswegs selbstverständlich sind und deren Umsetzung teilweise eine erhebliche Anstrengung erfordert.



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Ich möchte diese Aufgabenstellungen einmal – damit ihre Tragweite deutlich wird – in Form von Fragen formulieren, deren Antwort wir, sowohl als Einzelne wie auch als „Gesellschaften für Christlich-jüdische Zusammenarbeit“ je für uns finden müssen.


1. Bekämpfen wir tatsächlich „negative Bilder Anderer“, oder verurteilen wir sie nur mit wohlklingenden Parolen, oder pflegen wir sie gar unbewusst selbst?
Diese Forderung ist nämlich gar nicht so einfach, wie sie sich anhört. Gelingt es uns als Christen und Juden tatsächlich, angesichts von Bomben-und Selbstmordanschlägen Vorbehalte gegen den Islam und Menschen mit Herkunft aus muslimischen Ländern zu vermeiden und ihnen gar entgegen zu treten?

Oder sehen wir es als unsere Pflicht an, uns und andere gegen solche möglichen Gefahren zu schützen, indem wir z.B. Menschen an Flughäfen „selektieren“, wie dies in jüngster Zeit diskutiert wird. Natürlich spricht man nicht von Selektion! Dieses Wort ist durch die Nazis verbraucht. Aber ist ein derartiges „Profiling“, wie man dies jetzt vornehm nennt, grundsätzlich etwas anderes?

Wir bewegen uns damit auf des Messers Schneide und es gibt hier keine einfachen Antworten.

2. Akzeptieren wir tatsächlich, „dass jeder Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist“, oder ist dies für uns nur eine fromme Floskel? Erkennen wir in einem Behinderten, einem asiatisch aussehenden Menschen, einer Frau mit Burka einen Anspruch Gottes an uns, oder wenden wir uns instinktiv (i.S. eines vorrationalen Schutzbedürfnisses) von ihnen ab?
Und wie verstehen wir eigentlich diesen bildhaften Begriff? Sehen wir ihn tatsächlich als Garanten menschlicher Würde und unantastbarer Ehre?

3. Wie stellen wir uns „Beseitigung von Vorurteilen gegenu¨ber dem Anderen […] im Erziehungsprozess“ vor, und wie kann man diesem Erziehungsziel „hohen Vorrang“ einräumen?

Ist dieses gemeint und geht es Politikern darum, wenn sie der Bildung Priorität einräumen, oder denken sie eher an Sprachfähigkeit, logisches Denken und andere Fertigkeiten, die im Kampf um Spitzen-Arbeitsplätze entscheidend sind.

Vor einigen Jahren war der Begriff „Schlüsselqualifikationen“ beherrschendes Schlagwort, heute spricht man u.a. von sozialer Kompetenz. Was meinen wir damit?

Und inwieweit können wir als Christlich-Jüdische Gesellschaften dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft in Schule, Familie und Öffentlichkeit auf die Ausbildung solcher Fähigkeiten das Gewicht legt?


Fragen, über Fragen, die wir hier nicht abschließend und erschöpfend beantworten können, die uns aber zeigen, dass unsere Aufgaben noch lange nicht erledigt sind, auch wenn sie sich heute anders zu Wort melden als vor fünfzig Jahren. An die Stelle von Information ist Interaktion getreten, obwohl auch Information noch keineswegs überflüssig geworden ist. Dies zeigen so viele Unkenntnisse und Missverständnisse selbst in Kreisen, von denen man annimmt, dass sie es besser wissen müssten. Als Beispiel nenne ich den immer noch fälschlich gebrauchten Begriff „pharisäisch“, wo man „heuchlerisch“ meint, oder das angeblich „alttestamentarische Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn«“, wobei darin gleich zwei Missverständnisse enthalten sind: 1. Diese biblische Weisung ist kein Racheprinzip, sondern eine Verpflichtung, sich zu mäßigen und nicht mehr Schadensersatz zu fordern, als einem zugefügt wurde; 2. „testamentarisch“ weist in unserer deutschen Sprache auf ein Vermächtnis hin, so als ginge es bei diesem vermeintlichen Racheprinzip um ein „Vermächtnis“ des biblisch-jüdischen Denkens. Richtig müsste man „alttestamentlich“ sagen, um die Herkunft der jeweiligen Ordnungen und Bestimmungen zu bezeichnen.

Trotzdem sollte die Aufklärung und Aufarbeitung solcher Missverständnisse heute beiläufig geschehen und das Hauptgewicht nicht mehr wie vor fünfzig Jahren darauf liegen; denn unsere gegenwärtige gesellschaftliche Situation stellt uns vor andere Herausforderungen, denen wir als Christen wie als Juden aufgrund unseres biblischen Menschenbildes gemeinsam begegnen können und müssen.

Allgemeine Beschwörungsformeln helfen nicht weiter. Die Berufung auf unsere christlich-jüdische Tradition des Abendlandes darf – abgesehen von der Frage, ob sie sachlich so gerechtfertigt oder zu undifferenziert ist – nicht zu einer Abwehrformel anderer kultureller Einflüsse verkommen. Zwei Zitate aus Mischna und Talmud können uns darauf hinweisen, worin unsere christlich-jüdische Tradition inhaltlich besteht:


„Die Rabbanan lehrten: Über diejenigen, die gedemütigt werden, ohne zu demütigen, die ihre Schmähung anhören, ohne zu erwidern, die aus Liebe [die Gebote] ausüben und der Züchtigung froh sind, spricht die Schrift [Ri 5,31]: die ihn lieb haben, sind wie der Aufgang der Sonne in ihrer Pracht.“ (Schab 88b)


Das ist eine andere Perspektive, ein Blick auf die Auswirkung unseres Verhaltens für unsere nähere und weitere Umgebung. Den Christen unter uns wird dies bekannt erscheinen; denn eine ganz ähnliche Einstellung wird in der Bergpredigt als Forderung Jesu überliefert:


„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“ (Mt 5,44 f.)


Dies ist unsere christlich-jüdische Tradition. Inwieweit kommt sie in unserem Denken und tatsächlichen Verhalten zum Ausdruck? Dafür zu wirken, ist eine heute dringend gebotene gemeinsame Aufgabenstellung christlich-jüdischer Zusammenarbeit.
Das zweite Wort aus Mischna Sanh IV,5 sieht die Begründung für diese Einstellung sogar bereits in der Schöpfung angelegt:


„Deshalb ist nur ein einziger Mensch erschaffen worden, um dich zu lehren, dass wenn Einer eine Person vernichtet, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt vernichtet, und wenn Einer eine Person (von Israel) erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten. Ferner (geschah dies) wegen des Friedens der Welt, damit nicht ein Mensch zum andern sage: »Mein Ahn war größer als dein Ahn!«“


Wo uns dies bewusst ist, werden wir gewappnet sein gegen Menschenfeindlichkeit jeder Art, insbesondere gegen Fremdenfeindlichkeit. Wenige Verse nach dem Gebot der Nächstenliebe steht im 3. Mosebuch (Levitikus): „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst“ – oder wie Leo Baeck übersetzt: „er ist wie du“.8

Dies ist also kein Plädoyer für Indifferentismus. Denn wo es um Wahrheit geht, darf und muss gestritten werden, aber nicht um über das Gegenüber zu triumphieren, sondern um gemeinsam auf dem Weg der Erkenntnis weiterzukommen.



ANMERKUNGEN



1 Hanspeter Heinz, Religiöser Raub? -Wege und Irrwege christlich-jüdischer Gebetsgemeinschaft; in: Herderkorrspondenz, Ausgabe Februar 2003
2 www.jcrelations.net/de/?item=1046 – Aus dem Englischen übersetzt von Christoph Münz.
3 ebda.
4 www.ekd.de/juedische_stellungnahme_christen_und_christentum.html
5 1.Thess 1,9: Denn sie selbst berichten von uns, welchen Eingang wir bei euch gefunden haben und wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, den er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns von dem zukünftigen Zorn errettet.
6 [Hrsg.] ICCJ/GESELLSCHAFTEN FÜR CHRISTLICH-JÜDISCHE ZUSAMMENARBEIT, DEUTSCHER KOORDINIERUNGSRAT e.V., Zeit zur Neuverpflichtung. Christlich-Jüdischer Dialog 70 Jahre nach Kriegsbeginn und
Schoah, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., St. Augustin/Berlin 2009, S. 21.

7 9. Interreligiöse und interkulturelle Erziehung zu fördern, ebd. S. 21 f.
8 Leo BAECK, Das Wesen des Judentums, 6. Aufl., Fourier Verlag, Wiesbaden o.J., S. 211.



Der Autor

HANS MAASS


Kirchenrat i.R. der evangelischen Landeskirche in Baden. Er ist evangelischer Theologe und Mitglied im Vorstand des Deutschen Koordinerungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (DKR) sowie Mitglied der Redaktionsteams des vom DKR herausgegebenen "Themenheft".



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